Das vorliegende Werk schließt in knapper Form, aber in weitem Überblick mit vielen Textbeispielen und wegweisenden Anregungen eine neuralgische Lücke der Geschichte der Lehrdichtung, also des versgebundenen, mehr oder weniger ästhetisch ambitionierten Schrifttums zur Vermittlung oder poetischen Nobilitierung von Sach-, Verhaltens- und Orientierungswissen, zwischen Spätmittelalter und Aufklärung. Etablierte Autoren wie M. Opitz und F. Dedekind wie auch fast vergessene deutschsprachige Exempel (etwa von J. G. Schottelius, W. Fabry und G. Wickram) kommen nach Gebühr zur Geltung, doch fällt neues Licht besonders auf das riesige neulateinische Textfeld unter Einschluss der Jesuitendichtung (z. B. Barth, Frischlin, Xylander, Maier, Hohberg, Bidermann, Balde und viele andere). Besonders wird Wert gelegt auf eine funktionale Differenzierung der diversen, oft hybriden Textgenres (vom Merkvers bis zur altepischen Großdichtung) sowie auf exemplarische Analysen der deutschen Rezeption, auch Übersetzung, bekannter antiker wie auch italienischer Modelle (zum Beispiel Palingenius und Vida). Den Rahmen bildet die Behandlung der einschlägigen, oft kontroversen poetologischen Diskussionen von Aristoteles bis Goethe sowie, vor der weitläufigen Bibliographie, ein abschließender Ausblick auf das 18. und frühe 19. Jahrhundert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2016Was lehrt uns das Lehrgedicht?
"Ach Freund, mir stahl ein Bösewicht / Mein ungedrucktes Lehrgedicht": Der so klagende didaktische Dichter in Gottlieb Konrad Pfeffels Spottversen findet kein Mitleid, zu bedauern sei allein der Dieb. Goethe hält diesem verbreiteten Verdikt in einer kleinen Gattungsreflexion zwar diplomatisch entgegen, alle Poesie solle "belehrend sein, aber unmerklich". Doch dem schon seit Aristoteles beschädigten Ruf war lange kaum beizukommen. Wilhelm Kühlmann meldet jetzt entschieden Protest dagegen an. Wie kann man auch eine literarische Form ausgrenzen, die von Opitz bis Batteux eine Selbstverständlichkeit darstellt und selbst große Epen wie Vergils "Aeneis" prägt? Dieser Einspruch scheint umso wichtiger, als die neueste Forschung zu "Literatur und Wissen" diese zentrale Schnittstelle zwischen Kunst und Kenntnis gerne übergeht. Kühlmann führt durch die noch kaum erforschte lebensphilosophische, naturkundliche, medizinische, astronomische oder historische Fachlyrik zwischen Spätmittelalter und Aufklärung, die sich häufig auf antike Vorlagen bezieht und oft in gelehrtem Neulatein verfasst ist.
An Trouvaillen und Kuriositäten besteht kein Mangel, etwa wenn der Berner Chirurg Wilhelm Fabry in seinem "Christlichen Schlafftrunck" (1624) in Bild und Vers vor der Trunkenheit warnt: Zu sehen ist ein nacktes, gehörntes "Manneken Piss", vom Teufel zwischen Spielkarten und Büchern an der Kette geführt und sein Wasser abschlagend. Da so viele Autoren sich auf Lukrezens "De natura rerum" beziehen, wünscht man sich nach Lektüre von Kühlmanns Buch die 1803 von Goethe am Original überprüfte und als "Meisterwerk" empfohlene Übersetzung seines Freundes Karl Ludwig von Knebel in einer Neuausgabe.
kos.
Wilhelm Kühlmann: "Wissen als Poesie". Ein Grundriss zu Formen und Funktionen der frühneuzeitlichen Lehrdichtung im deutschen Kulturraum des 16. und 17. Jahrhunderts.
Verlag De Gruyter, Berlin 2016. 188 S., geb., 79,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ach Freund, mir stahl ein Bösewicht / Mein ungedrucktes Lehrgedicht": Der so klagende didaktische Dichter in Gottlieb Konrad Pfeffels Spottversen findet kein Mitleid, zu bedauern sei allein der Dieb. Goethe hält diesem verbreiteten Verdikt in einer kleinen Gattungsreflexion zwar diplomatisch entgegen, alle Poesie solle "belehrend sein, aber unmerklich". Doch dem schon seit Aristoteles beschädigten Ruf war lange kaum beizukommen. Wilhelm Kühlmann meldet jetzt entschieden Protest dagegen an. Wie kann man auch eine literarische Form ausgrenzen, die von Opitz bis Batteux eine Selbstverständlichkeit darstellt und selbst große Epen wie Vergils "Aeneis" prägt? Dieser Einspruch scheint umso wichtiger, als die neueste Forschung zu "Literatur und Wissen" diese zentrale Schnittstelle zwischen Kunst und Kenntnis gerne übergeht. Kühlmann führt durch die noch kaum erforschte lebensphilosophische, naturkundliche, medizinische, astronomische oder historische Fachlyrik zwischen Spätmittelalter und Aufklärung, die sich häufig auf antike Vorlagen bezieht und oft in gelehrtem Neulatein verfasst ist.
An Trouvaillen und Kuriositäten besteht kein Mangel, etwa wenn der Berner Chirurg Wilhelm Fabry in seinem "Christlichen Schlafftrunck" (1624) in Bild und Vers vor der Trunkenheit warnt: Zu sehen ist ein nacktes, gehörntes "Manneken Piss", vom Teufel zwischen Spielkarten und Büchern an der Kette geführt und sein Wasser abschlagend. Da so viele Autoren sich auf Lukrezens "De natura rerum" beziehen, wünscht man sich nach Lektüre von Kühlmanns Buch die 1803 von Goethe am Original überprüfte und als "Meisterwerk" empfohlene Übersetzung seines Freundes Karl Ludwig von Knebel in einer Neuausgabe.
kos.
Wilhelm Kühlmann: "Wissen als Poesie". Ein Grundriss zu Formen und Funktionen der frühneuzeitlichen Lehrdichtung im deutschen Kulturraum des 16. und 17. Jahrhunderts.
Verlag De Gruyter, Berlin 2016. 188 S., geb., 79,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das mit einer ausführlichen Bibliographie und dem obligaten Namenregister versehene, äußerst lehrreiche Wissen als Poesie wird von der Historiographie der frühneuzeitlichen Litterär- und von der literarischen Gattungsgeschichte bestimmt gerne zu Informations- und Forschungszwecken herangezogen, hoffentlich aber auch von Studierenden rege benutzt."
Hanspeter Marti in: Arbitrium 2018; 36(1): 45-49
Hanspeter Marti in: Arbitrium 2018; 36(1): 45-49