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Die Wissenschaftsfreiheit gilt vielerorts als bedroht von Moralismus, Denkverboten und Cancel Culture. Aber ist moralische Empörung angesichts bestimmter wissenschaftlicher Positionen - etwa zu Genetik und IQ, zu Geschlecht und Biologie oder zu Behinderung und Infantizid - immer ein ideologischer, sachfremder Versuch der Bevormundung? Oder gibt es legitime moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen? Der Philosoph Tim Henning geht diesen Fragen in seinem hochaktuellen und originellen Buch auf den Grund.
Einerseits verteidigt er eine strenge Auffassung von Wissenschaftsfreiheit: Die
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Produktbeschreibung
Die Wissenschaftsfreiheit gilt vielerorts als bedroht von Moralismus, Denkverboten und Cancel Culture. Aber ist moralische Empörung angesichts bestimmter wissenschaftlicher Positionen - etwa zu Genetik und IQ, zu Geschlecht und Biologie oder zu Behinderung und Infantizid - immer ein ideologischer, sachfremder Versuch der Bevormundung? Oder gibt es legitime moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen? Der Philosoph Tim Henning geht diesen Fragen in seinem hochaktuellen und originellen Buch auf den Grund.

Einerseits verteidigt er eine strenge Auffassung von Wissenschaftsfreiheit: Die Wissenschaft ist ein autonomer Bereich und sollte als solcher auch respektiert werden. Sie sollte sich allein an den Kriterien orientieren, die sich aus der immanenten Natur einer systematischen Wahrheitssuche ergeben - an Daten und Belegen, an wahr oder falsch. Andererseits betont er die Möglichkeit einer nichtmoralistischen moralischen Kritik. Ansatzpunkte hierfür finden sich im Innerendes vermeintlich reinen Bereichs wissenschaftlicher Kriterien, wie neuere Analysen aus Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie zeigen. Es sind die praktischen Kosten eines Irrtums, die sich als erkenntnistheoretisch und als moralisch relevant erweisen. Ob eine These wissenschaftlich haltbar ist, kann daher durchaus eine moralische Frage sein.
Autorenporträt
Tim Henning ist Professor für Praktische Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er forscht zu Fragen der Moralphilosophie, der Sprachphilosophie sowie zur Philosophie Immanuel Kants und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und der Gesellschaft für Analytische Philosophie. Für seine Forschungen wurde er u. a. mit dem Wolfgang-Stegmüller-Preis der Gesellschaft für Analytische Philosophie ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensent Lars Weisbrod langweilt sich ein bisschen bei der Lektüre dieses Buchs von Tim Hennings, das abstrakt daherkommt und möglicherweise etwas arg schnell ins Deutsche übersetzt wurde. Aber gleichzeitig hält Weisbrod es für ungemein wichtig, weil es eine Frage ernst nimmt, die ansonsten von Kulturkämpfern mit falschen Gewissheiten beantwortet werde. Es handelt sich, erfahren wir, um die Frage danach, ob Wissenschaft alles darf, insbesondere dann, wenn sie sich moralischer Kritik zu stellen hat. Der analytische Philosoph Henning argumentiert laut Weisbrod, dass Wissenschaft von moralischer Kritik zunächst tatsächlich nicht tangiert wird, da moralische Kritik mit kontingenten Kausalfolgen hantiert, die die wissenschaftlichen Fragen selbst nicht berühren. Als Beispiel führt Weisbrod mit Henning die These an, dass Intelligenz eine erbliche Komponente hat und schwarze Menschen gegenüber Weißen benachteiligt seien. Forschern, die so etwas behaupten, zu unterstellen, sie schürten Rassismus, führt nicht weit, meint Henning, eben weil eine solche Kausalfolge mit der wissenschaftlichen Fragestellung nichts zu tun hat. Daraus folgt jedoch nicht, dass Moral die Wissenschaft gar nicht tangiert, denn tatsächlich hat die Wissenschaft in den Augen des Autors die Pflicht, in politisch heiklen Fragen die eigene Argumentation besonders genau zu prüfen, eben weil die Forschung gesellschaftliche Auswirkungen hat, referiert der Kritiker. Diese These, die im Allgemeinen auf den Begriff "pragmatic encroachment" gebracht wird, ist nicht unumstritten, weiß Weisbrod, insgesamt jedoch ist die Konstellation von Wissenschaft und Moral, die in diesem Buch erörtert wird, seiner Meinung nach geeignet, kulturkämpferischen Verkürzungen heilsam entgegen zu wirken.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2024

Was kosten Irrtümer?
Wissenschaftsfreiheit und Moral im Streit: Tim Henning versucht eine philosophische Schlichtung

"Man darf nicht einmal mehr sagen, dass . . ." - So oder ähnlich beginnt seit Längerem schon manches Lamento über medialen "Mainstream" und über "Meinungskorridore", die die Freiheit der öffentlichen politischen Debatte angeblich einschränken. Immer öfter ist auch im Zusammenhang mit der Wissenschaftsfreiheit Vergleichbares zu vernehmen, wobei es in Universitäten und Forschungseinrichtungen nicht zuvörderst darum geht, Meinungen auszutauschen, sondern Argumente. Die Hieb- und Stichwörter sind bekannt: "Wokeness", "Cancel Culture" sowie das dienstältere "Political Correctness". In einer Situation, in der Gereiztheiten und Empfindlichkeiten das akademische Klima beeinträchtigen, lässt ein Buch des Philosophen Tim Henning aufhorchen, das mit analytischem Scharfsinn zu einer Entpolarisierung beitragen und eine Perspektive eröffnen möchte, in der "Wissenschaftsfreiheit und Moral", so sein Titel, einander nicht ausschließen. Das Ergebnis seines verzweigten Gedankengangs nimmt der an der Universität Mainz lehrende Autor in zwei gegenwendigen Merksätzen vorweg: "Wer bestimmte Formen moralischer Kritik an der Wissenschaft ablehnt, muss kein Feind der Moral sein. Und wer moralische Kritik übt, kann doch die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft achten."

In seinen einleitenden Überlegungen erinnert Henning an einen zuweilen unterbelichteten, aber nicht ganz unwichtigen Sachverhalt: In der Wissenschaft durfte noch nie "alles" gesagt werden. Wenn Wissenschaftler geltende methodische Standards nicht einhalten, wenn sie Behauptungen nur unzureichend belegen, müssen sie mit Kritik, mit der Ablehnung von Artikeln und Projektanträgen, mit dem Verlust ihrer akademischen Reputation rechnen - und also auch damit, nicht mehr zu Vorträgen eingeladen zu werden. Auf solche Spielregeln des Wissenschaftsbetriebs hinzuweisen bedeutet jedoch nicht, Denkverbote gutzuheißen oder einen Aktionismus zu billigen, der Wissenschaftsfreiheit mit Meinungsfreiheit verwechselt oder durch das Pochen auf Meinungsfreiheit auszuhebeln versucht.

Henning ist entschiedener Verfechter der Autonomie der Wissenschaft, und zwar einer denkbar weitgehenden, mit der die Rationalitätsstandards der akademischen Welt sich in die Gesellschaft hinein ausdehnen. Frei sollte demnach die wissenschaftliche Wahrheitsermittlung nicht nur von äußeren Beschränkungen und Gängelungen sein, sie sollte zudem "frei von verfehlten Maßstäben in der öffentlichen Kritik" sein. Wer eine wissenschaftliche These beurteile, dürfe sein Urteil ausschließlich davon abhängig machen, ob sie "den spezifischen Korrektheitsmaßstäben der Wissenschaft genügt" - und nicht etwa davon, ob sie moralischen Überzeugungen und weltanschaulichen Orientierungen entspreche oder widerspreche.

Wer moralische Präferenzen zu Prämissen der Beurteilung von Tatsachenbehauptungen macht, mithin Wunschdenken die Regie bei Wirklichkeitswahrnehmung und Wahrheitssuche führen lässt, begeht nach Henning einen "moralistischen Fehlschluss". Doch - und damit rückt seine Pointe in den Blick - nicht jeder moralisch argumentierenden Kritik wissenschaftlicher Thesen und Hypothesen müsse ein solcher Fehlschluss unterlaufen. Der Verteidiger einer quasi lupenreinen Autonomie der Wissenschaft erkundet, anders formuliert, die Möglichkeit legitimer moralischer Kritik an wissenschaftlich gewonnenen Forschungsresultaten. (Es stehen nur Resultate der Wissenschaften zur Diskussion, nicht deren Verfahren, denen ohnehin ethische Grenzen gesetzt werden, beispielsweise durch Vorschriften für Tierversuche, Forschung an Embryonen oder klinische Studien.)

Worauf könnte eine moralisch motivierte Kritik sich aber stützen, wenn sie - wie zitiert - nur die "spezifischen Korrektheitsmaßstäbe der Wissenschaft" anlegen dürfen soll? Diese Frage brächte nur diejenigen in Verlegenheit, die annehmen, dass moralische Maßstäbe den Prinzipien wissenschaftlichen Wissens gänzlich äußerlich seien. Wissenschaftliche Wahrheit und moralische Richtigkeit hätten, träfe diese Annahme zu, keinerlei Berührung. Henning hingegen ist der Ansicht, dass es Berührungspunkte gebe, "Punkte, an denen die Kriterien der Moral und der wissenschaftlichen Geltung koinzidieren". Das Zusammenfallen soll keine Sache des Zufalls sein, sondern sich aus "Faktoren" ergeben, die bei der wissenschaftlichen Begründung einer Behauptung - bei deren "epistemischer Rechtfertigung" - eine wichtige Rolle spielen und die "gleichzeitig moralisches Gewicht" haben können.

Der Autor denkt dabei an Kriterien für die Beantwortung der unumgänglichen Frage, wie "stark" Belege sein müssen, damit sie eine wissenschaftliche These rechtfertigen. Als Belege zählen für ihn "Daten oder Argumente, die für die Wahrheit einer Behauptung oder Überzeugung sprechen", sonst nichts. Die entscheidende Überlegung: Ob Belege hinreichend stark sind, um eine Behauptung zu begründen, könne nicht bestimmt werden, ohne auch die "praktischen Kosten" eines möglichen Irrtums zu berücksichtigen. Je gravierender die Irrtumsfolgen sein können, desto "belastbarer" müssen die Daten sein, unterliegt die Wahrheitsermittlung einer verschärften Sorgfaltspflicht. Man denke an die Entwicklung von Impfstoffen oder die Konstruktion von Atomreaktoren. Erweisen Daten, die als hinreichende Belege eingestuft wurden, sich als unzulänglich, so Henning, könne aus einer "wissenschaftlichen Fahrlässigkeit" angesichts der möglichen praktischen Folgen der Fehleinschätzung auch eine "moralische Fahrlässigkeit" werden. Weil sie die Wissenschaft an ihrem eigenen Maßstab messe, sei eine moralische Kritik in solchen Fällen eine "interne Kritik" - und darum auch legitim im Lichte eines strengen Prinzips von Wissenschaftsautonomie.

Obwohl diese interne Kritik sich im Innenraum wissenschaftlicher Rationalität bewegt, spricht Henning von einem "Schlupfloch" und "Einfallstor" - als käme sie von außen. Die sprachliche Ungereimtheit bringt womöglich eine Frage erneut aufs Tapet, deren Beantwortung er offenlässt: Machen die Prinzipien wissenschaftlicher Forschung oder vernünftigen Denkens von sich aus bereits so etwas wie eine moralische Verbindlichkeit geltend? Wie dem auch sein mag, das Angedeutete ist lediglich das Gerippe des Grundgedankens. Henning erprobt ihn an einschlägigen Beispielen, die es auf ganz andere Weise in sich haben als Atomreaktoren und Impfstoffe. Drei Thesen, deren wissenschaftliche Geltung ihre Verfechter reklamieren, bilden die konkreten Anwendungsfälle: "Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ." - "Der Begriff der Frau trifft nur auf biologisch weibliche Erwachsene zu." - "Neugeborene mit schweren Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten."

Wie die Prüfung der Thesen und der moralischen Kritik, die sie auf sich ziehen, jeweils ausgeht, sei nicht verraten. Die Lektüre lohnt - gerade weil sie durch erklärtermaßen "mitunter recht abstrakte Überlegungen" führt, in denen etwa die gedanklichen Voraussetzungen eines Arguments erläutert und mögliche Einwände gewichtet werden. Die Kunst des philosophischen Argumentierens hat eigene Standards der Genauigkeit und der Redlichkeit. Ob sich solche Standards auch in der selten wohltemperierten Sphäre öffentlicher Debatten entfalten können und ob auf diesem Wege der Streit zwischen Wissenschaftsfreiheit und Moral sich schlichten lassen könnte, wie Tim Henning wohl hofft, steht auf einem anderen Blatt. UWE JUSTUS WENZEL

Tim Henning: "Wissenschaftsfreiheit und Moral".

Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.

319 S., geb., 30,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2024

Raus aus
der Sackgasse
Der Mainzer Philosoph Tim Henning glaubt,
dass man eine wissenschaftliche These moralisch
ablehnen kann, ohne dabei unwissenschaftlich zu sein.
VON DANIEL-PASCAL ZORN
Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei, so steht es im Grundgesetz. Das Postulat ist ein Abwehrrecht gegen staatliche Einschränkungen. Es steht aber auch jenseits des rein juristischen Kontextes für eine notwendige Bedingung von Wissenschaft selbst: Sie kann nur Wissenschaft sein, wenn sie ihre Kriterien aus ihr selbst gewinnt. Wird Wissenschaft politischen Weltanschauungen, moralischen Wertvorstellungen oder Nutzenkalkülen unterworfen, ist für sie die Wahrheit, die sie methodisch zu ermitteln versucht, bereits vorgeschrieben. Das Postulat der Wissenschaftsfreiheit wehrt damit nicht nur staatliche Beeinflussung ab, sondern garantiert überhaupt erst Wissenschaft als Wissenschaft.
So weit die Ebene der Prinzipien. In der Realität sieht sich Wissenschaft seit jeher verschiedensten Formen der Beeinflussung und Instrumentalisierung ausgesetzt. Es ist – ironischerweise – ihr Status als methodisch reflektierte Urteilsform, die sie attraktiv macht als Instanz der Autorisierung, für Weltanschauungen, Wertvorstellungen und Nutzenkalküle. Wissenschaftliche Forschung ist zum größten Teil staatlich finanziert und damit immer auch gelenkt – wo sie es nicht ist, verkommt sie nicht selten zu Forschungs- und Entwicklungsabteilungen oder Politikberatungsagenturen. Wissenschaftliche Forscher und Forscherinnen sind keine Maschinen, sondern Menschen, die Werturteile fällen und Weltanschauungen vertreten, sich an Paradigmen orientieren und sich dem Mainstream anpassen.
Wie sich Wahrheit, Wert und Nutzen in der Wissenschaft zueinander verhalten, gehört zu den ältesten Streitpunkten der deutschen Akademie, vom Werturteilsstreit Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur aktuellen Debatte um eine „Transformative Wissenschaft“, die sich selbst zum Akteur von gesellschaftlichen Veränderungen macht. Die Frage der ethischen Verantwortung der Wissenschaft hat, ausgehend vom Missbrauch der Wissenschaften im NS-Regime und dem atomaren Schrecken der Nachkriegszeit, Disziplinen wie die Technikfolgenabschätzung und die Wissenschaftsethik hervorgebracht.
Katastrophen wie Tschernobyl haben dem Fortschritt das Risiko entgegengesetzt und die Autorität der Wissenschaft zweifelhaft gemacht. Jede weitere Krise stellt den Glauben an den Fortschritt infrage und fordert ihn heraus. Je komplexer die Welt, so erscheint es, desto unsicherer das wissenschaftliche Urteil – statt gesicherten Fakten und Evidenzen scheint es nur mehr oder weniger sichere Wahrscheinlichkeiten zu geben.
Diese Unsicherheit der Wissenschaft macht sie einerseits instrumentalisierbar. Die „Corona-Krise“ etwa hat gezeigt, wie Wissenschaft von verschiedenen Seiten für handfeste Eingriffe in das gesellschaftliche Leben vereinnahmt wurde, sei es für Vorsichtsmaßnahmen, sei es für Lockerungen. Und im öffentlichen Diskurs ist die Berufung auf Wissenschaft sowieso vor allem Autoritätsargument – wenn nicht gleich ihre Indienststellung oder sogar ihre Abschaffung gefordert wird. Nicht zuletzt ist ihre Popularisierung eine der größten Bedrohungen für die Freiheit der Wissenschaft.
Auf der anderen Seite lässt die Krise der wissenschaftlichen Autorität auch die Wissenschaftstheorie nicht unbeeindruckt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten lässt sich, vor allem im angelsächsischen Diskurs, ein Paradigmenwechsel wahrnehmen, von der Logik – Induktion, Deduktion, Abduktion – zur Statistik. Dort, wo wissenschaftliche Prinzipienfragen verhandelt werden, haben Methoden der Sozialwissenschaften und der praktischen Philosophie Einzug gehalten. Erkenntnistheoretisch ist Skeptizismus schwer in Mode.
Dem Problem, dass Wissenschaft an moralischen Wertvorstellungen gemessen wird, hat der Mainzer Philosophie-Professor Tim Henning nun ein ganzes Buch gewidmet: „Wissenschaftsfreiheit und Moral“. Er fragt darin: „Kann es berechtigt sein, wissenschaftliche Thesen aus moralischen Gründen abzulehnen?“ Unmittelbarer Hintergrund für diese Frage ist ein teils wissenschaftlicher, teils politischer Streit, der unter anderem vom 2020 gegründeten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, einem Verein, der provokante Einladungen und Äußerungen an Universitäten als freiheitliches Grundrecht verteidigt, teils wissenschaftlich, teils in der Öffentlichkeit geführt wird. Wissenschaft, so will das „Netzwerk“ beobachtet haben, soll „zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden“. Das gelte nicht nur für die Forscherinnen und Forscher selbst, sondern auch für Einladungen von Gastrednerinnen und Gastrednern.
Henning nähert sich seiner Frage mithilfe von drei Beispielen, die er durchgehend als wissenschaftliche Argumente behandelt, die aber eigentlich ihrerseits hybride Äußerungen von Wissenschaftlern in der Öffentlichkeit darstellen: die Behauptung des umstrittenen Sachbuchs „The Bell Curve“ von Charles Murray und Richard Herrnstein, „Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ“; die Behauptung der Philosophin Kathleen Stock, „Der Begriff der Frau trifft nur auf biologisch weibliche Erwachsene zu“; und schließlich eine These des australischen Philosophen Peter Singer, „Neugeborene mit schweren Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten“. Die Beispiele sollen das Problem verdeutlichen: Reagiert man auf sie mit moralischer Empörung oder widerlegt man sie rein wissenschaftlich? Beides bringt ein je eigenes Problem mit sich, vor das man als Wissenschaftler – siehe oben die gesellschaftliche Situation der Wissenschaft – nicht gerne gestellt wird: Reagiert man moralisch, verrät man die Wissenschaft. Reagiert man wissenschaftlich, erweckt man den Eindruck, den moralischen Kompass verloren zu haben. Ein Dilemma. Henning sieht es, will aber nicht damit leben, sondern die Verzwicktheit auflösen, und behauptet: Es gibt eine Möglichkeit, wissenschaftliche Thesen moralisch abzulehnen, ohne dabei unwissenschaftlich zu sein. Hat er damit recht, wäre Großes geschafft. Aber hat er recht?
Um das zu klären, muss man nicht nur etwas tiefer in die Begründung des Arguments eindringen, als es in einer Zeitungsrezension für ein allgemeines Publikum üblich ist. Man muss auch berücksichtigen, aus welcher philosophischen Schule Henning kommt: aus der sogenannten analytischen Philosophie, einem Re-Import aus dem Angelsächsischen. Für die erste Orientierung nur so viel: Die analytische Philosophie nimmt für sich in Anspruch, philosophische Fragen „wissenschaftlicher“, also formal kontrollierter zu bearbeiten als die herkömmliche philosophische Philosophie, die historischer und weniger formalistisch argumentiert.
Zurück zu Hennings Behauptung, die – wenn sie stimmt – ein echter Coup wäre: Wie kann man also eine wissenschaftliche These moralisch ablehnen, ohne dabei unwissenschaftlich zu sein?
Für die Begründung seiner These behauptet Henning, dass die „Irrtumskosten“ einer wissenschaftlichen Behauptung schon zur genuin wissenschaftlichen, nicht erst zur moralischen Dimension dieser Behauptung gehören. Irrtumskosten sind „praktische Kosten, die drohen, wenn wir nach einer Hypothese handeln, und sie falsch ist“. Was kostet also etwa der Irrtum, eine Gesellschaft nach der Maßgabe auszurichten, dass der Intelligenzquotient über Vererbung an die Hautfarbe geknüpft ist? Solche Kosten werden wissenschaftlich, so Henning, dadurch relevant, dass sie eine Beleglage entscheidbar machen, die erkenntnistheoretisch nicht abschließend entscheidbar ist. Hennings Modell für wissenschaftliche Forschung ist dementsprechend: Wissenschaftler wägen die Anzahl der Belege für und gegen eine Hypothese gegeneinander ab. Ist die Beleglage unentscheidbar, entscheiden die Irrtumskosten. Wenn dieselben Irrtumskosten zugleich ein moralisches Urteil rechtfertigen, so Henning, dann funktioniert eine moralische Kritik der Irrtumskosten „auch unabhängig, als epistemische Kritik“.
Hennings Argumentationshorizont ist gänzlich bestimmt von angelsächsischen Versionen des Werturteilsstreits, des erkenntnistheoretischen Skeptizismus und von der durchgehend psychologisierenden Beschreibung moralischer und erkenntnislogischer Zusammenhänge. In der Diskussion der angelsächsischen Schule drücken wissenschaftliche Aussagen nicht mehr einfache Tatsachen aus, sondern bloß mehr oder weniger wahrscheinliche Sachverhalte, auch ihre Vorhersage ist allgemein risikobehaftet. Der Wahrheitsbegriff der positiven Wissenschaften gilt hier als problematisch, die klassische Erkenntnistheorie als widerlegt. So eigentümlich die Prämissen dieser Denkschule sind, so selektiv geht man dort mit der Forschung um: Der deutsche Werturteilsstreit zum Beispiel, der die von Henning behandelte Problemstellung in einer ein Jahrhundert überspannenden Diskussion behandelt, spielt ebenso wenig eine Rolle wie die aus ihm hervorgegangenen Forschungen zur Technikfolgenabschätzung oder zur Wissenschaftsethik.
Leider gelingt es Henning trotz – oder vielleicht auch wegen – dieser Indienstnahme von angelsächsischer Gelehrsamkeit nicht, seine These schlüssig zu begründen. Seine Argumentation funktioniert als Autosuggestion. Dazu trägt auch die mehrdeutige Verwendung zentraler Begriffe wie „epistemisch“ oder „praktisch“ bei, durch die die zu beweisende These im Zirkel teilweise vorausgesetzt wird. Auch die wichtige Frage, ob Wissenschaft denn wirklich so arbeitet, wie es sich die angelsächsische Diskussion vorstellt, wird nicht überzeugend abgewehrt: Natürlich muss etwa die Krebsforschung aus sachlichen Gründen mögliche Folgen ihrer Medikamente bedenken. Das liegt aber in der Sache begründet und gilt nicht in gleicher Weise für die Festkörperphysik, die Botanik oder die historische Erforschung der spätmittelalterlichen Stadt. Henning nennt auch kein einziges Beispiel, in dem die „Irrtumskosten“ tatsächlich „als rein epistemische Kritik“ funktionieren – entweder gibt er Beispiele aus dem Alltag, die keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben, oder Beispiele, in denen die wissenschaftliche Beurteilung abgeschlossen ist und die moralische Bewertung eines Handelns nach dieser Beurteilung befragt wird, oder extreme Beispiele, die sich nicht für „die Wissenschaft“ verallgemeinern lassen.
Trotz dieser Argumentationsprobleme ist Hennings Buch kein Fehlschlag. Erstens bestätigt Henning in manchen Passagen Grundeinsichten der Technikfolgenabschätzung und der Wissenschaftsethik: Wissenschaft ist immer gesellschaftlich eingebunden, und diese Einbindung verpflichtet sie auf eine Beurteilung ihrer Inhalte über ihren rein wissenschaftlichen Anspruch hinaus. Zweitens zeigt Hennings scheiterndes Argument wichtige Sackgassen der erkenntnistheoretischen Diskussion auf. Schließlich greift er am Ende des Buches selbst auf dasjenige Kriterium zurück, das Wissenschaftsfreiheit zur notwendigen Bedingung von Wissenschaft macht: die wissenschaftliche Methode. Sie ist es, die den Wissenschaftler dazu verpflichtet, seine Skepsis nicht nur auf den Gegenstand, sondern auch gegen sich selbst zu richten. So kommt die Wissenschaft am Ende doch mit sich ins Reine.
Wissenschaftler sollten
Skepsis auch gegen sich
selbst richten
Tim Henning wurde 1976 geboren und ist Philosophie-Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Foto: Universität Mainz
Wissenschaftler demonstrieren 2017 in Boston gegen die Trump-Regierung.
Foto: Steven Senne / dpa
Tim Henning: Wissenschaftsfreiheit und Moral.
Suhrkamp, Berlin 2024.
319 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»... man [will] dieses Buch bei der Lektüre gar nicht mehr zur Seite legen, so sehr hat man sich danach gesehnt. Nach einem Buch, das eine der großen Gegenwartsfragen stellt, sie dem stumpfen Kulturkampf entreißt und stattdessen versucht, sie tatsächlich ernsthaft zu beantworten, statt sich bloß elegant und pointiert um eine Antwort herumzudrücken.« Lars Weisbrod DIE ZEIT 20241010