Wittgensteins Lebensgeschichte ist verflochten mit den Ereignissen und der intellektuellen Entwicklung einer Epoche und einer Umwelt, die ihn prägten, die er ablehnte und die er zugleich nicht missen mochte. Die Zeit: das Ende der Donaumonarchie, der Erste Weltkrieg. Die Stationen: das Elternhaus in Wien, das Ingenieurstudium in Berlin und Manchester, die logisch-philosophischen Studien in Cambridge, die schöpferische Einsamkeit in Norwegen, die verschiedenen Kriegsfronten im Osten und Süden, die Gefangenschaft in Italien, die Heimkehr nach Wien, der Beginn eines neuen Lebens und die Veröffentlichung des Tractatus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2006Worüber man nicht schreibt
Ludwig Wittgensteins Ausflüge in die Literatur
"Wittgenstein und die Literatur", das könnte zuerst an die literarischen Anverwandlungen eines Philosophen denken lassen, dessen Wirkung nie auf akademisches Terrain eingeschränkt war. Frege sei der Philosoph der Philosophen, Bertrand Russell jedes Ladenbesitzers Ideal des Weisen und Sartre der Intellektuelle, wie ihn sich die Medien vorstellen, doch Wittgenstein sei der Philosoph der Dichter und Komponisten, Dramatiker und Erzähler: So resümierte Terry Eagleton einmal Wittgensteins erstaunliche Wirkung auf die Künste. Im deutschen Kontext fielen einem allenfalls Heidegger und vielleicht noch Benjamin als weitere Beispiele ein, aber doch weit abgeschlagen.
Um die Wirkung Wittgensteins auf die literarische Imagination geht es in diesem stattlichen Sammelband zwar nicht. Aber ganz unabhängig von ihr darf man sich das Interesse vieler Beiträger für "Anwendungen" Wittgensteins auf dem Feld der Literaturtheorie wohl nicht vorstellen. Zumindest liegt der Verdacht nahe, daß es nicht zuletzt der "literarische" Zug von Wittgensteins Schriften ist, der dazu anstiftet, sich mit ihnen an Problemen der Literaturtheorie oder gar solchen einer "Philosophie der Literatur" zu versuchen. Denn angesichts der aufgeworfenen Fragen von Übersetzbarkeit, Status literarischer Fiktion oder nach dem Verhältnis von innerliterarischen Referenzen und Wirklichkeitsbezug von Literatur käme man vermutlich auch mit etwas einfacher zu handhabenden Texten aus als jenen Wittgensteins.
Der Charakter dieser Texte bringt es dabei mit sich, daß der angewandte Wittgenstein immer wieder zu Wittgenstein selbst und zu Fragen von dessen Interpretation zurückführt. Was auf dem Weg dorthin in den Blick kommt, verdient durchaus Interesse, und die literarischen Beispielfälle von Conrad über Faulkner bis zu Beckett und Roubaud fallen anregend vielfältig aus. Doch bei Annäherung an Wittgenstein selbst gerät eine Frage unvermeidlich in den Vordergrund: Was eigentlich meint der Hinweis auf das "Literarische"?
Im ersten Anlauf scheint das leicht zu beantworten: Es zielt auf die Einsicht, daß Wittgensteins idiosynkratische Darstellungsform nicht einfach beiseite gesetzt werden kann, sondern für das Verständnis seines Philosophierens zentral ist. Aber sehr weit ist man damit noch nicht gekommen. Zumal der Verweis auf literarische Qualitäten immer im Verdacht einer gewissen philosophischen Frivolität steht. Da nützt es auch nichts, darauf zu pochen, daß diese Qualitäten durchaus auf keine ermäßigten Ansprüche hinauslaufen; das Prädikat "literarisch" scheint eher für die Verlegenheit zu stehen, Wittgensteins Verfahrensweisen zu charakterisieren.
Doch eine solche Verlegenheit ist aufschlußreich, und kaum ein Interpret hat für sie ein schärferes Gespür entwickelt als Stanley Cavell. Der in Harvard lehrende und im Herbst seinen achtzigsten Geburtstag begehende Philosoph kann als Doyen einer Wittgenstein-Lektüre gelten, die sich gerade an den widerständigen Momenten der Spätphilosophie abarbeitet. Wo es in den letzten Jahren um das Aufrauhen allzu glatt gewordener Interpretationen Wittgensteins geht, um eine Lektüre, die den ästhetischen Eigensinn von Wittgensteins Textinszenierungen zum Ansatzpunkt nimmt, muß man meist nicht lange nach Verweisen auf Cavell suchen.
Ein Essay von ihm eröffnet denn auch den Band. Cavell spürt in ihm der Frage nach, was es mit dem oft angemerkten Hang zum Aphorismus bei Wittgenstein auf sich haben könnte. Die diagnostizierte literarische Form wird dabei zum Fingerzeig, um gegenstrebige Grundmotive der "Philosophischen Untersuchungen" zu benennen: Dem Motiv, philosophische Probleme zum Verschwinden zu bringen, alle vermeintlich verborgene Tiefe in die übersichtliche Darstellung von Oberflächen aufzulösen, korrespondiert die Tendenz, die fatale metaphysische Tiefe als Bedingung der philosophischen Bewegung gerade präsent zu halten. So stellt für Cavell das Aphoristische "eine Form dar, um die Klarheit zu reflektieren, die durch grammatische Methoden herbeigeführt wird, eine Form, die selbst, als solche, diese Klarheit aufweist, zusammen mit einer Befriedigung oder Anerkennung der Dunkelheit, aus der die Klarheit kommt".
Knapp und eindeutig waren dagegen Wittgensteins Äußerungen über literarische Werke. Man kann sie, ebenso wie die Urteile über Komponisten, leicht umreißen: Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts reicht ein nur wenig überraschender Kanon, vor dessen Hintergrund die zeitgenössische Moderne als Verfallserscheinung verworfen wird. Nimmt man die Neuedition des Briefwechsels mit Paul Engelmann zur Hand, stößt man auf ein schönes Beispiel dieses Verfahrens, wenn Wittgenstein sich nach der Lektüre von Albert Ehrenstein als "Gegengift" Ausgaben von Goethe und Mörike erbittet.
Wittgensteins ästhetischer Kanon hat manche Interpreten in Verlegenheit gebracht. Doch in ihm spiegelt sich Wittgensteins eigene Haltung gegenüber seiner Zeit, sein Bewußtsein, entweder bloß der Vergangenheit anzugehören oder doch der Zukunft, keinesfalls aber mit seinem Werk in der Gegenwart zu stehen. Dem damit verknüpften Anspruch an sein Werk war schwer zu genügen, und in den Briefen an Freunde überwiegen die Selbstzweifel, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil Briefe bei Wittgenstein meist forcierten Bekenntnischarakter hatten. Jene an Engelmann, geschrieben zwischen 1916 und 1937, bilden da keine Ausnahme. Brian McGuinness edierte sie zum ersten Mal 1967, kurz nachdem Engelmann in Tel Aviv gestorben war, zusammen mit dessen fragmentarischen Erinnerungen an Wittgenstein. In der neuen Edition sind noch Passagen aus Engelmanns Nachlaß, vor allem aber seine inzwischen aufgefundenen Briefe an Wittgenstein dazugekommen.
An moralischer Unbedingtheit stand Engelmann seinem Briefpartner kaum nach, und gerade das muß Wittgenstein beeindruckt haben. Es sind keine Briefe, aus denen man direkte Aufschlüsse über Wendungen von Wittgensteins Denkweg erhält. Aber sie machen den obsessiven Untergrund dieses Denkens spürbar, führen das verbissene Bemühen um Reinheit und Selbsttransparenz vor Augen. Von Adolf Loos und Karl Kraus, die Engelmann gut kannte, ist nur ganz am Rande die Rede, und als Engelmann gemeinsam mit Wittgenstein das Haus für dessen Schwester in der Wiener Rasumofskygasse baute, da bestand kaum Anlaß zum brieflichen Austausch. Doch wenn Briefe gewechselt wurden, ging es schnell um Grundbefindlichkeiten, um Geständnisse, Selbstanklagen und versuchten Zuspruch. Aphorismen lassen sich bei Wittgenstein herauslösen, zum Beispiel dieser: "Mein Leben ist eigentlich sehr glücklich! Bis auf die Zeiten wo es verflucht unglücklich ist (Das ist kein Witz)." Vielleicht kein Witz, aber die Einlösung dessen, was sich von dem sagen läßt, worüber diese Briefe nicht immer schweigen.
HELMUT MAYER
"Wittgenstein und die Literatur". Herausgegeben von John Gibson und Wolfgang Huemer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 518 S., br., 17,- [Euro].
"Wittgenstein - Engelmann". Briefe, Begegnungen, Erinnerungen. Herausgegeben von Ilse Somavilla unter Mitarbeit von Brian McGuinness. Haymon Verlag, Innsbruck 2006. 237 S., geb., 24,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ludwig Wittgensteins Ausflüge in die Literatur
"Wittgenstein und die Literatur", das könnte zuerst an die literarischen Anverwandlungen eines Philosophen denken lassen, dessen Wirkung nie auf akademisches Terrain eingeschränkt war. Frege sei der Philosoph der Philosophen, Bertrand Russell jedes Ladenbesitzers Ideal des Weisen und Sartre der Intellektuelle, wie ihn sich die Medien vorstellen, doch Wittgenstein sei der Philosoph der Dichter und Komponisten, Dramatiker und Erzähler: So resümierte Terry Eagleton einmal Wittgensteins erstaunliche Wirkung auf die Künste. Im deutschen Kontext fielen einem allenfalls Heidegger und vielleicht noch Benjamin als weitere Beispiele ein, aber doch weit abgeschlagen.
Um die Wirkung Wittgensteins auf die literarische Imagination geht es in diesem stattlichen Sammelband zwar nicht. Aber ganz unabhängig von ihr darf man sich das Interesse vieler Beiträger für "Anwendungen" Wittgensteins auf dem Feld der Literaturtheorie wohl nicht vorstellen. Zumindest liegt der Verdacht nahe, daß es nicht zuletzt der "literarische" Zug von Wittgensteins Schriften ist, der dazu anstiftet, sich mit ihnen an Problemen der Literaturtheorie oder gar solchen einer "Philosophie der Literatur" zu versuchen. Denn angesichts der aufgeworfenen Fragen von Übersetzbarkeit, Status literarischer Fiktion oder nach dem Verhältnis von innerliterarischen Referenzen und Wirklichkeitsbezug von Literatur käme man vermutlich auch mit etwas einfacher zu handhabenden Texten aus als jenen Wittgensteins.
Der Charakter dieser Texte bringt es dabei mit sich, daß der angewandte Wittgenstein immer wieder zu Wittgenstein selbst und zu Fragen von dessen Interpretation zurückführt. Was auf dem Weg dorthin in den Blick kommt, verdient durchaus Interesse, und die literarischen Beispielfälle von Conrad über Faulkner bis zu Beckett und Roubaud fallen anregend vielfältig aus. Doch bei Annäherung an Wittgenstein selbst gerät eine Frage unvermeidlich in den Vordergrund: Was eigentlich meint der Hinweis auf das "Literarische"?
Im ersten Anlauf scheint das leicht zu beantworten: Es zielt auf die Einsicht, daß Wittgensteins idiosynkratische Darstellungsform nicht einfach beiseite gesetzt werden kann, sondern für das Verständnis seines Philosophierens zentral ist. Aber sehr weit ist man damit noch nicht gekommen. Zumal der Verweis auf literarische Qualitäten immer im Verdacht einer gewissen philosophischen Frivolität steht. Da nützt es auch nichts, darauf zu pochen, daß diese Qualitäten durchaus auf keine ermäßigten Ansprüche hinauslaufen; das Prädikat "literarisch" scheint eher für die Verlegenheit zu stehen, Wittgensteins Verfahrensweisen zu charakterisieren.
Doch eine solche Verlegenheit ist aufschlußreich, und kaum ein Interpret hat für sie ein schärferes Gespür entwickelt als Stanley Cavell. Der in Harvard lehrende und im Herbst seinen achtzigsten Geburtstag begehende Philosoph kann als Doyen einer Wittgenstein-Lektüre gelten, die sich gerade an den widerständigen Momenten der Spätphilosophie abarbeitet. Wo es in den letzten Jahren um das Aufrauhen allzu glatt gewordener Interpretationen Wittgensteins geht, um eine Lektüre, die den ästhetischen Eigensinn von Wittgensteins Textinszenierungen zum Ansatzpunkt nimmt, muß man meist nicht lange nach Verweisen auf Cavell suchen.
Ein Essay von ihm eröffnet denn auch den Band. Cavell spürt in ihm der Frage nach, was es mit dem oft angemerkten Hang zum Aphorismus bei Wittgenstein auf sich haben könnte. Die diagnostizierte literarische Form wird dabei zum Fingerzeig, um gegenstrebige Grundmotive der "Philosophischen Untersuchungen" zu benennen: Dem Motiv, philosophische Probleme zum Verschwinden zu bringen, alle vermeintlich verborgene Tiefe in die übersichtliche Darstellung von Oberflächen aufzulösen, korrespondiert die Tendenz, die fatale metaphysische Tiefe als Bedingung der philosophischen Bewegung gerade präsent zu halten. So stellt für Cavell das Aphoristische "eine Form dar, um die Klarheit zu reflektieren, die durch grammatische Methoden herbeigeführt wird, eine Form, die selbst, als solche, diese Klarheit aufweist, zusammen mit einer Befriedigung oder Anerkennung der Dunkelheit, aus der die Klarheit kommt".
Knapp und eindeutig waren dagegen Wittgensteins Äußerungen über literarische Werke. Man kann sie, ebenso wie die Urteile über Komponisten, leicht umreißen: Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts reicht ein nur wenig überraschender Kanon, vor dessen Hintergrund die zeitgenössische Moderne als Verfallserscheinung verworfen wird. Nimmt man die Neuedition des Briefwechsels mit Paul Engelmann zur Hand, stößt man auf ein schönes Beispiel dieses Verfahrens, wenn Wittgenstein sich nach der Lektüre von Albert Ehrenstein als "Gegengift" Ausgaben von Goethe und Mörike erbittet.
Wittgensteins ästhetischer Kanon hat manche Interpreten in Verlegenheit gebracht. Doch in ihm spiegelt sich Wittgensteins eigene Haltung gegenüber seiner Zeit, sein Bewußtsein, entweder bloß der Vergangenheit anzugehören oder doch der Zukunft, keinesfalls aber mit seinem Werk in der Gegenwart zu stehen. Dem damit verknüpften Anspruch an sein Werk war schwer zu genügen, und in den Briefen an Freunde überwiegen die Selbstzweifel, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil Briefe bei Wittgenstein meist forcierten Bekenntnischarakter hatten. Jene an Engelmann, geschrieben zwischen 1916 und 1937, bilden da keine Ausnahme. Brian McGuinness edierte sie zum ersten Mal 1967, kurz nachdem Engelmann in Tel Aviv gestorben war, zusammen mit dessen fragmentarischen Erinnerungen an Wittgenstein. In der neuen Edition sind noch Passagen aus Engelmanns Nachlaß, vor allem aber seine inzwischen aufgefundenen Briefe an Wittgenstein dazugekommen.
An moralischer Unbedingtheit stand Engelmann seinem Briefpartner kaum nach, und gerade das muß Wittgenstein beeindruckt haben. Es sind keine Briefe, aus denen man direkte Aufschlüsse über Wendungen von Wittgensteins Denkweg erhält. Aber sie machen den obsessiven Untergrund dieses Denkens spürbar, führen das verbissene Bemühen um Reinheit und Selbsttransparenz vor Augen. Von Adolf Loos und Karl Kraus, die Engelmann gut kannte, ist nur ganz am Rande die Rede, und als Engelmann gemeinsam mit Wittgenstein das Haus für dessen Schwester in der Wiener Rasumofskygasse baute, da bestand kaum Anlaß zum brieflichen Austausch. Doch wenn Briefe gewechselt wurden, ging es schnell um Grundbefindlichkeiten, um Geständnisse, Selbstanklagen und versuchten Zuspruch. Aphorismen lassen sich bei Wittgenstein herauslösen, zum Beispiel dieser: "Mein Leben ist eigentlich sehr glücklich! Bis auf die Zeiten wo es verflucht unglücklich ist (Das ist kein Witz)." Vielleicht kein Witz, aber die Einlösung dessen, was sich von dem sagen läßt, worüber diese Briefe nicht immer schweigen.
HELMUT MAYER
"Wittgenstein und die Literatur". Herausgegeben von John Gibson und Wolfgang Huemer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 518 S., br., 17,- [Euro].
"Wittgenstein - Engelmann". Briefe, Begegnungen, Erinnerungen. Herausgegeben von Ilse Somavilla unter Mitarbeit von Brian McGuinness. Haymon Verlag, Innsbruck 2006. 237 S., geb., 24,50 [Euro].
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