Was ist Poesie? Eine bewusste Schöpfung des Dichters oder göttliche Eingebung? Ausgehend von dieser Frage entwickelt Sokrates im platonischen Dialog Ion die Theorie der göttlichen Inspiration, um dem gleichnamigen Rhapsoden zu beweisen, dass sein Können in der rhapsodischen Kunst - und insbesondere bei Homer - nicht das Ergebnis professioneller Kunst und Wissenschaft ist, sondern auf göttliche Macht zurückzuführen ist. Ein göttlicher Impuls ergreift die Dichter und dann die Rhapsoden, um "aus sich selbst herauszugehen" und zur unbewussten Hoffnung einer höheren Macht zu werden, die sie vorübergehend in Anspruch nimmt und zur Interpretation ihrer Gedichte inspiriert. In der Tat stellt Ion auf besondere Weise - und zum ersten Mal in Platons Werk - die Konfrontation von Poesie und Philosophie dar, um die Überlegenheit der "Krone der Wissenschaften" hervorzuheben.