Die Wissenschaftsfreiheit gilt vielerorts als bedroht von Moralismus, Denkverboten und Cancel Culture. Aber ist moralische Empörung angesichts bestimmter wissenschaftlicher Positionen - etwa zu Genetik und IQ, zu Geschlecht und Biologie oder zu Behinderung und Infantizid - immer ein ideologischer, sachfremder Versuch der Bevormundung? Oder gibt es legitime moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen? Der Philosoph Tim Henning geht diesen Fragen in seinem hochaktuellen und originellen Buch auf den Grund.
Einerseits verteidigt er eine strenge Auffassung von Wissenschaftsfreiheit: Die Wissenschaft ist ein autonomer Bereich und sollte als solcher auch respektiert werden. Sie sollte sich allein an den Kriterien orientieren, die sich aus der immanenten Natur einer systematischen Wahrheitssuche ergeben - an Daten und Belegen, an wahr oder falsch. Andererseits betont er die Möglichkeit einer nichtmoralistischen moralischen Kritik. Ansatzpunkte hierfür finden sich im Innerendes vermeintlich reinen Bereichs wissenschaftlicher Kriterien, wie neuere Analysen aus Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie zeigen. Es sind die praktischen Kosten eines Irrtums, die sich als erkenntnistheoretisch und als moralisch relevant erweisen. Ob eine These wissenschaftlich haltbar ist, kann daher durchaus eine moralische Frage sein.
Einerseits verteidigt er eine strenge Auffassung von Wissenschaftsfreiheit: Die Wissenschaft ist ein autonomer Bereich und sollte als solcher auch respektiert werden. Sie sollte sich allein an den Kriterien orientieren, die sich aus der immanenten Natur einer systematischen Wahrheitssuche ergeben - an Daten und Belegen, an wahr oder falsch. Andererseits betont er die Möglichkeit einer nichtmoralistischen moralischen Kritik. Ansatzpunkte hierfür finden sich im Innerendes vermeintlich reinen Bereichs wissenschaftlicher Kriterien, wie neuere Analysen aus Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie zeigen. Es sind die praktischen Kosten eines Irrtums, die sich als erkenntnistheoretisch und als moralisch relevant erweisen. Ob eine These wissenschaftlich haltbar ist, kann daher durchaus eine moralische Frage sein.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Lars Weisbrod langweilt sich ein bisschen bei der Lektüre dieses Buchs von Tim Hennings, das abstrakt daherkommt und möglicherweise etwas arg schnell ins Deutsche übersetzt wurde. Aber gleichzeitig hält Weisbrod es für ungemein wichtig, weil es eine Frage ernst nimmt, die ansonsten von Kulturkämpfern mit falschen Gewissheiten beantwortet werde. Es handelt sich, erfahren wir, um die Frage danach, ob Wissenschaft alles darf, insbesondere dann, wenn sie sich moralischer Kritik zu stellen hat. Der analytische Philosoph Henning argumentiert laut Weisbrod, dass Wissenschaft von moralischer Kritik zunächst tatsächlich nicht tangiert wird, da moralische Kritik mit kontingenten Kausalfolgen hantiert, die die wissenschaftlichen Fragen selbst nicht berühren. Als Beispiel führt Weisbrod mit Henning die These an, dass Intelligenz eine erbliche Komponente hat und schwarze Menschen gegenüber Weißen benachteiligt seien. Forschern, die so etwas behaupten, zu unterstellen, sie schürten Rassismus, führt nicht weit, meint Henning, eben weil eine solche Kausalfolge mit der wissenschaftlichen Fragestellung nichts zu tun hat. Daraus folgt jedoch nicht, dass Moral die Wissenschaft gar nicht tangiert, denn tatsächlich hat die Wissenschaft in den Augen des Autors die Pflicht, in politisch heiklen Fragen die eigene Argumentation besonders genau zu prüfen, eben weil die Forschung gesellschaftliche Auswirkungen hat, referiert der Kritiker. Diese These, die im Allgemeinen auf den Begriff "pragmatic encroachment" gebracht wird, ist nicht unumstritten, weiß Weisbrod, insgesamt jedoch ist die Konstellation von Wissenschaft und Moral, die in diesem Buch erörtert wird, seiner Meinung nach geeignet, kulturkämpferischen Verkürzungen heilsam entgegen zu wirken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2024Was kosten Irrtümer?
Wissenschaftsfreiheit und Moral im Streit: Tim Henning versucht eine philosophische Schlichtung
"Man darf nicht einmal mehr sagen, dass . . ." - So oder ähnlich beginnt seit Längerem schon manches Lamento über medialen "Mainstream" und über "Meinungskorridore", die die Freiheit der öffentlichen politischen Debatte angeblich einschränken. Immer öfter ist auch im Zusammenhang mit der Wissenschaftsfreiheit Vergleichbares zu vernehmen, wobei es in Universitäten und Forschungseinrichtungen nicht zuvörderst darum geht, Meinungen auszutauschen, sondern Argumente. Die Hieb- und Stichwörter sind bekannt: "Wokeness", "Cancel Culture" sowie das dienstältere "Political Correctness". In einer Situation, in der Gereiztheiten und Empfindlichkeiten das akademische Klima beeinträchtigen, lässt ein Buch des Philosophen Tim Henning aufhorchen, das mit analytischem Scharfsinn zu einer Entpolarisierung beitragen und eine Perspektive eröffnen möchte, in der "Wissenschaftsfreiheit und Moral", so sein Titel, einander nicht ausschließen. Das Ergebnis seines verzweigten Gedankengangs nimmt der an der Universität Mainz lehrende Autor in zwei gegenwendigen Merksätzen vorweg: "Wer bestimmte Formen moralischer Kritik an der Wissenschaft ablehnt, muss kein Feind der Moral sein. Und wer moralische Kritik übt, kann doch die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft achten."
In seinen einleitenden Überlegungen erinnert Henning an einen zuweilen unterbelichteten, aber nicht ganz unwichtigen Sachverhalt: In der Wissenschaft durfte noch nie "alles" gesagt werden. Wenn Wissenschaftler geltende methodische Standards nicht einhalten, wenn sie Behauptungen nur unzureichend belegen, müssen sie mit Kritik, mit der Ablehnung von Artikeln und Projektanträgen, mit dem Verlust ihrer akademischen Reputation rechnen - und also auch damit, nicht mehr zu Vorträgen eingeladen zu werden. Auf solche Spielregeln des Wissenschaftsbetriebs hinzuweisen bedeutet jedoch nicht, Denkverbote gutzuheißen oder einen Aktionismus zu billigen, der Wissenschaftsfreiheit mit Meinungsfreiheit verwechselt oder durch das Pochen auf Meinungsfreiheit auszuhebeln versucht.
Henning ist entschiedener Verfechter der Autonomie der Wissenschaft, und zwar einer denkbar weitgehenden, mit der die Rationalitätsstandards der akademischen Welt sich in die Gesellschaft hinein ausdehnen. Frei sollte demnach die wissenschaftliche Wahrheitsermittlung nicht nur von äußeren Beschränkungen und Gängelungen sein, sie sollte zudem "frei von verfehlten Maßstäben in der öffentlichen Kritik" sein. Wer eine wissenschaftliche These beurteile, dürfe sein Urteil ausschließlich davon abhängig machen, ob sie "den spezifischen Korrektheitsmaßstäben der Wissenschaft genügt" - und nicht etwa davon, ob sie moralischen Überzeugungen und weltanschaulichen Orientierungen entspreche oder widerspreche.
Wer moralische Präferenzen zu Prämissen der Beurteilung von Tatsachenbehauptungen macht, mithin Wunschdenken die Regie bei Wirklichkeitswahrnehmung und Wahrheitssuche führen lässt, begeht nach Henning einen "moralistischen Fehlschluss". Doch - und damit rückt seine Pointe in den Blick - nicht jeder moralisch argumentierenden Kritik wissenschaftlicher Thesen und Hypothesen müsse ein solcher Fehlschluss unterlaufen. Der Verteidiger einer quasi lupenreinen Autonomie der Wissenschaft erkundet, anders formuliert, die Möglichkeit legitimer moralischer Kritik an wissenschaftlich gewonnenen Forschungsresultaten. (Es stehen nur Resultate der Wissenschaften zur Diskussion, nicht deren Verfahren, denen ohnehin ethische Grenzen gesetzt werden, beispielsweise durch Vorschriften für Tierversuche, Forschung an Embryonen oder klinische Studien.)
Worauf könnte eine moralisch motivierte Kritik sich aber stützen, wenn sie - wie zitiert - nur die "spezifischen Korrektheitsmaßstäbe der Wissenschaft" anlegen dürfen soll? Diese Frage brächte nur diejenigen in Verlegenheit, die annehmen, dass moralische Maßstäbe den Prinzipien wissenschaftlichen Wissens gänzlich äußerlich seien. Wissenschaftliche Wahrheit und moralische Richtigkeit hätten, träfe diese Annahme zu, keinerlei Berührung. Henning hingegen ist der Ansicht, dass es Berührungspunkte gebe, "Punkte, an denen die Kriterien der Moral und der wissenschaftlichen Geltung koinzidieren". Das Zusammenfallen soll keine Sache des Zufalls sein, sondern sich aus "Faktoren" ergeben, die bei der wissenschaftlichen Begründung einer Behauptung - bei deren "epistemischer Rechtfertigung" - eine wichtige Rolle spielen und die "gleichzeitig moralisches Gewicht" haben können.
Der Autor denkt dabei an Kriterien für die Beantwortung der unumgänglichen Frage, wie "stark" Belege sein müssen, damit sie eine wissenschaftliche These rechtfertigen. Als Belege zählen für ihn "Daten oder Argumente, die für die Wahrheit einer Behauptung oder Überzeugung sprechen", sonst nichts. Die entscheidende Überlegung: Ob Belege hinreichend stark sind, um eine Behauptung zu begründen, könne nicht bestimmt werden, ohne auch die "praktischen Kosten" eines möglichen Irrtums zu berücksichtigen. Je gravierender die Irrtumsfolgen sein können, desto "belastbarer" müssen die Daten sein, unterliegt die Wahrheitsermittlung einer verschärften Sorgfaltspflicht. Man denke an die Entwicklung von Impfstoffen oder die Konstruktion von Atomreaktoren. Erweisen Daten, die als hinreichende Belege eingestuft wurden, sich als unzulänglich, so Henning, könne aus einer "wissenschaftlichen Fahrlässigkeit" angesichts der möglichen praktischen Folgen der Fehleinschätzung auch eine "moralische Fahrlässigkeit" werden. Weil sie die Wissenschaft an ihrem eigenen Maßstab messe, sei eine moralische Kritik in solchen Fällen eine "interne Kritik" - und darum auch legitim im Lichte eines strengen Prinzips von Wissenschaftsautonomie.
Obwohl diese interne Kritik sich im Innenraum wissenschaftlicher Rationalität bewegt, spricht Henning von einem "Schlupfloch" und "Einfallstor" - als käme sie von außen. Die sprachliche Ungereimtheit bringt womöglich eine Frage erneut aufs Tapet, deren Beantwortung er offenlässt: Machen die Prinzipien wissenschaftlicher Forschung oder vernünftigen Denkens von sich aus bereits so etwas wie eine moralische Verbindlichkeit geltend? Wie dem auch sein mag, das Angedeutete ist lediglich das Gerippe des Grundgedankens. Henning erprobt ihn an einschlägigen Beispielen, die es auf ganz andere Weise in sich haben als Atomreaktoren und Impfstoffe. Drei Thesen, deren wissenschaftliche Geltung ihre Verfechter reklamieren, bilden die konkreten Anwendungsfälle: "Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ." - "Der Begriff der Frau trifft nur auf biologisch weibliche Erwachsene zu." - "Neugeborene mit schweren Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten."
Wie die Prüfung der Thesen und der moralischen Kritik, die sie auf sich ziehen, jeweils ausgeht, sei nicht verraten. Die Lektüre lohnt - gerade weil sie durch erklärtermaßen "mitunter recht abstrakte Überlegungen" führt, in denen etwa die gedanklichen Voraussetzungen eines Arguments erläutert und mögliche Einwände gewichtet werden. Die Kunst des philosophischen Argumentierens hat eigene Standards der Genauigkeit und der Redlichkeit. Ob sich solche Standards auch in der selten wohltemperierten Sphäre öffentlicher Debatten entfalten können und ob auf diesem Wege der Streit zwischen Wissenschaftsfreiheit und Moral sich schlichten lassen könnte, wie Tim Henning wohl hofft, steht auf einem anderen Blatt. UWE JUSTUS WENZEL
Tim Henning: "Wissenschaftsfreiheit und Moral".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
319 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Wissenschaftsfreiheit und Moral im Streit: Tim Henning versucht eine philosophische Schlichtung
"Man darf nicht einmal mehr sagen, dass . . ." - So oder ähnlich beginnt seit Längerem schon manches Lamento über medialen "Mainstream" und über "Meinungskorridore", die die Freiheit der öffentlichen politischen Debatte angeblich einschränken. Immer öfter ist auch im Zusammenhang mit der Wissenschaftsfreiheit Vergleichbares zu vernehmen, wobei es in Universitäten und Forschungseinrichtungen nicht zuvörderst darum geht, Meinungen auszutauschen, sondern Argumente. Die Hieb- und Stichwörter sind bekannt: "Wokeness", "Cancel Culture" sowie das dienstältere "Political Correctness". In einer Situation, in der Gereiztheiten und Empfindlichkeiten das akademische Klima beeinträchtigen, lässt ein Buch des Philosophen Tim Henning aufhorchen, das mit analytischem Scharfsinn zu einer Entpolarisierung beitragen und eine Perspektive eröffnen möchte, in der "Wissenschaftsfreiheit und Moral", so sein Titel, einander nicht ausschließen. Das Ergebnis seines verzweigten Gedankengangs nimmt der an der Universität Mainz lehrende Autor in zwei gegenwendigen Merksätzen vorweg: "Wer bestimmte Formen moralischer Kritik an der Wissenschaft ablehnt, muss kein Feind der Moral sein. Und wer moralische Kritik übt, kann doch die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft achten."
In seinen einleitenden Überlegungen erinnert Henning an einen zuweilen unterbelichteten, aber nicht ganz unwichtigen Sachverhalt: In der Wissenschaft durfte noch nie "alles" gesagt werden. Wenn Wissenschaftler geltende methodische Standards nicht einhalten, wenn sie Behauptungen nur unzureichend belegen, müssen sie mit Kritik, mit der Ablehnung von Artikeln und Projektanträgen, mit dem Verlust ihrer akademischen Reputation rechnen - und also auch damit, nicht mehr zu Vorträgen eingeladen zu werden. Auf solche Spielregeln des Wissenschaftsbetriebs hinzuweisen bedeutet jedoch nicht, Denkverbote gutzuheißen oder einen Aktionismus zu billigen, der Wissenschaftsfreiheit mit Meinungsfreiheit verwechselt oder durch das Pochen auf Meinungsfreiheit auszuhebeln versucht.
Henning ist entschiedener Verfechter der Autonomie der Wissenschaft, und zwar einer denkbar weitgehenden, mit der die Rationalitätsstandards der akademischen Welt sich in die Gesellschaft hinein ausdehnen. Frei sollte demnach die wissenschaftliche Wahrheitsermittlung nicht nur von äußeren Beschränkungen und Gängelungen sein, sie sollte zudem "frei von verfehlten Maßstäben in der öffentlichen Kritik" sein. Wer eine wissenschaftliche These beurteile, dürfe sein Urteil ausschließlich davon abhängig machen, ob sie "den spezifischen Korrektheitsmaßstäben der Wissenschaft genügt" - und nicht etwa davon, ob sie moralischen Überzeugungen und weltanschaulichen Orientierungen entspreche oder widerspreche.
Wer moralische Präferenzen zu Prämissen der Beurteilung von Tatsachenbehauptungen macht, mithin Wunschdenken die Regie bei Wirklichkeitswahrnehmung und Wahrheitssuche führen lässt, begeht nach Henning einen "moralistischen Fehlschluss". Doch - und damit rückt seine Pointe in den Blick - nicht jeder moralisch argumentierenden Kritik wissenschaftlicher Thesen und Hypothesen müsse ein solcher Fehlschluss unterlaufen. Der Verteidiger einer quasi lupenreinen Autonomie der Wissenschaft erkundet, anders formuliert, die Möglichkeit legitimer moralischer Kritik an wissenschaftlich gewonnenen Forschungsresultaten. (Es stehen nur Resultate der Wissenschaften zur Diskussion, nicht deren Verfahren, denen ohnehin ethische Grenzen gesetzt werden, beispielsweise durch Vorschriften für Tierversuche, Forschung an Embryonen oder klinische Studien.)
Worauf könnte eine moralisch motivierte Kritik sich aber stützen, wenn sie - wie zitiert - nur die "spezifischen Korrektheitsmaßstäbe der Wissenschaft" anlegen dürfen soll? Diese Frage brächte nur diejenigen in Verlegenheit, die annehmen, dass moralische Maßstäbe den Prinzipien wissenschaftlichen Wissens gänzlich äußerlich seien. Wissenschaftliche Wahrheit und moralische Richtigkeit hätten, träfe diese Annahme zu, keinerlei Berührung. Henning hingegen ist der Ansicht, dass es Berührungspunkte gebe, "Punkte, an denen die Kriterien der Moral und der wissenschaftlichen Geltung koinzidieren". Das Zusammenfallen soll keine Sache des Zufalls sein, sondern sich aus "Faktoren" ergeben, die bei der wissenschaftlichen Begründung einer Behauptung - bei deren "epistemischer Rechtfertigung" - eine wichtige Rolle spielen und die "gleichzeitig moralisches Gewicht" haben können.
Der Autor denkt dabei an Kriterien für die Beantwortung der unumgänglichen Frage, wie "stark" Belege sein müssen, damit sie eine wissenschaftliche These rechtfertigen. Als Belege zählen für ihn "Daten oder Argumente, die für die Wahrheit einer Behauptung oder Überzeugung sprechen", sonst nichts. Die entscheidende Überlegung: Ob Belege hinreichend stark sind, um eine Behauptung zu begründen, könne nicht bestimmt werden, ohne auch die "praktischen Kosten" eines möglichen Irrtums zu berücksichtigen. Je gravierender die Irrtumsfolgen sein können, desto "belastbarer" müssen die Daten sein, unterliegt die Wahrheitsermittlung einer verschärften Sorgfaltspflicht. Man denke an die Entwicklung von Impfstoffen oder die Konstruktion von Atomreaktoren. Erweisen Daten, die als hinreichende Belege eingestuft wurden, sich als unzulänglich, so Henning, könne aus einer "wissenschaftlichen Fahrlässigkeit" angesichts der möglichen praktischen Folgen der Fehleinschätzung auch eine "moralische Fahrlässigkeit" werden. Weil sie die Wissenschaft an ihrem eigenen Maßstab messe, sei eine moralische Kritik in solchen Fällen eine "interne Kritik" - und darum auch legitim im Lichte eines strengen Prinzips von Wissenschaftsautonomie.
Obwohl diese interne Kritik sich im Innenraum wissenschaftlicher Rationalität bewegt, spricht Henning von einem "Schlupfloch" und "Einfallstor" - als käme sie von außen. Die sprachliche Ungereimtheit bringt womöglich eine Frage erneut aufs Tapet, deren Beantwortung er offenlässt: Machen die Prinzipien wissenschaftlicher Forschung oder vernünftigen Denkens von sich aus bereits so etwas wie eine moralische Verbindlichkeit geltend? Wie dem auch sein mag, das Angedeutete ist lediglich das Gerippe des Grundgedankens. Henning erprobt ihn an einschlägigen Beispielen, die es auf ganz andere Weise in sich haben als Atomreaktoren und Impfstoffe. Drei Thesen, deren wissenschaftliche Geltung ihre Verfechter reklamieren, bilden die konkreten Anwendungsfälle: "Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ." - "Der Begriff der Frau trifft nur auf biologisch weibliche Erwachsene zu." - "Neugeborene mit schweren Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten."
Wie die Prüfung der Thesen und der moralischen Kritik, die sie auf sich ziehen, jeweils ausgeht, sei nicht verraten. Die Lektüre lohnt - gerade weil sie durch erklärtermaßen "mitunter recht abstrakte Überlegungen" führt, in denen etwa die gedanklichen Voraussetzungen eines Arguments erläutert und mögliche Einwände gewichtet werden. Die Kunst des philosophischen Argumentierens hat eigene Standards der Genauigkeit und der Redlichkeit. Ob sich solche Standards auch in der selten wohltemperierten Sphäre öffentlicher Debatten entfalten können und ob auf diesem Wege der Streit zwischen Wissenschaftsfreiheit und Moral sich schlichten lassen könnte, wie Tim Henning wohl hofft, steht auf einem anderen Blatt. UWE JUSTUS WENZEL
Tim Henning: "Wissenschaftsfreiheit und Moral".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
319 S., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»... man [will] dieses Buch bei der Lektüre gar nicht mehr zur Seite legen, so sehr hat man sich danach gesehnt. Nach einem Buch, das eine der großen Gegenwartsfragen stellt, sie dem stumpfen Kulturkampf entreißt und stattdessen versucht, sie tatsächlich ernsthaft zu beantworten, statt sich bloß elegant und pointiert um eine Antwort herumzudrücken.« Lars Weisbrod DIE ZEIT 20241010