"Am 19. Februar 1929 wurde ich verhaftet. In diesem Tag und dieser Stunde sehe ich den Beginn meines gesellschaftlichen Lebens - die erste wahre Prüfung unter harten Bedingungen." Warlam Schalamow ist noch keine 22 Jahre alt, entschlossen, sein Leben in den Dienst seiner politischen Ideale zu stellen, als er verhaftet wird und im Butyrka-Gefängnis anderthalb Monate in einer Einzelzelle verbringen muss. Wischera sind die von Schalamow als 'Antiroman' bezeichneten Erinnerungen an seine erste Verhaftung und an das Zwangsarbeitslager am Fluss Wischera im Nordural, in dem er drei Jahre verbrachte. Es sind die 'Lehrjahre' eines Schriftstellers, der wie kein anderer das stalinistische Lagersystem mit literarischen Mitteln darstellte. Neben den Erzählungen aus Kolyma belegt vor allem dieses unvollendet gebliebene autobiografische Buch seine prinzipielle Zurückweisung der Romanform nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und seine Suche nach neuen Möglichkeiten des Prosaschreibens.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Warlam Schalamow war Teil der leninistischen Opposition unter Stalin, erklärt Jürgen Verdofsky. Während zunächst nur aktiver politischer Widerstand Haft oder Verbannung bedeuteten, reichte schnell die bekanntlich abweichende Meinung aus, um im Lager zu landen; während die Lager zunächst noch tatsächlich der Arbeit dienten, wurden sie bald ein Mittel der Vernichtung, beschreibt der Rezensent. Schalamow hat die Lager überlebt und darüber geschrieben, wie es kaum jemand konnte, nicht umsonst ist "Wischera", der sechste Band der Werkausgabe, mit dem Zusatz "Antiroman" versehen, so Verdofsky, obwohl unvollendet und weniger geschliffen als die vorigen Bücher der Reihe, wirkt die Prosa dokumentarisch und soll es auch, erklärt der Rezensent, der dem Matthes & Seitz Verlag für seinen Verdienst um diesen Autor dankt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Zugleich sind in seinen Stil meisterhafter Lakonie Grundaussagen über 'das' Leben, das heißt das Lager, eingeflochten, oft abrupt die Ebenen wechselnd. Alles ist dem Gedächtnis abgerungen, und in einem seltenen Wechsel der Chronologie schreibt Schalamow mit einem Mal über Kolymas Bergwerke, doch der Satz bleibt unvollständig: 'Dass die Arbeit in der Kälte bei -60° C, dass der Hunger, die Schläge, der vielstündige Arbeitstag - es war niemand da, dem ich all das erzählen konnte.' [...] Schalamow schreibt große Literatur, nicht über das Lager oder andere Ereignisse, sondern - wie bei Dostojewski, wie bei Solschenizyn - über das Leben.« - Bernhard Schulz, Der Tagesspiegel, Juni 2016 Bernhard Schulz Der Tagesspiegel 20160612