Erstaunliche Geschichten aus der Erforschung eines der scheinbar vertrautesten Tätigkeiten des Menschen, dem Gehen - von Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildender Kunst.
Das Gehen ist ein vertrauter und alltäglicher Vorgang, der sich der exakten Erfassung hartnäckig zu entziehen scheint. Die Ungreifbarkeit des Gegenstandes stieß im 19. Jahrhundert eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen an, die die menschliche und tierische Bewegung messen, analysieren und auch verbessern sollten.
Von der Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildenden Kunst reichen die Ansätze zur Sicherung und Verwertung von Gangspuren. Ein bisher kaum beleuchtetes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, in dem sich zentrale soziale, politische und ästhetische Probleme des neunzehnten Jahrhunderts bündeln.
Das Gehen ist ein vertrauter und alltäglicher Vorgang, der sich der exakten Erfassung hartnäckig zu entziehen scheint. Die Ungreifbarkeit des Gegenstandes stieß im 19. Jahrhundert eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen an, die die menschliche und tierische Bewegung messen, analysieren und auch verbessern sollten.
Von der Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildenden Kunst reichen die Ansätze zur Sicherung und Verwertung von Gangspuren. Ein bisher kaum beleuchtetes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, in dem sich zentrale soziale, politische und ästhetische Probleme des neunzehnten Jahrhunderts bündeln.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2013Und wenn ich geh, dann geht nur ein Teil von mir
Physik und Wille in seltenem Einklang: Bei seiner Darstellung der menschlichen Fortbewegung nimmt der Wissenschaftshistoriker Andreas Mayer zu früh einen Gang heraus
Bekannt ist die kleine Geschichte vom Tausendfüßler, der gefragt wurde, wie er das eigentlich mache: Mit tausend Füßen gehen. Bis dahin hatte er nie Probleme mit seinem Gang gehabt; doch als er jetzt nachzudenken begann, kam er mit seinen vielen Füßen nicht mehr zurecht und stolperte fortan durchs Unterholz. Obwohl wir Menschen längst nicht so üppig befußt sind wie die Tausendfüßler, geht es uns nicht viel anders als ihnen. Wir denken nicht über unser Gehen nach; warum sollten wir auch: Es klappt ja in aller Regel ganz gut.
Und wenn wir dann nachdenken, beginnen die Verlegenheiten. Wir vermögen nicht zu sagen, wie wir es anstellen zu gehen; und je angestrengter wir es herauszufinden versuchen, desto unsicherer und ungelenker wird unser Gang. Aus dem Tanzkurs ist dieser Effekt wohlbekannt: Solange wir die neu gelernten Tanzschritte bewusst auszuführen versuchen, bleiben sie steif und tapsig. Das richtige Tanzen beginnt erst, wenn das Denken aufhört.
So weit geht es uns also nicht viel anders als den Tausendfüßlern. Aber wir Menschen haben einen Trick erfunden, mit dem wir dann doch allerhand über unser Gehen herausfinden können, ohne dabei ins Stolpern zu geraten. Wir denken nicht über unser jeweils eigenes Gehen nach, sondern beobachten das unserer Mitmenschen. Die dadurch entstehende Distanz zum Gegenstand unseres Wissensdranges verhindert nicht nur, dass der Wissen-Wollende ins Stolpern gerät, sondern ermöglicht auch einen objektivierenden Zugang; das Gehen erscheint nicht länger als etwas, in das wir selbst involviert sind, sondern als ein beliebiger, fremder Vorgang.
Dass es sich bei dieser Verfremdung um einen "Trick" handelt, ist natürlich eine grobe Simplifizierung. Denn tatsächlich war eine Fülle von kulturellen, theoretischen und methodischen Voraussetzungen zu erfüllen, damit ein so gewöhnlicher und (scheinbar) simpler Vorgang wie das menschliche Gehen zum Gegenstand einer systematischen Forschung werden konnte. Wie Andreas Mayer uns in seinem Buch wissen lässt, wurden einige dieser Voraussetzungen im achtzehnten Jahrhundert geschaffen, als das selbstbewusster werdende Bürgertum eine eigene "Gehkultur" erfand, mit der es sich von der Welt des Adels abgrenzte. Während der Aristokrat in der Kutsche fuhr, ging der Bürger zu Fuß. Nicht nur Rousseau erklärte den Spaziergang im Freien und die Fernreise zu Fuß zur natürlichsten und besten Form der Fortbewegung: Sie bringe den gehenden Menschen in Kontakt mit der Natur und mit anderen Menschen, sie stärke seine Kraft und seine Gesundheit. Aber auch das Militär interessierte sich verstärkt für das richtige Gehen, freilich nicht der Bürger, sondern der Truppe. Das Marschieren wurde zum Gegenstand rationaler Erörterungen, die bis an die Schwelle einer experimentellen Erforschung der Mechanik des Gehens führten.
Endgültig überschritten wurde diese Schwelle dann im neunzehnten Jahrhundert. In Frankreich rückte die Physiologie zu einer Art Modewissenschaft auf und die Bewegung von Mensch und Tier zu einem ihrer Lieblingsthemen. Selbst Honoré de Balzac konnte der Versuchung nicht widerstehen, im Jahre 1833 eine "Theorie des Gehens" vorzulegen, in der er sich darüber wunderte, wie groß die Schwierigkeiten waren, die das Gehen seiner wissenschaftlichen Durchleuchtung entgegensetzt: "Ist es nicht erschreckend, so viele unlösbare Probleme in einem gewöhnlichen Akt zu finden, in einer Bewegung, die achthunderttausend Pariser jeden Tag ausführen?"
Doch von unlösbaren Problemen wollte die Wissenschaft nichts wissen und so machten sich zur gleichen Zeit, als Balzac in Paris über sie klagte, im fernen Göttingen zwei junge Wissenschaftler an die experimentelle Arbeit. Die Brüder Eduard und Wilhelm Weber verfolgten einen rein physikalischen Ansatz bei der Erforschung der "menschlichen Gehwerkzeuge". Ihr Anspruch bestand darin, für dieses Phänomen dasselbe zu leisten, was Newton für die Bewegung der Himmelskörper vollbracht hatte: Eine Erklärung, die allein auf den strukturellen Merkmalen des menschlichen Körpers und den üblichen physikalischen Bewegungsgesetzen beruhe und etwa den Willen des Gehenden ausklammerte. Zwar stellten sich einige der zentralen Behauptungen der Brüder Weber später als falsch heraus, ihr radikaler Physikalismus sollte sich aber als wegweisend für große Teile der nachfolgenden Forschung erweisen.
Die erfolgreiche Durchführung dieses Programms hing vor allem von der Entwicklung effizienter Methoden zur Beobachtung, Aufzeichnung und Messung des gesunden wie pathologischen Gehens ab. Zu den eindrucksvollsten Errungenschaften auf diesem Gebiet gehörte die vor allem von Étienne-Jules Marey in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte Chronophotographie, bei der das kontinuierliche Gehen durch rasch aufeinanderfolgende Photographien in eine Sequenz einzelner Bilder zerlegt wurde.
Andere Forscher zogen die "Abdruckmethode" vor, bei der Abdrücke der gefärbten Füße des Probanden auf Papier festgehalten und ausgewertet wurden. Auch wurden kleine Tintenröhrchen an den Schuhen befestigt, so dass der Schwung der Beine elegante Kurvenbilder auf Papier hinterließ. Mayers Darstellung gibt einen lebhaften Eindruck von der experimentellen Phantasie und dem technischen Raffinement der französischen und deutschen Gangforscher. Ebenso von ihrem Eifer, aus den erzielten Ergebnissen Schlussfolgerungen für die Verbesserung der bildenden Künste - wie müssen stehende oder gehende Menschen dargestellt werden -, für das Militär - wie muss marschiert und paradiert werden - oder für die Reform des ordinären Gehens - wie können die zivilisatorischen Zwänge abgeschüttelt und die natürlich schöne Gangart wiedergewonnen werden - zu ziehen und öffentlich zu propagieren.
Das Buch konzentriert sich auf die Empirisierung und Experimentalisierung des Gehens und stellt sie erstmals zusammenhängend dar. Dass die parallel dazu entwickelten evolutionären Deutungen ausgespart bleiben, ist daher verständlich; obwohl sie doch immerhin von der Frage handeln, warum sich unsere Vorfahren überhaupt von vier auf zwei Füße aufgerichtet und damit überhaupt erst begonnen haben zu "gehen". Unverständlich bleibt allerdings, warum Andreas Mayer seine Erzählung an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert abbricht und nicht wenigstens eine kurze Vorschau auf den Fortgang der experimentellen Gangforschung gibt, die durchaus noch einige spannende Kapitel bereithalten sollte.
KURT BAYERTZ
Andreas Mayer: "Wissenschaft vom Gehen". Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2013. 320 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Physik und Wille in seltenem Einklang: Bei seiner Darstellung der menschlichen Fortbewegung nimmt der Wissenschaftshistoriker Andreas Mayer zu früh einen Gang heraus
Bekannt ist die kleine Geschichte vom Tausendfüßler, der gefragt wurde, wie er das eigentlich mache: Mit tausend Füßen gehen. Bis dahin hatte er nie Probleme mit seinem Gang gehabt; doch als er jetzt nachzudenken begann, kam er mit seinen vielen Füßen nicht mehr zurecht und stolperte fortan durchs Unterholz. Obwohl wir Menschen längst nicht so üppig befußt sind wie die Tausendfüßler, geht es uns nicht viel anders als ihnen. Wir denken nicht über unser Gehen nach; warum sollten wir auch: Es klappt ja in aller Regel ganz gut.
Und wenn wir dann nachdenken, beginnen die Verlegenheiten. Wir vermögen nicht zu sagen, wie wir es anstellen zu gehen; und je angestrengter wir es herauszufinden versuchen, desto unsicherer und ungelenker wird unser Gang. Aus dem Tanzkurs ist dieser Effekt wohlbekannt: Solange wir die neu gelernten Tanzschritte bewusst auszuführen versuchen, bleiben sie steif und tapsig. Das richtige Tanzen beginnt erst, wenn das Denken aufhört.
So weit geht es uns also nicht viel anders als den Tausendfüßlern. Aber wir Menschen haben einen Trick erfunden, mit dem wir dann doch allerhand über unser Gehen herausfinden können, ohne dabei ins Stolpern zu geraten. Wir denken nicht über unser jeweils eigenes Gehen nach, sondern beobachten das unserer Mitmenschen. Die dadurch entstehende Distanz zum Gegenstand unseres Wissensdranges verhindert nicht nur, dass der Wissen-Wollende ins Stolpern gerät, sondern ermöglicht auch einen objektivierenden Zugang; das Gehen erscheint nicht länger als etwas, in das wir selbst involviert sind, sondern als ein beliebiger, fremder Vorgang.
Dass es sich bei dieser Verfremdung um einen "Trick" handelt, ist natürlich eine grobe Simplifizierung. Denn tatsächlich war eine Fülle von kulturellen, theoretischen und methodischen Voraussetzungen zu erfüllen, damit ein so gewöhnlicher und (scheinbar) simpler Vorgang wie das menschliche Gehen zum Gegenstand einer systematischen Forschung werden konnte. Wie Andreas Mayer uns in seinem Buch wissen lässt, wurden einige dieser Voraussetzungen im achtzehnten Jahrhundert geschaffen, als das selbstbewusster werdende Bürgertum eine eigene "Gehkultur" erfand, mit der es sich von der Welt des Adels abgrenzte. Während der Aristokrat in der Kutsche fuhr, ging der Bürger zu Fuß. Nicht nur Rousseau erklärte den Spaziergang im Freien und die Fernreise zu Fuß zur natürlichsten und besten Form der Fortbewegung: Sie bringe den gehenden Menschen in Kontakt mit der Natur und mit anderen Menschen, sie stärke seine Kraft und seine Gesundheit. Aber auch das Militär interessierte sich verstärkt für das richtige Gehen, freilich nicht der Bürger, sondern der Truppe. Das Marschieren wurde zum Gegenstand rationaler Erörterungen, die bis an die Schwelle einer experimentellen Erforschung der Mechanik des Gehens führten.
Endgültig überschritten wurde diese Schwelle dann im neunzehnten Jahrhundert. In Frankreich rückte die Physiologie zu einer Art Modewissenschaft auf und die Bewegung von Mensch und Tier zu einem ihrer Lieblingsthemen. Selbst Honoré de Balzac konnte der Versuchung nicht widerstehen, im Jahre 1833 eine "Theorie des Gehens" vorzulegen, in der er sich darüber wunderte, wie groß die Schwierigkeiten waren, die das Gehen seiner wissenschaftlichen Durchleuchtung entgegensetzt: "Ist es nicht erschreckend, so viele unlösbare Probleme in einem gewöhnlichen Akt zu finden, in einer Bewegung, die achthunderttausend Pariser jeden Tag ausführen?"
Doch von unlösbaren Problemen wollte die Wissenschaft nichts wissen und so machten sich zur gleichen Zeit, als Balzac in Paris über sie klagte, im fernen Göttingen zwei junge Wissenschaftler an die experimentelle Arbeit. Die Brüder Eduard und Wilhelm Weber verfolgten einen rein physikalischen Ansatz bei der Erforschung der "menschlichen Gehwerkzeuge". Ihr Anspruch bestand darin, für dieses Phänomen dasselbe zu leisten, was Newton für die Bewegung der Himmelskörper vollbracht hatte: Eine Erklärung, die allein auf den strukturellen Merkmalen des menschlichen Körpers und den üblichen physikalischen Bewegungsgesetzen beruhe und etwa den Willen des Gehenden ausklammerte. Zwar stellten sich einige der zentralen Behauptungen der Brüder Weber später als falsch heraus, ihr radikaler Physikalismus sollte sich aber als wegweisend für große Teile der nachfolgenden Forschung erweisen.
Die erfolgreiche Durchführung dieses Programms hing vor allem von der Entwicklung effizienter Methoden zur Beobachtung, Aufzeichnung und Messung des gesunden wie pathologischen Gehens ab. Zu den eindrucksvollsten Errungenschaften auf diesem Gebiet gehörte die vor allem von Étienne-Jules Marey in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte Chronophotographie, bei der das kontinuierliche Gehen durch rasch aufeinanderfolgende Photographien in eine Sequenz einzelner Bilder zerlegt wurde.
Andere Forscher zogen die "Abdruckmethode" vor, bei der Abdrücke der gefärbten Füße des Probanden auf Papier festgehalten und ausgewertet wurden. Auch wurden kleine Tintenröhrchen an den Schuhen befestigt, so dass der Schwung der Beine elegante Kurvenbilder auf Papier hinterließ. Mayers Darstellung gibt einen lebhaften Eindruck von der experimentellen Phantasie und dem technischen Raffinement der französischen und deutschen Gangforscher. Ebenso von ihrem Eifer, aus den erzielten Ergebnissen Schlussfolgerungen für die Verbesserung der bildenden Künste - wie müssen stehende oder gehende Menschen dargestellt werden -, für das Militär - wie muss marschiert und paradiert werden - oder für die Reform des ordinären Gehens - wie können die zivilisatorischen Zwänge abgeschüttelt und die natürlich schöne Gangart wiedergewonnen werden - zu ziehen und öffentlich zu propagieren.
Das Buch konzentriert sich auf die Empirisierung und Experimentalisierung des Gehens und stellt sie erstmals zusammenhängend dar. Dass die parallel dazu entwickelten evolutionären Deutungen ausgespart bleiben, ist daher verständlich; obwohl sie doch immerhin von der Frage handeln, warum sich unsere Vorfahren überhaupt von vier auf zwei Füße aufgerichtet und damit überhaupt erst begonnen haben zu "gehen". Unverständlich bleibt allerdings, warum Andreas Mayer seine Erzählung an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert abbricht und nicht wenigstens eine kurze Vorschau auf den Fortgang der experimentellen Gangforschung gibt, die durchaus noch einige spannende Kapitel bereithalten sollte.
KURT BAYERTZ
Andreas Mayer: "Wissenschaft vom Gehen". Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2013. 320 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Verblüfft schaut Kurt Bayertz Balzac beim Gehen, quatsch, bei der Verfertigung einer Theorie des Gehens zu, von der ihm wiederum Andreas Mayer in seinem Buch berichtet. Auch rein physikalische Ansätze werden im Buch behandelt, wie Bayertz erläutert, der dem Buch insgesamt einen lebhaften Eindruck von der Fantasie und der technischen Gewandtheit der Gangforscher entnimmt, ihrem Reformwillen das Gehen betreffend bei Kunst und Militär. Dass der Autor die Empirisierung und Experimentalisierung des Gehens hier erstmals zusammenhängend darstellt, findet Bayertz zwar bemerkenswert, allerdings vermisst er die evolutionären Deutungen im Band sowie einen Ausblick auf die Gangforschung im 20. Jahrhundert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Mayers Buch ist penibel recherchiert, wissenschaftlich präzise und äußerst lehrreich. Da geht was! Patrick Spät Philosophie Magazin