1967 und 1974 veröffentlichte Julien Gracq zwei Bände mit dem Titel Lettrines, deren erster Band 2001 deutsch bei Droschl erschien; der zweite wird jetzt vorgelegt.Diese Witterungen, wie ihr deutscher Titel nun lautet, sind Meisterwerke der reflektierenden Literatur des 20. Jahrhunderts, geschrieben von einem Einzelgänger und Außenseiter, der schon zu Lebzeiten mit der Aufnahme seines relativ schmalen Werks in die Bibliothèque de la Pléiade zum unumstrittenen Klassiker geworden ist. Unumstritten: dem Zauber von Gracqs Sprache kann sich niemand entziehen. Seine Genauigkeit, seine stilistische Schärfe, die Lebendigkeit und Ungewöhnlichkeit seiner Metaphern - von Dieter Hornig wieder vorzüglich ins Deutsche gebracht - machen ihn zum 'vielleicht prägnantesten Stilisten des zwanzigsten Jahrhunderts und einem der besten Autoren der französischen Moderne' (FAZ). Erst spät konnte sich Gracq auch bei uns etablieren, obwohl seine Beziehungen zu Deutschland intensiv, kenntnisreich und von skeptischer Zuneigung sind. Insbesondere sein Naturverständnis verbindet ihn auch mit der deutschen Romantik. In Witterungen II finden sich Natur- und Landschaftsschilderungen von so magischer Schönheit, wie sie die Betrachtungen und Erzählungen dieses Autors immer schon durchdrungen haben. Als Reiseziele kommen die USA und Skandinavien neu hinzu.Darüber hinaus enthält dieser Band Erinnerungen an seinen Vater, an die Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg, an frühere Lektüren und Filme, an Gelesenes und Gesehenes - immer in dieser unvergleichlichen Gracq'schen Gleichzeitigkeit von Präzision und Imagination.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2005Für jedes Buch wird bezahlt
Der Anarchist im Klassiker: Impromptus von Julien Gracq
Seinen letzten Roman publizierte Julien Gracq mit einundvierzig Jahren, seine letzte Erzählung mit sechsundsechzig. Heute ist er fünfundneunzig. Das Verstummen dieses Autors war, anders als bei dem auch im hier vorliegenden Band gern zitierten Rimbaud, nicht spektakulär, nicht programmatisch, nicht gestisch, nicht existentiell, sondern eine Form des Weitersprechens: ein Murmeln, laut Denken, öffentliches Tagebuchführen ohne Datierung, ein Rückzug in Worten. Diese "Witterungen II", im Original 1974 als "Lettrines II" erschienen, sind Teil dieser schreibenden Rückzugsbewegung. Wie der auf deutsch vor vier Jahren erschienene Vorgängerband enthält auch dieser wiederum subtile Landschafts- und Literaturbetrachtungen, einzelne Kindheitserinnerungen, Anmerkungen zur Epoche. Und an einer Stelle ist von den nie geschriebenen Büchern mancher Autoren die Rede: nicht romantisch im Sinne von ungeborgenen Schätzen, sondern sachlich als Frage des Energiehaushalts.
Das Austrocknen mancher vollendeter, abgeschlossener Schriftsteller im Alter wie Goethe oder Claudel sei ihm durch eine eigene Erfahrung verständlich geworden, schreibt Gracq. Die achtzehn Jahre lang so lebendig gebliebene Erinnerung an den Krieg von 1940 sei ihm nach Vollendung des Buchs "Ein Balkon im Wald" plötzlich grau und gleichgültig geworden. Das Buch habe sie mitgenommen - "und nach ihm ist die Erinnerung nicht nachgewachsen". Mit sicherer Hand, mutmaßt der Autor, hätten Goethe, Claudel und sonst einige an den richtigen Stellen gebohrt und sachkundig die Quellen der Tieflagen für ihre Gärten ausgeschöpft. Andere Werkfelder, zu denen sie nicht vorgedrungen waren, hätten gewiß bis zuletzt auch noch bestellt werden können, doch nicht mit jenen Wassern. So blieben sie ungeschaffen.
Er selbst sei stets davon ausgegangen, daß jedes Buch vom Schriftsteller in harter Währung bezahlt werden muß, schreibt Gracq. Deshalb hat er so wenige publiziert. Das Werk dieses Meisters der französischen Gegenwartsliteratur umfaßt drei große Romane, zwei aus der Moderne nicht mehr wegzudenkende Erzählungen, eine Sammlung grandioser Novellen, ein denkwürdiges Pamphlet, eine Studie über André Breton, ein Theaterstück, einen Gedichtband, eine Übersetzung von Kleists "Penthesilea". Der Rest sind Notate, Stenogramme, Meditationen wie in dem hier vorliegenden Band: Spuren von ausgedehnten Wanderungen durch geistige und geographische Landschaftsräume, Stoff für ungezählte ungeschriebene Bücher, von Dieter Hornig seit einigen Jahren hervorragend übersetzt und im Droschl-Literaturverlag vorbildlich ediert.
Anders als im vorhergehenden Band sind die Aufzeichnungen hier in lose Themengruppen zusammengefaßt. Die Überschriften wie "Wege und Straßen", "Literatur", "Amerika", "Europa" täuschen aber nur sehr vordergründig eine thematische Abgrenzung dessen vor, was in der feinen Wahrnehmung des genialen Querfeldeingängers Gracq seine eigene innere Ordnung hat. Die knisternde Originalität dieser Betrachtungen entsteht aus der durchgehenden Distanziertheit des Blicks, mag er nun auf innere Bewußtseinsprozesse, auf Landschaften, Denkmäler, Umwelt, historische Ereignisse oder die klassische Literatur gerichtet sein.
Langzeitgeschichte durchweht die flüchtigste Einzelbeobachtung. Der winterlich graue Pariser Hügel Sainte-Geneviève, auf dem Gracq seine Studienjahre verbrachte, flacht mit den Jahren zur geplätteten Akropolis, ja zum geklitterten Rom ab, halb antik, halb jesuitisch. Avignon bringt dem Besucher statt der Verheißung auf üppiges Renaissance nur den Geist von Cluny mit seinem klösterlichen Papsttum und seiner mönchischen Miliz - der Papstpalast: eine "Kasematte des Gebets". Der Kardinalspalast des Bachius im nahen Carpentras prangt dagegen wie ein "Bordell für Beter". Aus solchen Beobachtungen werden topographische Züge von Gracqs Geisteslandschaft sichtbar, manchmal nicht unähnlich zu dem von Gracq geschätzten Ernst Jünger. Die ab 1942 immer wieder durchwanderten Landstriche der besetzten Normandie um Caen - "Nichts war so frei, offen und einladend für den Wanderer wie die Straßen des besetzten Frankreich" - breiten im Sommer 1944 ihre dürren und ungeschützten Ebenen aus, als wollten sie die Panzer und Flugzeuge anlocken, die dann auch kamen.
Mag Julien Gracq, um nicht vom Literaturbetrieb abhängig zu werden, bis zur Pensionierung seinen Lehrerdienst am Pariser Gymnasium abgeleistet haben, blieb er in seiner etwas steifen Formkorrektheit den Zeitmoden fern. Die ostentative Schlampigkeit der Hippies mißfiel ihm. Fährt er aber im Auto auf der Landstraße an ihnen vorbei, wie sie da im Schmutz und Lärm duldsam auf einen Anhalter warten, fühlt er sich ihnen doch "dunkel verbunden": Gegenüber der Bequemlichkeit als letzter Gesellschaftsutopie haben sie, so denkt er, eine Vision.
Wohl war ihm schon im Monat Mai 1968 auch nichts als kühles Regenwetter, eine schweigsame, besorgt hastige Pariser Stadtbevölkerung und keine Spur von elektrischer Revolutionsstimmung aufgefallen. Beim Lesen der Zeitungsmeldung, daß nach dem Tod de Gaulles in der Kirche von Colombey sämtliche randvollen Opferstöcke aufgebrochen worden seien, kommt ihm aber doch unwillkürlich das Lächeln: "Plötzlich bemerkt man den Funken Geistesgegenwart, die bewundernswert objektive Gewitztheit, die manche an den Tag legen müssen, um zu überleben." Hinter dem Klassiker steht in Sichtweite stets der Anarchist.
Er steht im Jahrhundert wie ein durchreisender Moralist aus dem Grand Siècle: kaum verwundert. Die Fernsehübertragung von der Mondlandung hat für ihn statt von Science-fiction eher etwas von einem alten Cocteau-Film - kurioses Herumhüpfen zwischen Fahrzeugbeinen und Fahnenstange im engen Bildhorizont, wie vor einem schäbigen Wohnwagen am Rand eines Elendsquartiers, das von himmlischen Lumpensammlern inspiziert wird. Diese Entrücktheit des Blicks führt jedoch keineswegs zu blutleerer Selbstauslöschung des Ich im Pathos der Distanz. Gegen Paul Valérys Eigenaufforderung, "ruhig zu bleiben und kühl zu betrachten", um der Dauerhaftigkeit des Universums im Sinne Pascals gewachsen zu sein, wendet der Autor ein, das sei die postume Ruhe und Kühle von Friedhöfen. Gracqs immense Größe hat damit zu tun, daß sein Weltblick stets den Pappelgeruch von den herbstlichen Loire-Wiesen bei Saint-Florent in sich trug.
JOSEPH HANIMANN
Julien Gracq: "Witterungen II". Aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz, 2005. 197 S., br., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Anarchist im Klassiker: Impromptus von Julien Gracq
Seinen letzten Roman publizierte Julien Gracq mit einundvierzig Jahren, seine letzte Erzählung mit sechsundsechzig. Heute ist er fünfundneunzig. Das Verstummen dieses Autors war, anders als bei dem auch im hier vorliegenden Band gern zitierten Rimbaud, nicht spektakulär, nicht programmatisch, nicht gestisch, nicht existentiell, sondern eine Form des Weitersprechens: ein Murmeln, laut Denken, öffentliches Tagebuchführen ohne Datierung, ein Rückzug in Worten. Diese "Witterungen II", im Original 1974 als "Lettrines II" erschienen, sind Teil dieser schreibenden Rückzugsbewegung. Wie der auf deutsch vor vier Jahren erschienene Vorgängerband enthält auch dieser wiederum subtile Landschafts- und Literaturbetrachtungen, einzelne Kindheitserinnerungen, Anmerkungen zur Epoche. Und an einer Stelle ist von den nie geschriebenen Büchern mancher Autoren die Rede: nicht romantisch im Sinne von ungeborgenen Schätzen, sondern sachlich als Frage des Energiehaushalts.
Das Austrocknen mancher vollendeter, abgeschlossener Schriftsteller im Alter wie Goethe oder Claudel sei ihm durch eine eigene Erfahrung verständlich geworden, schreibt Gracq. Die achtzehn Jahre lang so lebendig gebliebene Erinnerung an den Krieg von 1940 sei ihm nach Vollendung des Buchs "Ein Balkon im Wald" plötzlich grau und gleichgültig geworden. Das Buch habe sie mitgenommen - "und nach ihm ist die Erinnerung nicht nachgewachsen". Mit sicherer Hand, mutmaßt der Autor, hätten Goethe, Claudel und sonst einige an den richtigen Stellen gebohrt und sachkundig die Quellen der Tieflagen für ihre Gärten ausgeschöpft. Andere Werkfelder, zu denen sie nicht vorgedrungen waren, hätten gewiß bis zuletzt auch noch bestellt werden können, doch nicht mit jenen Wassern. So blieben sie ungeschaffen.
Er selbst sei stets davon ausgegangen, daß jedes Buch vom Schriftsteller in harter Währung bezahlt werden muß, schreibt Gracq. Deshalb hat er so wenige publiziert. Das Werk dieses Meisters der französischen Gegenwartsliteratur umfaßt drei große Romane, zwei aus der Moderne nicht mehr wegzudenkende Erzählungen, eine Sammlung grandioser Novellen, ein denkwürdiges Pamphlet, eine Studie über André Breton, ein Theaterstück, einen Gedichtband, eine Übersetzung von Kleists "Penthesilea". Der Rest sind Notate, Stenogramme, Meditationen wie in dem hier vorliegenden Band: Spuren von ausgedehnten Wanderungen durch geistige und geographische Landschaftsräume, Stoff für ungezählte ungeschriebene Bücher, von Dieter Hornig seit einigen Jahren hervorragend übersetzt und im Droschl-Literaturverlag vorbildlich ediert.
Anders als im vorhergehenden Band sind die Aufzeichnungen hier in lose Themengruppen zusammengefaßt. Die Überschriften wie "Wege und Straßen", "Literatur", "Amerika", "Europa" täuschen aber nur sehr vordergründig eine thematische Abgrenzung dessen vor, was in der feinen Wahrnehmung des genialen Querfeldeingängers Gracq seine eigene innere Ordnung hat. Die knisternde Originalität dieser Betrachtungen entsteht aus der durchgehenden Distanziertheit des Blicks, mag er nun auf innere Bewußtseinsprozesse, auf Landschaften, Denkmäler, Umwelt, historische Ereignisse oder die klassische Literatur gerichtet sein.
Langzeitgeschichte durchweht die flüchtigste Einzelbeobachtung. Der winterlich graue Pariser Hügel Sainte-Geneviève, auf dem Gracq seine Studienjahre verbrachte, flacht mit den Jahren zur geplätteten Akropolis, ja zum geklitterten Rom ab, halb antik, halb jesuitisch. Avignon bringt dem Besucher statt der Verheißung auf üppiges Renaissance nur den Geist von Cluny mit seinem klösterlichen Papsttum und seiner mönchischen Miliz - der Papstpalast: eine "Kasematte des Gebets". Der Kardinalspalast des Bachius im nahen Carpentras prangt dagegen wie ein "Bordell für Beter". Aus solchen Beobachtungen werden topographische Züge von Gracqs Geisteslandschaft sichtbar, manchmal nicht unähnlich zu dem von Gracq geschätzten Ernst Jünger. Die ab 1942 immer wieder durchwanderten Landstriche der besetzten Normandie um Caen - "Nichts war so frei, offen und einladend für den Wanderer wie die Straßen des besetzten Frankreich" - breiten im Sommer 1944 ihre dürren und ungeschützten Ebenen aus, als wollten sie die Panzer und Flugzeuge anlocken, die dann auch kamen.
Mag Julien Gracq, um nicht vom Literaturbetrieb abhängig zu werden, bis zur Pensionierung seinen Lehrerdienst am Pariser Gymnasium abgeleistet haben, blieb er in seiner etwas steifen Formkorrektheit den Zeitmoden fern. Die ostentative Schlampigkeit der Hippies mißfiel ihm. Fährt er aber im Auto auf der Landstraße an ihnen vorbei, wie sie da im Schmutz und Lärm duldsam auf einen Anhalter warten, fühlt er sich ihnen doch "dunkel verbunden": Gegenüber der Bequemlichkeit als letzter Gesellschaftsutopie haben sie, so denkt er, eine Vision.
Wohl war ihm schon im Monat Mai 1968 auch nichts als kühles Regenwetter, eine schweigsame, besorgt hastige Pariser Stadtbevölkerung und keine Spur von elektrischer Revolutionsstimmung aufgefallen. Beim Lesen der Zeitungsmeldung, daß nach dem Tod de Gaulles in der Kirche von Colombey sämtliche randvollen Opferstöcke aufgebrochen worden seien, kommt ihm aber doch unwillkürlich das Lächeln: "Plötzlich bemerkt man den Funken Geistesgegenwart, die bewundernswert objektive Gewitztheit, die manche an den Tag legen müssen, um zu überleben." Hinter dem Klassiker steht in Sichtweite stets der Anarchist.
Er steht im Jahrhundert wie ein durchreisender Moralist aus dem Grand Siècle: kaum verwundert. Die Fernsehübertragung von der Mondlandung hat für ihn statt von Science-fiction eher etwas von einem alten Cocteau-Film - kurioses Herumhüpfen zwischen Fahrzeugbeinen und Fahnenstange im engen Bildhorizont, wie vor einem schäbigen Wohnwagen am Rand eines Elendsquartiers, das von himmlischen Lumpensammlern inspiziert wird. Diese Entrücktheit des Blicks führt jedoch keineswegs zu blutleerer Selbstauslöschung des Ich im Pathos der Distanz. Gegen Paul Valérys Eigenaufforderung, "ruhig zu bleiben und kühl zu betrachten", um der Dauerhaftigkeit des Universums im Sinne Pascals gewachsen zu sein, wendet der Autor ein, das sei die postume Ruhe und Kühle von Friedhöfen. Gracqs immense Größe hat damit zu tun, daß sein Weltblick stets den Pappelgeruch von den herbstlichen Loire-Wiesen bei Saint-Florent in sich trug.
JOSEPH HANIMANN
Julien Gracq: "Witterungen II". Aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz, 2005. 197 S., br., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Julien Gracq sei in Frankreich längst ein Klassiker, und das, obwohl er 1951 den Prix Goncourt für seinen ersten und letzten Roman "Das Ufer der Syrten" ablehnte, und mit seiner Poetologie eine Art Antipode zu anderen Klassikern der französischen Moderne sei. Auch Proust bekomme Contra: "Die Erinnerung wartet nicht darauf wieder erweckt zu werden", zitiert Rezensent Mirko Bonne den Autor.Folglich schreibe Gracq seit 1951 nur noch Notate, in denen alles und jedes nebeneinander Platz finde, "Natur, Alltag und Künste". "Witterungen II" sei der zweite der beiden Bände von Gracqs "Meisterwerk" von 1967 und 1974. Als ehemaliger Gymnasiallehrer hege der "Dichter" eine Vorliebe für Geografie und Geschichte, und der Rezensent umschreibt sein dichterisches Interesse als "Erkundungen in Raum und Zeit". Begeistert zeigt sich Bonne von der frischen Kraft, die "Analogie und Metapher" in den Notaten entfalten und gibt einige Beispiele für Gracqs Kunst der Vernetzung von "Imagination, Wahrnehmung und Lektüre".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2005Ein Geruch, zwei Ortsnamen
Im Trümmerfloragestrüpp: Julien Gracqs „Witterungen II”
Kurz vor der Mündung der Loire ins Meer liegt St. Florent-le-Vieil. 1910 kam Louis Poirier dort zur Welt, er war dort Lehrer und lebt dort noch heute. Die Jahre, schrieb er einmal, gleiten über einen hinweg wie Wasser übers Gefieder einer Ente. Als Autor wählte sich Poirier ein Pseudonym. Von Stendhals Julien Sorel entlieh er den Vornamen, Kafkas Mythos vom durch Zeit und Welt segelnden Jäger Gracchus dürfte ihn zu dem so schroffen wie rätselhaften Nachnamen inspiriert haben: Gracq.
Julien Gracq steht in Frankreich für poetische Renitenz, seit er 1951 den Prix Goncourt ablehnte. Dem Roman „Das Ufer der Syrten”, für den er den Preis hätte erhalten sollen, ließ er keinen weiteren folgen. Gracq schrieb seither Notate, selten länger als ein paar Seiten. Phänomene aus Natur, Alltag und Künsten stehen darin gleichrangig nebeneinander. Anschauung, Imagination, Wahrnehmung und Lektüre bilden hier keine Gegenpole, sondern wellenartige, einander durchdringende Zustände. Durchlässigkeit ist das Ziel dieser Prosa, die sich, auf Blick und Geschmack vertrauend, mit jedem Satz neu sinnliche Präzision erschreibt. Der Erinnerung, dieser zentralen Macht der literarischen Moderne, billigt sie keinen konstituierenden Charakter zu. So belebend kritisch, wie er Flaubert, Laforgue oder Mauriac betrachtet, so scharfsinnig gibt Gracq auch Proust Contra: Die Erinnerung wartet nicht darauf, wiedererweckt zu werden, sie flieht und ist dankbar für jede Fiktion, die „in eine durchgewetzte Nische des Gedächtnisses” passt.
Die Konfitüre von Manhattan
Gracqs Meisterwerk „Lettrines” erschien in zwei Bänden 1967 und 1974. „Witterungen” nannte Übersetzer Dieter Hornig die vor vier Jahren erschienene erste deutschsprachige Abteilung. Mit „Witterungen II” liegt nun auch die Fortsetzung in makelloser Übertragung vor. Geographie und Geschichte, die Fächer des Gymnasiallehrers Poirier, beschäftigen den Dichter Gracq als Erkundungen in Raum und Zeit. Seine Reisen führen ihn in fremde Landstriche wie in die Regionen der Kindheit an der Loire, Reiche, die nur ein Brombeergebüsch umfassten oder den Nachmittag währten, an dem der Junge einem Motorradrennen zusah.
Ob Vaucluse oder Schweden, ob wandernd oder fahrend, um „auf Nebenstraßen die Herde hinters Licht zu führen” Gracq reist mit dem Gespür für „Lebenszeichen, die sich bereits vom Nichts abheben”. In Manhattan macht er den typisch amerikanischen Duft aus: „Moschusduft sehr raffinierter fernöstlicher Konfitüre”. Auf den Zementböschungen der Rhône kommt ihm angesichts „Trümmerfloragestrüpps” der Gedanke, dass auch die Pflanzen Slums besitzen.
Analogie und Metapher erhalten bei Gracq neue, mitreißende Wucht durch den ihm eigenen semantischen Umkehrschub: Aufzeichnungen, die an ein Erlebnis ein Bild und daran ein Zitat koppeln, finden sich so häufig wie Notate, in denen der Imaginationsfluss umgekehrt strömt: Eine Lektüre evoziert ein Bild, das Bild lädt Anschauung sinnlich auf. So löst Claudels Vers vom taghellen „Schlamm der Wege”, geschrieben, als es Autos noch nicht gab, ein Bild heutiger Straßen aus: „Tunnel verbrannten Benzins”. Dagegen wird der Motorradrennfahrer, dem Gracq als Junge zusah, selbst zu Poesie: „er glich diesem Vers von Nerval, ,Ein junger Mann, überflutet von den Tränen seines Sieges.”
Als lebender Klassiker hat Gracq längst Eingang gefunden in die ehrwürdige Bibliothèque de la Pléiade. Umso erstaunlicher, wenn deren Herausgeber seinen Büchern eine zufällige Ordnung zuschreiben, bilden die sieben Abteilungen von „Witterungen II” doch eher ein fein komponiertes Raum-Zeit-Text-Gefüge. Unscheinbare Berührungsfäden verknüpfen die Texte, ein Geruch, zwei Ortsnamen. Oder bloß eine Entfernungsangabe: „Dreihundert Meter von der Küste entfernt sind die Berge eine krause und duftende Einsamkeit”, heißt es da, und einen Text später: „dreihundert Meter weiter verschwand die Ferne in der grauen Luft des Tauwetters”.
MIRKO BONNÉ
JULIEN GRACQ: Witterungen II. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz und Wien 2005. 197 Seiten, 23 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Im Trümmerfloragestrüpp: Julien Gracqs „Witterungen II”
Kurz vor der Mündung der Loire ins Meer liegt St. Florent-le-Vieil. 1910 kam Louis Poirier dort zur Welt, er war dort Lehrer und lebt dort noch heute. Die Jahre, schrieb er einmal, gleiten über einen hinweg wie Wasser übers Gefieder einer Ente. Als Autor wählte sich Poirier ein Pseudonym. Von Stendhals Julien Sorel entlieh er den Vornamen, Kafkas Mythos vom durch Zeit und Welt segelnden Jäger Gracchus dürfte ihn zu dem so schroffen wie rätselhaften Nachnamen inspiriert haben: Gracq.
Julien Gracq steht in Frankreich für poetische Renitenz, seit er 1951 den Prix Goncourt ablehnte. Dem Roman „Das Ufer der Syrten”, für den er den Preis hätte erhalten sollen, ließ er keinen weiteren folgen. Gracq schrieb seither Notate, selten länger als ein paar Seiten. Phänomene aus Natur, Alltag und Künsten stehen darin gleichrangig nebeneinander. Anschauung, Imagination, Wahrnehmung und Lektüre bilden hier keine Gegenpole, sondern wellenartige, einander durchdringende Zustände. Durchlässigkeit ist das Ziel dieser Prosa, die sich, auf Blick und Geschmack vertrauend, mit jedem Satz neu sinnliche Präzision erschreibt. Der Erinnerung, dieser zentralen Macht der literarischen Moderne, billigt sie keinen konstituierenden Charakter zu. So belebend kritisch, wie er Flaubert, Laforgue oder Mauriac betrachtet, so scharfsinnig gibt Gracq auch Proust Contra: Die Erinnerung wartet nicht darauf, wiedererweckt zu werden, sie flieht und ist dankbar für jede Fiktion, die „in eine durchgewetzte Nische des Gedächtnisses” passt.
Die Konfitüre von Manhattan
Gracqs Meisterwerk „Lettrines” erschien in zwei Bänden 1967 und 1974. „Witterungen” nannte Übersetzer Dieter Hornig die vor vier Jahren erschienene erste deutschsprachige Abteilung. Mit „Witterungen II” liegt nun auch die Fortsetzung in makelloser Übertragung vor. Geographie und Geschichte, die Fächer des Gymnasiallehrers Poirier, beschäftigen den Dichter Gracq als Erkundungen in Raum und Zeit. Seine Reisen führen ihn in fremde Landstriche wie in die Regionen der Kindheit an der Loire, Reiche, die nur ein Brombeergebüsch umfassten oder den Nachmittag währten, an dem der Junge einem Motorradrennen zusah.
Ob Vaucluse oder Schweden, ob wandernd oder fahrend, um „auf Nebenstraßen die Herde hinters Licht zu führen” Gracq reist mit dem Gespür für „Lebenszeichen, die sich bereits vom Nichts abheben”. In Manhattan macht er den typisch amerikanischen Duft aus: „Moschusduft sehr raffinierter fernöstlicher Konfitüre”. Auf den Zementböschungen der Rhône kommt ihm angesichts „Trümmerfloragestrüpps” der Gedanke, dass auch die Pflanzen Slums besitzen.
Analogie und Metapher erhalten bei Gracq neue, mitreißende Wucht durch den ihm eigenen semantischen Umkehrschub: Aufzeichnungen, die an ein Erlebnis ein Bild und daran ein Zitat koppeln, finden sich so häufig wie Notate, in denen der Imaginationsfluss umgekehrt strömt: Eine Lektüre evoziert ein Bild, das Bild lädt Anschauung sinnlich auf. So löst Claudels Vers vom taghellen „Schlamm der Wege”, geschrieben, als es Autos noch nicht gab, ein Bild heutiger Straßen aus: „Tunnel verbrannten Benzins”. Dagegen wird der Motorradrennfahrer, dem Gracq als Junge zusah, selbst zu Poesie: „er glich diesem Vers von Nerval, ,Ein junger Mann, überflutet von den Tränen seines Sieges.”
Als lebender Klassiker hat Gracq längst Eingang gefunden in die ehrwürdige Bibliothèque de la Pléiade. Umso erstaunlicher, wenn deren Herausgeber seinen Büchern eine zufällige Ordnung zuschreiben, bilden die sieben Abteilungen von „Witterungen II” doch eher ein fein komponiertes Raum-Zeit-Text-Gefüge. Unscheinbare Berührungsfäden verknüpfen die Texte, ein Geruch, zwei Ortsnamen. Oder bloß eine Entfernungsangabe: „Dreihundert Meter von der Küste entfernt sind die Berge eine krause und duftende Einsamkeit”, heißt es da, und einen Text später: „dreihundert Meter weiter verschwand die Ferne in der grauen Luft des Tauwetters”.
MIRKO BONNÉ
JULIEN GRACQ: Witterungen II. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz und Wien 2005. 197 Seiten, 23 Euro.
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