Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2017Gott regelt nicht das Diesseits
Texte zum Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Religion im Islam
Wie wird das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion in der muslimischen Welt diskutiert? Und zwar über das bekannte Diktum, der Islam regele Staat und Gesellschaft und bestimme so auch Moral und Ästhetik, hinaus? Gibt es gar einflussreiche Positionen von Theologen, die genau das Gegenteil behaupten? Dieser Frage geht eine neue Buchreihe unter dem Titel "Philosophie in der Nahöstlichen Moderne" nach. Initiatorin ist die Islamwissenschaftlerin Anke von Kügelgen, eine der wenigen, die die Beschäftigung mit zeitgenössischer Philosophie in der islamischen Welt im deutschsprachigen Raum kontinuierlich verfolgt. Sie ist auch Herausgeberin des nun erschienenen Bandes, der sich mit religionskritischen Positionen um 1900 auseinandersetzt.
Tatsächlich wird seit zweihundert Jahren, wie Anke von Kügelgen zeigt, eine vehemente Debatte über das Verhältnis von natur- und sozialwissenschaftlicher sowie religiös-mystischer Welterfassung geführt. Sie macht drei Positionen im Umgang mit dem Einbruch der wissenschaftlichen in die religiöse Welt aus: die Konfliktthese, die im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einer radikalen Religionskritik führte. Ihre Vertreter sehen Gott als Entwurf des Menschen nach seinem Ebenbild. Koran- und hadith-fest schleudern sie dem Gläubigen entgegen, wie denn ein barmherziger Gott so rachsüchtig sein könne, dass er eine Hölle entwerfe, in der Menschen auf ewig schmorten.
Die Harmoniethese dagegen sieht keinen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion, denn mit dem Koran seien auch neuzeitliche Erscheinungen wie Mikroben oder Demokratie abgedeckt. Im Konfliktfall müsse der menschlichen Vernunft gefolgt werden, denn dazu habe Gott sie dem Menschen mitgegeben, nicht dem Wortlaut der Offenbarung. Und nach der Autonomiethese haben Wissenschaft und Religion ihre jeweilige Berechtigung, aber keine gegenseitigen Ansprüche auf das Feld der anderen zu erheben. Von Kügelgen zitiert einen Verfechter dieser Ansicht wie Farah Antun: "Die Religionen wurden (von Gott) gestiftet, um das jenseitige Leben zu regeln, nicht das diesseitige. Wer sie aber zur Regelung des Diesseits einsetzt, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn er anfangs Erfolg haben mag."
Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen wurden im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zentrale Texte europäischer Philosophie ins Arabische übertragen und kommentiert. Seit 1990 sind allein 58 Übersetzungen von Heidegger ins Arabische erschienen. Umgekehrt ist hierzulande kaum etwas über die Gelehrten und Intellektuellen aus dem Nahen Osten bekannt, welche diese Übersetzungen und Kommentare anfertigten. So wird es viele Leser überraschen, dass schon vor hundertfünfzig Jahren die Forderung nach einem "Luther des Islams" erhoben wurde und die Auseinandersetzung mit dem Christentum dazu führte, dass einige der arabischen Universalgelehrten des neunzehnten Jahrhunderts zwischen östlichem Christentum, Protestantismus und Islam hin und her konvertierten.
Ein Drittel des Buches nimmt die lesenswerte Einleitung der Herausgeberin mit zwanzig Kurzbiographien der wichtigsten Autoren ein (darunter kaum Frauen). Obwohl im Untertitel von "Positionen um 1900" die Rede ist, verfolgt diese Einleitung ihr Thema bis nahe an die Gegenwart. Der zweite Teil des Buches stellt dann vier Originaltexte muslimischer Religionskritiker vor. Zum ersten Mal werden in diesem Band die Texte je zweier Vertreter der Harmonie- sowie der Konfliktthese auf Deutsch vorgelegt, samt Erläuterungen zu ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte.
Manche Beobachter der Region weisen relativierend darauf hin, dass Intellektuelle wie die Autoren der vorgestellten Texte marginalisiert, ins Exil gezwungen oder umgebracht - in jedem Fall mundtot gemacht - wurden. Diese Annahme widerlegt der nun vorliegende Band. Die Herausgeberin hat gerade die Bestseller und berühmten Texte um die Wende zum vorigen Jahrhundert ausgesucht. Das Streben nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Emanzipation der Frau sei ein gemeinsamer Nenner der nahöstlichen Philosophie, schreibt Anke von Kügelgen. Diese Einschätzung entspringt durchaus nicht persönlichem Wunschdenken, sondern wird auf über dreihundert Seiten untermauert. Weitere Bände der neuen Reihe werden sich mit der akademischen Philosophie und Konzepten von Toleranz und Intoleranz in der arabischen Welt befassen.
SONJA HEGASY
Anke von Kügelgen (Hrsg.): "Wissenschaft, Philosophie und Religion". Religionskritische Positionen um 1900. Philosophie in der nahöstlichen Moderne. Band 1. Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2017. 326 S., br., 29,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Texte zum Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Religion im Islam
Wie wird das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion in der muslimischen Welt diskutiert? Und zwar über das bekannte Diktum, der Islam regele Staat und Gesellschaft und bestimme so auch Moral und Ästhetik, hinaus? Gibt es gar einflussreiche Positionen von Theologen, die genau das Gegenteil behaupten? Dieser Frage geht eine neue Buchreihe unter dem Titel "Philosophie in der Nahöstlichen Moderne" nach. Initiatorin ist die Islamwissenschaftlerin Anke von Kügelgen, eine der wenigen, die die Beschäftigung mit zeitgenössischer Philosophie in der islamischen Welt im deutschsprachigen Raum kontinuierlich verfolgt. Sie ist auch Herausgeberin des nun erschienenen Bandes, der sich mit religionskritischen Positionen um 1900 auseinandersetzt.
Tatsächlich wird seit zweihundert Jahren, wie Anke von Kügelgen zeigt, eine vehemente Debatte über das Verhältnis von natur- und sozialwissenschaftlicher sowie religiös-mystischer Welterfassung geführt. Sie macht drei Positionen im Umgang mit dem Einbruch der wissenschaftlichen in die religiöse Welt aus: die Konfliktthese, die im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einer radikalen Religionskritik führte. Ihre Vertreter sehen Gott als Entwurf des Menschen nach seinem Ebenbild. Koran- und hadith-fest schleudern sie dem Gläubigen entgegen, wie denn ein barmherziger Gott so rachsüchtig sein könne, dass er eine Hölle entwerfe, in der Menschen auf ewig schmorten.
Die Harmoniethese dagegen sieht keinen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion, denn mit dem Koran seien auch neuzeitliche Erscheinungen wie Mikroben oder Demokratie abgedeckt. Im Konfliktfall müsse der menschlichen Vernunft gefolgt werden, denn dazu habe Gott sie dem Menschen mitgegeben, nicht dem Wortlaut der Offenbarung. Und nach der Autonomiethese haben Wissenschaft und Religion ihre jeweilige Berechtigung, aber keine gegenseitigen Ansprüche auf das Feld der anderen zu erheben. Von Kügelgen zitiert einen Verfechter dieser Ansicht wie Farah Antun: "Die Religionen wurden (von Gott) gestiftet, um das jenseitige Leben zu regeln, nicht das diesseitige. Wer sie aber zur Regelung des Diesseits einsetzt, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn er anfangs Erfolg haben mag."
Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen wurden im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zentrale Texte europäischer Philosophie ins Arabische übertragen und kommentiert. Seit 1990 sind allein 58 Übersetzungen von Heidegger ins Arabische erschienen. Umgekehrt ist hierzulande kaum etwas über die Gelehrten und Intellektuellen aus dem Nahen Osten bekannt, welche diese Übersetzungen und Kommentare anfertigten. So wird es viele Leser überraschen, dass schon vor hundertfünfzig Jahren die Forderung nach einem "Luther des Islams" erhoben wurde und die Auseinandersetzung mit dem Christentum dazu führte, dass einige der arabischen Universalgelehrten des neunzehnten Jahrhunderts zwischen östlichem Christentum, Protestantismus und Islam hin und her konvertierten.
Ein Drittel des Buches nimmt die lesenswerte Einleitung der Herausgeberin mit zwanzig Kurzbiographien der wichtigsten Autoren ein (darunter kaum Frauen). Obwohl im Untertitel von "Positionen um 1900" die Rede ist, verfolgt diese Einleitung ihr Thema bis nahe an die Gegenwart. Der zweite Teil des Buches stellt dann vier Originaltexte muslimischer Religionskritiker vor. Zum ersten Mal werden in diesem Band die Texte je zweier Vertreter der Harmonie- sowie der Konfliktthese auf Deutsch vorgelegt, samt Erläuterungen zu ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte.
Manche Beobachter der Region weisen relativierend darauf hin, dass Intellektuelle wie die Autoren der vorgestellten Texte marginalisiert, ins Exil gezwungen oder umgebracht - in jedem Fall mundtot gemacht - wurden. Diese Annahme widerlegt der nun vorliegende Band. Die Herausgeberin hat gerade die Bestseller und berühmten Texte um die Wende zum vorigen Jahrhundert ausgesucht. Das Streben nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Emanzipation der Frau sei ein gemeinsamer Nenner der nahöstlichen Philosophie, schreibt Anke von Kügelgen. Diese Einschätzung entspringt durchaus nicht persönlichem Wunschdenken, sondern wird auf über dreihundert Seiten untermauert. Weitere Bände der neuen Reihe werden sich mit der akademischen Philosophie und Konzepten von Toleranz und Intoleranz in der arabischen Welt befassen.
SONJA HEGASY
Anke von Kügelgen (Hrsg.): "Wissenschaft, Philosophie und Religion". Religionskritische Positionen um 1900. Philosophie in der nahöstlichen Moderne. Band 1. Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2017. 326 S., br., 29,80 [Euro].
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