Welche Rolle soll die Wissenschaft in unserer Gesellschaft spielen? Was können, was dürfen wir von ihr erwarten? Um die Wissenschaft wird gestritten, um ihre Methoden, ihre Organisation, ihre Ergebnisse, genauso wie um ihre Folgen, ihre Geltung und ihre Relevanz. Dieses Buch weist auf Nachlässigkeiten und Sklerosen der Wissenschaft selbst hin und deckt dabei manche falsche Selbstverständlichkeit auf, der wir im "Wissenszeitalter" erliegen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003Knaller für Physiklehrer
Einer, der weiß, wovon er spricht: Hartmut von Hentig zeigt, wie man sich trotz Universität noch bilden kann / Von Jürgen Kaube
Wissenschaft, eine Kritik - das klingt ebenso entschieden wie aussichtslos. Denn wie will man die Wissenschaft als ganze kritisieren, ohne sie selber zu beschreiben, zu analysieren und mit ihr zu argumentieren, wie also will man es tun, ohne selber wissenschaftlich vorzugehen? In diesem Fall lieferte man selber nur einen weiteren Beitrag zu dem, was man zugleich kritisiert. Wer einen Sack entschlossen von innen zuzieht, läuft Gefahr, eine komische Figur zu machen.
Um die entsprechenden Selbstmißverständnisse zu vermeiden, haben es manche Wissenschaftskritiker vorgezogen, die Wissenschaft von außen zu kritiseren. Im Namen des Lebens, der Natur oder der Kultur, denen Forschung und Technik feindlich seien, wurde der Wissenschaft entgegengehalten: Es gibt mehr als Wahrheit und Wichtigeres als die Suche nach ihr. Aber abgesehen davon, daß auch Aussagen über Leben, Natur und Kultur zweifelhaft bleiben, wenn sie nur so dahingesagt sind, hat diese Art von Kritik den zusätzlichen Nachteil, daß sich die Wissenschaft von ihr nicht einmal getroffen sehen muß. Denn es ist ja ganz unbestritten, daß man, anstatt zu forschen, auch ausschlafen, zur Messe gehen oder bergsteigen kann. Wer bekundet, die Unterscheidung von wahr und falsch sei nicht seine Sache, hat dem Gespräch der Wissenschaft auf ganz harmlose Weise selbst den Rücken zugekehrt.
Hartmut von Hentig will beides nicht. Er will weder nur innerhalb der Wissenschaft einzelne ihrer Vorgehensweisen, Befunde oder Folgen kritisieren, also das tun, was Wissenschaftler eben so tun, noch will er aus dem Gespräch derjenigen, die sich mit systematischem Erkenntnisgewinn durch Forschung befassen, heraustreten. Wie soll beides zusammen gehen? Die Folge von Aufsätzen aus den letzten fünfunddreißig Jahren, die der Bielefelder Pädagoge hier vorlegt, versteht sich als eine Erinnerung. Erinnert wird an etwas, das die Wissenschaft einst zu leisten behauptete, es jetzt aber, des Autors Klage zufolge, nicht mehr leistet: Bildung. Die Universitäten seien zu Stätten entweder der Berufsvorbereitung oder einer Forschung geworden, die sich zunehmend dem Zwang gegenübersieht, abrechnungsfähig zu sein. Beides lenkt ihren Blick von der Tradition des Erkenntnisgewinns, von dem also, was sie selbst ausmacht, auf den Markt. Unter dem sachfremden Druck, Leistungen für den Standort, und zwar am besten sofort, zu erbringen, werden Mitlaufen, Modeschöpfung und die aufwendige Camouflage des Eigensinns zu ihren Haupthandlungsformen. Und um auch nur das tun zu können, muß sich der Forscher einer Organisation ausliefern, die ihn durch Anträge, die er schreiben, Projekte, die er evaluieren, Kommissionen, die er überstehen muß, an der Ausübung von Lehre, kollegialer Kritik und Pflege des universitären Lebens hindert.
Beides, der Druck von außen, dem die Wissenschaft aus Geldbedarf und Wachstumsfreude nachgibt, und die innere Zermürbung durch Folgen der Hochschuldemobürokratie, wird noch verstärkt durch die haltlose Spezialisierung, der sich die Forschung hingibt. Schon Seneca machte sich in einem Brief an Lucilius über den reichen Römer Calvius Sabinus lustig, der sich, selbst unkundig der Literatur, einen Sklaven mit Homer- und einen mit Hesiodkenntnissen hielt. In Zeiten geisteswissenschaftlicher Emanzipation setzt sich diese Delegation des Lesens und Denkens aber nicht nur durch eine Gesellschaft fort, die sich anstatt Sklaven nun Professoren hält, um denken zu lassen. Hentigs Klage gilt vielmehr einer Wissenschaft, die selber durch die rücksichtslose Zerlegung ihrer Fragen sowie ihre Abspaltung vom Aufklärungsinteresse "unphilosophisch" geworden sei. Das Geforsch, das Hentig an seiner eigenen Disziplin, der Erziehungswissenschaft, unnachgiebig verfolgt, besteht in der dröhnenden Überformung ganz alltagsverständlicher Probleme durch monströse Vokabulare; es dokumentiert sich darin, daß alles, was gedacht wird, auch gedruckt wird, und in Dissertationen, deren Literaturverzeichnis auf 660 Einzeltitel verweisen kann, ohne daß jemand dies als sonnenklares Eingeständnis impertinenter Nichtlektüre behandeln würde; es nährt sich an der weitgehenden Indifferenz der Wissenschaftler gegenüber dem Zustand ihrer Fächer und Fachbereiche, solange nur die eigenen Projekte laufen; und es mündet in eine Situation, in der die wenigsten Forscher noch in der Lage sind, dem Publikum, das sie finanzieren soll, klarzumachen, für welche praktischen oder geistigen Entscheidungen ihre Befunde denn von Belang sind.
Im Grunde wiederholt der Autor mit all dem ein Argument, das prominent zuerst Adam Smith und Alexis de Tocqueville vorgetragen haben: Die Arbeitsteilung macht das Produkt immer raffinierter und den Produzenten immer dümmer, weil in seinen Fähigkeiten eingeschränkter. Aber läßt sich der Prozeß der wissenschaftlichen Arbeitsteilung korrigieren, stellt er samt seiner Folgen nicht ein Schicksal dar, das die Kritik Hentigs zu ohnmächtigem Konservatismus verurteilt? Das Interessante an diesen Aufsätzen ist gerade, daß sie nicht von außen lamentieren. Die Erwartungen, die es Hentig erlauben, seine Kritik an die Wissenschaften zu adressieren, sind selbst einer ihrer Tätigkeiten entnommen: der Lehre.
Hätte der Autor seine Überlegungen zu einem Ganzen durchgearbeitet, wäre vermutlich ein Traktat herausgekommen, der in akademischen Belangen endlich einmal die Schulung gegenüber der Forschung in Anschlag bringt. Sein Gegenmodell philosophischer Wissenschaft skizziert Hentig in einer Lobrede auf den großen Pädagogen Martin Wagenschein. In ihr erläutert er, was die Physikstunden an Schulen gewönnen, würde nur als Lernziel an die Stelle des Wissens das Denken gesetzt. Entschlösse sich aufgrund der Lektüre auch nur ein Dutzend Physiklehrer - unbekümmert um die Bekundungen der Fachdidaktik, man sei über Wagenscheins verstehenden Physikunterricht längst hinaus -, dessen Buch über "Die pädagogische Dimension der Physik" von 1962 zu lesen, hätte Hentig mehr für die Bekämpfung von Schulfehlern getan als hundert Bildungsstandards. Für den universitären Unterricht gilt dasselbe.
Die Gestalt des Lehrers hebt sich in allen Überlegungen Hentigs von der des Forschers als eine ab, die durch ihre Klienten, die Schüler, zu nicht überspezialisiertem und nach der Lebensbedeutung von Wissen fragendem Handeln gezwungen wird. Institutionell tritt dieser Gestalt die Idee des "Colleges" zur Seite, die Hentig 1986 in einem Plädoyer für die Einführung dieser Schulform in Deutschland beschrieben hat. Da zur Zeit an deutschen Universitäten das Bachelorstudium in Form einer Parodie dessen eingeführt wird, was an angloamerikanischen Colleges darunter verstanden wird, kommt die Wiederauflage auch dieses Aufsatzes - "Ein deutsches College?" - gerade recht.
In ihm entfaltet Hentig im Detail, was möglich wäre, wenn die deutsche Bildungsreform bei ihren Akteuren von zweierlei getragen wäre: von institutioneller Phantasie, also der Bereitschaft, etwas Neues anzufangen, und von einer selber glücklichen Bildungserfahrung, die nötig ist, um zu erkennen, daß das gute Neue auch etwas ganz Altes wäre. In Sachen der Lehre und der Bildung sind nämlich die sinnvollen Modelle alle längst realisiert worden. Nur eben nicht hier und heute.
Hartmut von Hentig: "Wissenschaft". Eine Kritik. Hanser Verlag, München 2003. 298 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einer, der weiß, wovon er spricht: Hartmut von Hentig zeigt, wie man sich trotz Universität noch bilden kann / Von Jürgen Kaube
Wissenschaft, eine Kritik - das klingt ebenso entschieden wie aussichtslos. Denn wie will man die Wissenschaft als ganze kritisieren, ohne sie selber zu beschreiben, zu analysieren und mit ihr zu argumentieren, wie also will man es tun, ohne selber wissenschaftlich vorzugehen? In diesem Fall lieferte man selber nur einen weiteren Beitrag zu dem, was man zugleich kritisiert. Wer einen Sack entschlossen von innen zuzieht, läuft Gefahr, eine komische Figur zu machen.
Um die entsprechenden Selbstmißverständnisse zu vermeiden, haben es manche Wissenschaftskritiker vorgezogen, die Wissenschaft von außen zu kritiseren. Im Namen des Lebens, der Natur oder der Kultur, denen Forschung und Technik feindlich seien, wurde der Wissenschaft entgegengehalten: Es gibt mehr als Wahrheit und Wichtigeres als die Suche nach ihr. Aber abgesehen davon, daß auch Aussagen über Leben, Natur und Kultur zweifelhaft bleiben, wenn sie nur so dahingesagt sind, hat diese Art von Kritik den zusätzlichen Nachteil, daß sich die Wissenschaft von ihr nicht einmal getroffen sehen muß. Denn es ist ja ganz unbestritten, daß man, anstatt zu forschen, auch ausschlafen, zur Messe gehen oder bergsteigen kann. Wer bekundet, die Unterscheidung von wahr und falsch sei nicht seine Sache, hat dem Gespräch der Wissenschaft auf ganz harmlose Weise selbst den Rücken zugekehrt.
Hartmut von Hentig will beides nicht. Er will weder nur innerhalb der Wissenschaft einzelne ihrer Vorgehensweisen, Befunde oder Folgen kritisieren, also das tun, was Wissenschaftler eben so tun, noch will er aus dem Gespräch derjenigen, die sich mit systematischem Erkenntnisgewinn durch Forschung befassen, heraustreten. Wie soll beides zusammen gehen? Die Folge von Aufsätzen aus den letzten fünfunddreißig Jahren, die der Bielefelder Pädagoge hier vorlegt, versteht sich als eine Erinnerung. Erinnert wird an etwas, das die Wissenschaft einst zu leisten behauptete, es jetzt aber, des Autors Klage zufolge, nicht mehr leistet: Bildung. Die Universitäten seien zu Stätten entweder der Berufsvorbereitung oder einer Forschung geworden, die sich zunehmend dem Zwang gegenübersieht, abrechnungsfähig zu sein. Beides lenkt ihren Blick von der Tradition des Erkenntnisgewinns, von dem also, was sie selbst ausmacht, auf den Markt. Unter dem sachfremden Druck, Leistungen für den Standort, und zwar am besten sofort, zu erbringen, werden Mitlaufen, Modeschöpfung und die aufwendige Camouflage des Eigensinns zu ihren Haupthandlungsformen. Und um auch nur das tun zu können, muß sich der Forscher einer Organisation ausliefern, die ihn durch Anträge, die er schreiben, Projekte, die er evaluieren, Kommissionen, die er überstehen muß, an der Ausübung von Lehre, kollegialer Kritik und Pflege des universitären Lebens hindert.
Beides, der Druck von außen, dem die Wissenschaft aus Geldbedarf und Wachstumsfreude nachgibt, und die innere Zermürbung durch Folgen der Hochschuldemobürokratie, wird noch verstärkt durch die haltlose Spezialisierung, der sich die Forschung hingibt. Schon Seneca machte sich in einem Brief an Lucilius über den reichen Römer Calvius Sabinus lustig, der sich, selbst unkundig der Literatur, einen Sklaven mit Homer- und einen mit Hesiodkenntnissen hielt. In Zeiten geisteswissenschaftlicher Emanzipation setzt sich diese Delegation des Lesens und Denkens aber nicht nur durch eine Gesellschaft fort, die sich anstatt Sklaven nun Professoren hält, um denken zu lassen. Hentigs Klage gilt vielmehr einer Wissenschaft, die selber durch die rücksichtslose Zerlegung ihrer Fragen sowie ihre Abspaltung vom Aufklärungsinteresse "unphilosophisch" geworden sei. Das Geforsch, das Hentig an seiner eigenen Disziplin, der Erziehungswissenschaft, unnachgiebig verfolgt, besteht in der dröhnenden Überformung ganz alltagsverständlicher Probleme durch monströse Vokabulare; es dokumentiert sich darin, daß alles, was gedacht wird, auch gedruckt wird, und in Dissertationen, deren Literaturverzeichnis auf 660 Einzeltitel verweisen kann, ohne daß jemand dies als sonnenklares Eingeständnis impertinenter Nichtlektüre behandeln würde; es nährt sich an der weitgehenden Indifferenz der Wissenschaftler gegenüber dem Zustand ihrer Fächer und Fachbereiche, solange nur die eigenen Projekte laufen; und es mündet in eine Situation, in der die wenigsten Forscher noch in der Lage sind, dem Publikum, das sie finanzieren soll, klarzumachen, für welche praktischen oder geistigen Entscheidungen ihre Befunde denn von Belang sind.
Im Grunde wiederholt der Autor mit all dem ein Argument, das prominent zuerst Adam Smith und Alexis de Tocqueville vorgetragen haben: Die Arbeitsteilung macht das Produkt immer raffinierter und den Produzenten immer dümmer, weil in seinen Fähigkeiten eingeschränkter. Aber läßt sich der Prozeß der wissenschaftlichen Arbeitsteilung korrigieren, stellt er samt seiner Folgen nicht ein Schicksal dar, das die Kritik Hentigs zu ohnmächtigem Konservatismus verurteilt? Das Interessante an diesen Aufsätzen ist gerade, daß sie nicht von außen lamentieren. Die Erwartungen, die es Hentig erlauben, seine Kritik an die Wissenschaften zu adressieren, sind selbst einer ihrer Tätigkeiten entnommen: der Lehre.
Hätte der Autor seine Überlegungen zu einem Ganzen durchgearbeitet, wäre vermutlich ein Traktat herausgekommen, der in akademischen Belangen endlich einmal die Schulung gegenüber der Forschung in Anschlag bringt. Sein Gegenmodell philosophischer Wissenschaft skizziert Hentig in einer Lobrede auf den großen Pädagogen Martin Wagenschein. In ihr erläutert er, was die Physikstunden an Schulen gewönnen, würde nur als Lernziel an die Stelle des Wissens das Denken gesetzt. Entschlösse sich aufgrund der Lektüre auch nur ein Dutzend Physiklehrer - unbekümmert um die Bekundungen der Fachdidaktik, man sei über Wagenscheins verstehenden Physikunterricht längst hinaus -, dessen Buch über "Die pädagogische Dimension der Physik" von 1962 zu lesen, hätte Hentig mehr für die Bekämpfung von Schulfehlern getan als hundert Bildungsstandards. Für den universitären Unterricht gilt dasselbe.
Die Gestalt des Lehrers hebt sich in allen Überlegungen Hentigs von der des Forschers als eine ab, die durch ihre Klienten, die Schüler, zu nicht überspezialisiertem und nach der Lebensbedeutung von Wissen fragendem Handeln gezwungen wird. Institutionell tritt dieser Gestalt die Idee des "Colleges" zur Seite, die Hentig 1986 in einem Plädoyer für die Einführung dieser Schulform in Deutschland beschrieben hat. Da zur Zeit an deutschen Universitäten das Bachelorstudium in Form einer Parodie dessen eingeführt wird, was an angloamerikanischen Colleges darunter verstanden wird, kommt die Wiederauflage auch dieses Aufsatzes - "Ein deutsches College?" - gerade recht.
In ihm entfaltet Hentig im Detail, was möglich wäre, wenn die deutsche Bildungsreform bei ihren Akteuren von zweierlei getragen wäre: von institutioneller Phantasie, also der Bereitschaft, etwas Neues anzufangen, und von einer selber glücklichen Bildungserfahrung, die nötig ist, um zu erkennen, daß das gute Neue auch etwas ganz Altes wäre. In Sachen der Lehre und der Bildung sind nämlich die sinnvollen Modelle alle längst realisiert worden. Nur eben nicht hier und heute.
Hartmut von Hentig: "Wissenschaft". Eine Kritik. Hanser Verlag, München 2003. 298 S., geb., 21,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der mit "lx" zeichnende Rezensent zeigt sich erfreut von Hartmut von Hentigs "Wissenschaft. Eine Kritik", in dem der Pädagoge einen skeptischen Blick auf die heutige "Wissensgesellschaft" wirft. Hentig kritisiere den weitverbreiteten Glauben vom "Allheilmittel Wissenschaft" und zeige, dass Wissenschaft doch nicht alles kann. So erwiesen sich etwa Konjunkturprognosen als falsch, vermeintlich unschädliche Medikamente zeitigten schwere Nebenwirkungen, die Kosten für wissenschaftliche Spitzenleistungen etwa in der Reproduktionsbiologie gefährdeten die medizinische Grundversorgung. Zu fragen sei´,mit Hentig auch, ob die Wissenschaft, längst ein Projekt von undurchschaubarer Eigendynamik, der Allgemeinheit wirklich diene, hält der inspirierte Rezensent fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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