On Christmas Eve 1999, all the Jews in the world die in a strange, millennial plague, with the exception of the firstborn males, who are soon adopted by a cabal of powerful people in the American government. By the following Passover, however, only one is still alive: Benjamin Israelien; a kindly, innocent, ignorant man-child. As he finds himself transformed into an international superstar, Jewishness becomes all the rage: matzo-ball soup is in every bowl, sidelocks are hip; and the only truly Jewish Jew left is increasingly stigmatized for not being religious. Since his very existence exposes the illegitimacy of the newly converted, Israelien becomes the object of a worldwide hunt...
Meanwhile, in the not-too-distant future of our own, "real" world, another last Jew-the last living Holocaust survivor-sits alone in a snowbound Manhattan, providing a final melancholy witness to his experiences in the form of the punch lines to half-remembered jokes.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Meanwhile, in the not-too-distant future of our own, "real" world, another last Jew-the last living Holocaust survivor-sits alone in a snowbound Manhattan, providing a final melancholy witness to his experiences in the form of the punch lines to half-remembered jokes.
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"The sort of postmodern epic that arrives like a comet about once every decade, like Infinite Jest or Gravity's Rainbow. Like any epic, it defies summary and overflows with puns, allusions, digressions, authorial sleights of hand and structural gags-in the tradition of Thomas Pynchon, James Joyce, Jonathan Swift and Laurence Sterne." New York Observer
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2022Die Pointe ist vernichtend
Eine radikale Erzählung des jüdischen Schicksals: Joshua Cohens Monumentalroman "Witz"
In diesem Buch geht es um die schillernde Bedeutung seines Titels: um "-witz" als Suffix und um "Witz" im amerikanischen Sinn von "joke" (jemanden hereinlegen). Beides hat, so wie der Text, Megadimension. Und wie im Roman "Ulysses" von James Joyce, den Cohen technisch und stilistisch auf die Spitze treibt, steht auch sein Titel für ein Programm. Ulysses: Heimkehr als Reise durch das Rauschen der Zeit. Witz: das Ende als Schlag ins Kontor. Die punchline ist vernichtend, also eine Vernichtung. Witz ist die Waffe der Unterlegenen. "Witz" und "Ulysses" sind Konzepte, mentale Gerüste; in sie passen die Autoren die Wege ihrer Helden durch die Alltäglichkeiten ihrer Epochen ein.
Wichtige Schlüssel zu seinem Werk hat der Sprachkünstler Joshua Cohen in seiner gewaltigen Essaysammlung "Attention" (2018) deponiert. "Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist", zitiert Cohen da eingangs den Psychologen William James und untersucht sogleich ihr Gegenteil, die Abgelenktheit (distraction). Von ihrer Schwester, der Abschweifung (digression), behauptete der Essayist Montaigne, sie gehöre zum Schreiben, denn die Wahrnehmung der Welt (und nicht die "Wahrheit") sei das Sujet der Literatur. Cohen könnte Montaigne mit dem Talmud antworten: "Wenn einer des Weges geht, liest, sich unterbricht und sagt: 'Wie schön ist dieser Baum!', von ihm sagt die Schrift, er sei gegen sich selbst schuldig geworden." Für Cohen ist die ständige Ablenkung durch Triviales ein Grundübel unseres Seins.
Dagegen hat er sein Sprachkunstwerk geschaffen. Klar, wenn einer einen Witz erzählt, spitzt jeder die Ohren, denn man will die Pointe mitbekommen. Witz macht spitz. In "Witz" geht es darum, neunhundert Seiten lang gespitzt zu lesen. Dann schält sich unter der Masse der Wortwitze, Anspielungen und Kulturkürzel eine Handlung heraus. "Kavanah" heißt diese Form der absoluten Konzentration auf einen Text und die Entfaltung seiner Bedeutungen in der jüdischen Kultur, und erreicht wird durch sie "devekut" (eine Verbindung mit der Essenz). Cohens "Witz" steht als Sprachkunstwerk gegen Verflachung und Linearität. Wenn man sich darauf einlässt, ohne darüber nachzudenken, ob "Witz" gut ist oder schlecht, erlebt man einen Sprachrausch, wie er in dieser Intensität vielleicht nur in "Finnegans Wake" erfahrbar ist. Was Cohen vom Schreiben will, so sagt er in "Attention", sei total immersion (totales Abtauchen). Für ihn gehören dazu auch Szenen von grotesker Vulgarität.
Dass dieser Sprachrausch auch beim Lesen der Übersetzung erfahrbar ist, verdanken wir der Meisterschaft von Ulrich Blumenbach, der einen dichten, lexikalisch reichen Text gewebt hat ("Hutzelfuß", "Stirn mit Frakturfalten") und noch für die absurdesten puns deutsche Versionen fand. Ein Mann provoziert seine Frau, indem er "hors d'oeuvre" wie "whore's divorce" ausspricht; bei Blumenbach: "hurt döfer". Es gibt zwar hie und da Aussetzer. Ein Besteck aus "vermeil" ist nicht "scharlachrot", sondern aus Silber mit Goldüberzug. Wenn ein Jude vor dem Nachtmahl am Freitag zu Ehren des Sabbats eine Hühnersuppe auf dem Herd entdeckt und ruft: "tell me I am that lucky", würde er auf Deutsch nicht sagen: "Sag mal, sollte ich wirklich so ein Schwein haben." Wenn nach dem Nachtmahl "in their chairs still, they bench", dann "drücken" Juden nicht "die Bank", sondern sprechen den Segen (benschen, vom lateinischen benedicere). All dies verblasst jedoch vor Blumenbachs Leistung, ein deutsches Äquivalent geschaffen zu haben, das sich wie ein literarisches Werk liest und oft klarer ist als das Original.
Die göttlichen Versprechen sind hier Attrappen.
Der Roman beginnt in einer Synagoge ("wüst und leer") acht Tage vor Weihnachten. Zum Abendgottesdienst vor Schabbatbeginn füllt sie sich: "Sie sind paarweise aufgestellt, zwei von jeder Art . . . Sie sind ausgeruht, ausgewaschen, ausgekleidet; sie sind zum Duschen angetreten und zum Scheren." So geht das Bild der vollgepackten Arche Noahs in das der Gaskammern über. Den Gottesdienst persifliert Cohen als Opernabend, womit er andeutet, wie willig die europäischen Juden den Vorhang der "Hochkultur" vor die Zeichen des kommenden Sturms zogen. Die einfallende Nacht ist historisch doppelt aufgeladen: "Von den verbliebenen Farben wurde die Hälfte zu Mond und Sternen gebleicht, bis zur Weiße entlaust . . . Während unser Rabbi, ein Erstgeborener . . ., über die Holzdielen vor der Kanzel büttelt, bereitet sich die zehnte Plage vor, wartet betriebsbereit in den Kulissen." Die neunte Plage bereitet der zehnten den Weg, das Bogengewölbe (arch) den Auftritt (entrance).
Damit ist das ulyssisch-odysseische Reisemotiv ausgesprochen. In diesem Roman geht es um den Exodus ins Gelobte Land, der ein Exitus ist. Denn die Reise führt zu jenem Torbogen, auf den die Gleise zulaufen. Damit ist das erste -witz genannt (Auschwitz) und der erste Witz aufgelöst. Die Duschattrappen sind practical jokes. Für die Gäste im nachfolgenden Nachtmahl bei Hanna Israelien, eine der dichtesten Szenen des Romans, ist der Herd/Ofen (mit seiner Suppe) zentral. Zu ihm zieht es die Gäste, zum "Ofen am Ende des Torbogens, dem Tor zum Ofen und auf der anderen Seite wieder hinaus".
Die Gäste schnuppern, "diese Nudeln steigen ihnen entgegen . . . Räucherungen wie zu Tempeltagen, aber sie selbst sind die Opfer, und doch sind diese Gaben noch für sie gedacht, was ein Martyrium bedeutet". Die göttlichen Versprechen sind Attrappen. Auserwählung bestimmt die Opfer zur Himmelfahrt durch die Öfen. Das Bütteln der Rabbiner ist umsonst, ist Theater, eine Vorstellung für den Einen. Das ist die radikale These des Romans.
In der Nacht wird Benjamin geboren, Hannas erster Sohn (ben) nach zwölf Töchtern. Er ist als -witz (Sohn von) der Titelheld des Romans. Mit Bart, Brille, sich stets erneuernder Vorhaut und "verfrüht" kommt er zur Welt, ist also Moses und nicht Jesus. In dieser Nacht klopft es an die Tür. Ein Hausierer will Hosen verkaufen. Die Familie Israelien weist ihn ab, obwohl er einer der 36 Gerechten sein könnte. Dieses Klopfen war "keine klassische Witzeröffnung, keine Pointe, ein Klopfen, das keine Spur komisch ist, ganz im Gegenteil. Invers." Denn in der Nacht der zehnten Plage war er der Todesengel, der an den Häusern der Israeliten vorübergeht.
Ein satirischer Amerikaroman zwischen Twain und Kafka.
Invers ist fortan das Schlüsselwort. An Weihnachten sterben alle Juden außer den Erstgeborenen, die auf einer "Garten" genannten Insel vor Manhattan isoliert werden. Bis zum Pessachfest, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, sind alle tot. Eine Konversionswelle erfasst Amerika und die Welt. Jüdischsein, am besten orthodox, ist der letzte Schrei. Benjamin, der letzte Jude, weder klug noch religiös, wird von Intriganten in großen Shows durch Amerika getingelt und als Erlöser vermarket. Das gibt Cohen die Möglichkeit, einen satirischen Amerikaroman einzuschieben mit Verbeugungen vor Vorläufern wie Mark Twain, William Gaddis und Thomas Pynchon, aber auch und besonders vor Kafkas "Naturtheater in Oklahoma".
Von unwiderstehlicher Komik sind die Szenen in Los Siegeles (Las Vegas), wo Ben am Vorabend des 4. Juli, des amerikanischen Nationalfeiertags, im Tutanchamen-Amphitheater auftritt. Herrlich ist Bens Flucht vor seinen Vermarktern in die Anonymität der ersten Jahreshauptversammlung der Israelien-Imitatoren, auf der alle Ben sind. Schließlich muss der echte Ben doch seine Identität beweisen. In dieser Szene kombiniert Cohen die kontroverseste Passage aus Saul Bellows Roman "Mr. Sammler's Planet" mit der Geschichte vom ungläubigen Thomas: "Der Mann vom Parkdienst weigert sich zu glauben, dass Ben Ben ist, also . . . zieht [Er] den Goi in eine Ecke und öffnet den Morgenmantel. Eine Beschneidung überzeugt - zumal wenn die Vorhaut die Abscheidung selbst initiiert. Können Sie ruhig anfassen, sagt Er ihm, dran zupfen, schieben und reißen: Das tut nicht weh, Emes [echt] . . ., das ist bloß Haut, die schuppt ab, könnse behalten . . . Geehrt zieht der Mann vom Parkdienst von dannen."
Es folgt der Heimweg nach Osten, der Exodus der neuen Juden nach "Polenland". Cohen verschmilzt eine sarkastische Darstellung des Holocausttourismus mit den im ersten Kapitel etablierten Metaphern für den Holocaust selbst (entrance, arch). Es gilt Inversion. Die Reisenden bestehen darauf, in die Friedhöfe eingelassen zu werden. Die Inschrift über dem Touristentor "ist im Lauf der vielen Jahrhunderte zwölfmal übermalt worden, immer ungefähr dieselben Worte, aber jedes Mal in einer anderen Sprache". Auf der Schulter des einäugigen Wachmanns sitzt "ein Singvogel: Kavka, auch Galka genannt, . . . das geflügelte Symbol der Welt, die seinen Namen erben sollte, Galizien". Zu Galizien gehörte das Herzogtum Oswiecim. Wir sind in Wasimmerwitz. Die Touristen begehren Einlass in seinen Friedhof. Cohen beendet seine Neufassung von Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" mit dem Satz des Türhüters: "Der Friedhof ist die ganze Zeit offen gewesen." Und fügt hinzu: "und ist noch immer offen". In der Tat.
Das pointierte Ende kann nicht verraten werden. Es ist absurd, tragisch und sehr klug. "Witz" ist ein großer Roman. SUSANNE KLINGENSTEIN.
Joshua Cohen: "Witz". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 2022. 909 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine radikale Erzählung des jüdischen Schicksals: Joshua Cohens Monumentalroman "Witz"
In diesem Buch geht es um die schillernde Bedeutung seines Titels: um "-witz" als Suffix und um "Witz" im amerikanischen Sinn von "joke" (jemanden hereinlegen). Beides hat, so wie der Text, Megadimension. Und wie im Roman "Ulysses" von James Joyce, den Cohen technisch und stilistisch auf die Spitze treibt, steht auch sein Titel für ein Programm. Ulysses: Heimkehr als Reise durch das Rauschen der Zeit. Witz: das Ende als Schlag ins Kontor. Die punchline ist vernichtend, also eine Vernichtung. Witz ist die Waffe der Unterlegenen. "Witz" und "Ulysses" sind Konzepte, mentale Gerüste; in sie passen die Autoren die Wege ihrer Helden durch die Alltäglichkeiten ihrer Epochen ein.
Wichtige Schlüssel zu seinem Werk hat der Sprachkünstler Joshua Cohen in seiner gewaltigen Essaysammlung "Attention" (2018) deponiert. "Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist", zitiert Cohen da eingangs den Psychologen William James und untersucht sogleich ihr Gegenteil, die Abgelenktheit (distraction). Von ihrer Schwester, der Abschweifung (digression), behauptete der Essayist Montaigne, sie gehöre zum Schreiben, denn die Wahrnehmung der Welt (und nicht die "Wahrheit") sei das Sujet der Literatur. Cohen könnte Montaigne mit dem Talmud antworten: "Wenn einer des Weges geht, liest, sich unterbricht und sagt: 'Wie schön ist dieser Baum!', von ihm sagt die Schrift, er sei gegen sich selbst schuldig geworden." Für Cohen ist die ständige Ablenkung durch Triviales ein Grundübel unseres Seins.
Dagegen hat er sein Sprachkunstwerk geschaffen. Klar, wenn einer einen Witz erzählt, spitzt jeder die Ohren, denn man will die Pointe mitbekommen. Witz macht spitz. In "Witz" geht es darum, neunhundert Seiten lang gespitzt zu lesen. Dann schält sich unter der Masse der Wortwitze, Anspielungen und Kulturkürzel eine Handlung heraus. "Kavanah" heißt diese Form der absoluten Konzentration auf einen Text und die Entfaltung seiner Bedeutungen in der jüdischen Kultur, und erreicht wird durch sie "devekut" (eine Verbindung mit der Essenz). Cohens "Witz" steht als Sprachkunstwerk gegen Verflachung und Linearität. Wenn man sich darauf einlässt, ohne darüber nachzudenken, ob "Witz" gut ist oder schlecht, erlebt man einen Sprachrausch, wie er in dieser Intensität vielleicht nur in "Finnegans Wake" erfahrbar ist. Was Cohen vom Schreiben will, so sagt er in "Attention", sei total immersion (totales Abtauchen). Für ihn gehören dazu auch Szenen von grotesker Vulgarität.
Dass dieser Sprachrausch auch beim Lesen der Übersetzung erfahrbar ist, verdanken wir der Meisterschaft von Ulrich Blumenbach, der einen dichten, lexikalisch reichen Text gewebt hat ("Hutzelfuß", "Stirn mit Frakturfalten") und noch für die absurdesten puns deutsche Versionen fand. Ein Mann provoziert seine Frau, indem er "hors d'oeuvre" wie "whore's divorce" ausspricht; bei Blumenbach: "hurt döfer". Es gibt zwar hie und da Aussetzer. Ein Besteck aus "vermeil" ist nicht "scharlachrot", sondern aus Silber mit Goldüberzug. Wenn ein Jude vor dem Nachtmahl am Freitag zu Ehren des Sabbats eine Hühnersuppe auf dem Herd entdeckt und ruft: "tell me I am that lucky", würde er auf Deutsch nicht sagen: "Sag mal, sollte ich wirklich so ein Schwein haben." Wenn nach dem Nachtmahl "in their chairs still, they bench", dann "drücken" Juden nicht "die Bank", sondern sprechen den Segen (benschen, vom lateinischen benedicere). All dies verblasst jedoch vor Blumenbachs Leistung, ein deutsches Äquivalent geschaffen zu haben, das sich wie ein literarisches Werk liest und oft klarer ist als das Original.
Die göttlichen Versprechen sind hier Attrappen.
Der Roman beginnt in einer Synagoge ("wüst und leer") acht Tage vor Weihnachten. Zum Abendgottesdienst vor Schabbatbeginn füllt sie sich: "Sie sind paarweise aufgestellt, zwei von jeder Art . . . Sie sind ausgeruht, ausgewaschen, ausgekleidet; sie sind zum Duschen angetreten und zum Scheren." So geht das Bild der vollgepackten Arche Noahs in das der Gaskammern über. Den Gottesdienst persifliert Cohen als Opernabend, womit er andeutet, wie willig die europäischen Juden den Vorhang der "Hochkultur" vor die Zeichen des kommenden Sturms zogen. Die einfallende Nacht ist historisch doppelt aufgeladen: "Von den verbliebenen Farben wurde die Hälfte zu Mond und Sternen gebleicht, bis zur Weiße entlaust . . . Während unser Rabbi, ein Erstgeborener . . ., über die Holzdielen vor der Kanzel büttelt, bereitet sich die zehnte Plage vor, wartet betriebsbereit in den Kulissen." Die neunte Plage bereitet der zehnten den Weg, das Bogengewölbe (arch) den Auftritt (entrance).
Damit ist das ulyssisch-odysseische Reisemotiv ausgesprochen. In diesem Roman geht es um den Exodus ins Gelobte Land, der ein Exitus ist. Denn die Reise führt zu jenem Torbogen, auf den die Gleise zulaufen. Damit ist das erste -witz genannt (Auschwitz) und der erste Witz aufgelöst. Die Duschattrappen sind practical jokes. Für die Gäste im nachfolgenden Nachtmahl bei Hanna Israelien, eine der dichtesten Szenen des Romans, ist der Herd/Ofen (mit seiner Suppe) zentral. Zu ihm zieht es die Gäste, zum "Ofen am Ende des Torbogens, dem Tor zum Ofen und auf der anderen Seite wieder hinaus".
Die Gäste schnuppern, "diese Nudeln steigen ihnen entgegen . . . Räucherungen wie zu Tempeltagen, aber sie selbst sind die Opfer, und doch sind diese Gaben noch für sie gedacht, was ein Martyrium bedeutet". Die göttlichen Versprechen sind Attrappen. Auserwählung bestimmt die Opfer zur Himmelfahrt durch die Öfen. Das Bütteln der Rabbiner ist umsonst, ist Theater, eine Vorstellung für den Einen. Das ist die radikale These des Romans.
In der Nacht wird Benjamin geboren, Hannas erster Sohn (ben) nach zwölf Töchtern. Er ist als -witz (Sohn von) der Titelheld des Romans. Mit Bart, Brille, sich stets erneuernder Vorhaut und "verfrüht" kommt er zur Welt, ist also Moses und nicht Jesus. In dieser Nacht klopft es an die Tür. Ein Hausierer will Hosen verkaufen. Die Familie Israelien weist ihn ab, obwohl er einer der 36 Gerechten sein könnte. Dieses Klopfen war "keine klassische Witzeröffnung, keine Pointe, ein Klopfen, das keine Spur komisch ist, ganz im Gegenteil. Invers." Denn in der Nacht der zehnten Plage war er der Todesengel, der an den Häusern der Israeliten vorübergeht.
Ein satirischer Amerikaroman zwischen Twain und Kafka.
Invers ist fortan das Schlüsselwort. An Weihnachten sterben alle Juden außer den Erstgeborenen, die auf einer "Garten" genannten Insel vor Manhattan isoliert werden. Bis zum Pessachfest, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, sind alle tot. Eine Konversionswelle erfasst Amerika und die Welt. Jüdischsein, am besten orthodox, ist der letzte Schrei. Benjamin, der letzte Jude, weder klug noch religiös, wird von Intriganten in großen Shows durch Amerika getingelt und als Erlöser vermarket. Das gibt Cohen die Möglichkeit, einen satirischen Amerikaroman einzuschieben mit Verbeugungen vor Vorläufern wie Mark Twain, William Gaddis und Thomas Pynchon, aber auch und besonders vor Kafkas "Naturtheater in Oklahoma".
Von unwiderstehlicher Komik sind die Szenen in Los Siegeles (Las Vegas), wo Ben am Vorabend des 4. Juli, des amerikanischen Nationalfeiertags, im Tutanchamen-Amphitheater auftritt. Herrlich ist Bens Flucht vor seinen Vermarktern in die Anonymität der ersten Jahreshauptversammlung der Israelien-Imitatoren, auf der alle Ben sind. Schließlich muss der echte Ben doch seine Identität beweisen. In dieser Szene kombiniert Cohen die kontroverseste Passage aus Saul Bellows Roman "Mr. Sammler's Planet" mit der Geschichte vom ungläubigen Thomas: "Der Mann vom Parkdienst weigert sich zu glauben, dass Ben Ben ist, also . . . zieht [Er] den Goi in eine Ecke und öffnet den Morgenmantel. Eine Beschneidung überzeugt - zumal wenn die Vorhaut die Abscheidung selbst initiiert. Können Sie ruhig anfassen, sagt Er ihm, dran zupfen, schieben und reißen: Das tut nicht weh, Emes [echt] . . ., das ist bloß Haut, die schuppt ab, könnse behalten . . . Geehrt zieht der Mann vom Parkdienst von dannen."
Es folgt der Heimweg nach Osten, der Exodus der neuen Juden nach "Polenland". Cohen verschmilzt eine sarkastische Darstellung des Holocausttourismus mit den im ersten Kapitel etablierten Metaphern für den Holocaust selbst (entrance, arch). Es gilt Inversion. Die Reisenden bestehen darauf, in die Friedhöfe eingelassen zu werden. Die Inschrift über dem Touristentor "ist im Lauf der vielen Jahrhunderte zwölfmal übermalt worden, immer ungefähr dieselben Worte, aber jedes Mal in einer anderen Sprache". Auf der Schulter des einäugigen Wachmanns sitzt "ein Singvogel: Kavka, auch Galka genannt, . . . das geflügelte Symbol der Welt, die seinen Namen erben sollte, Galizien". Zu Galizien gehörte das Herzogtum Oswiecim. Wir sind in Wasimmerwitz. Die Touristen begehren Einlass in seinen Friedhof. Cohen beendet seine Neufassung von Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" mit dem Satz des Türhüters: "Der Friedhof ist die ganze Zeit offen gewesen." Und fügt hinzu: "und ist noch immer offen". In der Tat.
Das pointierte Ende kann nicht verraten werden. Es ist absurd, tragisch und sehr klug. "Witz" ist ein großer Roman. SUSANNE KLINGENSTEIN.
Joshua Cohen: "Witz". Roman.
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 2022. 909 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.04.2022Nicht im Ernst
Mal sehen, ob die deutsche Erinnerungskultur mit Joshua Cohens Roman „Witz“ klarkommt,
der ihre Rituale genialisch verlacht. Ein Treffen in Leipzig
VON FELIX STEPHAN
Am Abend vor seinem Auftritt auf der Leipziger Pop-up-Buchmesse in diesem Frühjahr saß der amerikanische Schriftsteller Joshua Cohen in seinem Hotelzimmer und verfolgte die Verleihung des National Book Critics Award in New York. Außer ihm selbst waren noch Rachel Cusk, Colson Whitehead und die spätere Gewinnerin Honorée Fanonne Jefferson nominiert, deren Roman über eine afroamerikanische Familie von Oprah Winfrey empfohlen worden war. Joshua Cohen machte sich keine Illusionen. Als zuvor sein Roman „The Netanyahus“ vorgestellt worden war, brauchte die Moderatorin mehrere Versuche, um den Titel auzusprechen. Cohen starrte auf sein eigenes Bild in der Ecke des Bildschirms, hinter sich an der Wand eine hässliche Fotografie von Leipzig, und je länger der Abend dauerte, desto betrunkener wurde er.
Der Roman ist außerdem gerade in Spanien, Frankreich und Israel erschienen, und Cohen ist überall persönlich vorstellig geworden. In Israel sei ihm nach einem Fernsehauftritt in der Tageszeitung Haaretz vorgeworfen worden, ein religiös geprägtes Hebräisch zu sprechen, aber säkulare Romane zu schreiben, was sich nicht gehöre. Normalerweise antworte er nie auf Kritiken, sagt er jetzt bei einem Treffen in Leipzig, aber er habe tagelang nichts zu tun gehabt in Tel Aviv, und ihm sei schrecklich langweilig gewesen. Deshalb habe er, wiederum in Haaretz, eine scharfe Entgegnung veröffentlicht, woraufhin in der israelischen Buchwelt eine Debatte losbrach. Die Erinnerung an den Aufruhr bereitet ihm sichtlich Freude; was er dort abgezogen hat, nennt er im Rückblick einen „Maximbillerismus“.
Jetzt also Deutschland, soeben ist hier sein Debütroman „Witz“ erschienen. Im Original ist das Buch schon zwölf Jahre alt, aber wenn man es jetzt liest, wundert man sich, wie der Übersetzer Ulrich Blumenbach es so schnell auf die Reihe bekommen hat. „Witz“ ist ein ausuferndes 900-seitiges Sprachkunstwerk von James Joyceschen Ausmaßen. Man hat die Kolloquien und Joshua-Cohen-Gesellschaften, die sich noch in hundert Jahren mit der Auslegung einzelner Kapitel beschäftigen, praktisch schon vor Augen.
Allein die semantischen Sedimentschichten, die sich in dem unschuldigen, einsilbigen Titel verbergen: „Witz“ ist das jiddische Wort für das deutsche „Scherz, Witz“, in vielen slawischen Sprachen aber auch das Suffix für den Sohn: Abramowitz ist der „Sohn von Abraham“. Es ist außerdem eine Silbe, die in Yad Vashem unzählige Male in die Wand geprägt ist und es ist natürlich die zweite Silbe des Wortes „Auschwitz“.
Joshua Cohen wuchs in einer religiösen Familie in New Jersey auf und besuchte eine jüdische Schule in New Jersey. Zu Hause sprach die Familie Englisch, modernes Hebräisch lernte er von seinem Vater, dem weniger religiösen, aber stärker zionistisch eingestellten Elternteil. Der Unterricht bestand aus vier Stunden täglich religiöser Unterweisung und zwei Stunden für alle anderen Fächer.
Dort, beim Thora-Studium, lernte er den Umgang mit Texten: Jeden Tag arbeitete er Texte durch, die er nicht verstand, zu denen es aber Kommentare gab, zu denen es wiederum Kommentare gab. Er könne kaum zum Ausdruck bringen, wie ihn das gelangweilt habe, sagt er, vor allem, weil er nicht daran geglaubt habe. Mit 16 flog er von der Schule, ein Jahr vor dem regulären Abschluss.
An den amerikanischen Universitäten dominierte damals das so genannte postmoderne Erzählen, metafiktionale Verfahren, die für sich in Anspruch nahmen, das Absolute zu unterlaufen, indem sie ihre Textlichkeit ausstellten. Für Cohen, der sich von der Literatur viel versprochen hatte, war die Postmoderne eine herbe Enttäuschung: Was an den amerikanischen Universitäten als neu und experimentell galt, hatte er schon in der Thora-Schule durchgearbeitet und er fand es weder aufregend noch provokant. Sein Debütroman war deshalb auch ein Versuch, der postmodernen Tristesse etwas entgegenzusetzen, das die Wirklichkeit der Fiktion gegenüber priorisierte.
Mit zwanzig ging Cohen nach Berlin, um für die jüdische Nachrichtenagentur JTA aus Osteuropa zu berichten. Wenn irgendwo in der Slowakei oder Rumänien ein jüdischer Friedhof von einem Stadionneubau bedroht wurde, war es Cohens Job, dorthin zu fahren und darüber eine Agenturmeldung zu schreiben. Das Themenfeld, für das er zuständig war, beschrieb Cohen einmal als „Todesporno-Tourismus“.
Sein Durchbruch als Journalist gelang ihm mit einer Geschichte über den Großvater des damaligen Präsidentschaftskandidaten John Kerry, der als Fritz Kohn in dem kleinen Dorf Horní Benešov in Mähren gelebt hatte. Joshua Cohen grub im lokalen Stadtarchiv die Geburtsurkunde aus. Mit der Zeit wurden die Texte, die er schreiben durfte, länger, er fing an für die New York Times und Harper’s Magazine zu schreiben. Während all dieser Zeit arbeitete er nebenbei an „Witz“, acht, neun Jahre lang, fast seine gesamten Zwanziger verbrachte er damit.
Das Buch geht auf eine spezifische Beobachtung zurück: Bei diesen Reisen in die Regionen, in denen kaum mehr Juden lebten, fiel Cohen auf, dass die neuen osteuropäischen Regierungen im Bemühen, sich nach Westen zu orientieren, konsequent jüdische Gedächtnisorte musealisierten. Sie renovierten Friedhöfe und setzten Synagogen wieder instand, hübschten alles auf, bis diese Erinnerungsorte amerikanischem Standards entsprachen. Plötzlich war die Plakette am Konzentrationslager Lublin-Majdanek nicht mehr nur auf Russisch, sondern auch auf Englisch und Französisch, plötzlich wurde Krakau-Kazimierz zu einem begehbaren Open-Air-Museum für jüdische Lebensart des 19. Jahrhunderts, plötzlich sah Prag aus, so Cohen, „wie Hitler es sich immer gewünscht hat: Wie ein Museum für eine ausgestorbene Rasse (race)“.
Cohen wurde klar, dass er Zeuge eines unumkehrbaren Prozesses war, der die Erfahrung der Schoah durch die Repräsentation ersetzte, was nicht weniger als ein Paradigmenwechsel ist. Erfahrung ist stets chaotisch und zerklüftet, vor allem Traumatisierte können das, was ihnen zugestoßen ist, selten in eine schlüssige narrative Ordnung bringen, es fehlt ihnen die Distanz. Diese narrative Unordnung, dieses innere Chaos aber ist die Sprache der Schoah.
Repräsentation hingegen hat immer einen bestimmten Stil, und damit fangen die Probleme an. Staatliche Repräsentation trieft für gewöhnlich vor feierlichem, historisierendem Kitsch, ähnlich wie der amerikanische Holocaust-Roman à la Jonathan Safran Foer. Wie aber sonst? Als Cohen Ende der Nullerjahre in Berlin zum ersten Mal eine junge Frau sah, die sich auf den Stelen des Holocaust-Mahnmals räkelte, um ein Selfie zu machen, fand er diesen Anblick „interessant“. Heute ist es ein Klischee, darüber überhaupt zu sprechen, damals aber wurde das Selfie gerade erst erfunden.
„Witz“ stellt die Repräsentationsfrage nun auf jeder Seite neu. Die Sprache ist ausufernd, verlabert, opulent. Auf jedes Adjektiv, so scheint es, folgt eine Reihe von Synonymen, als ginge es darum, so viel Vokabular wie möglich aufeinanderzustapeln, um eine Mauer aus Sprache zu errichten, die das, wovon man sich kein Bild machen soll, pietätvoll verbirgt. Das Unding an sich, begraben unter seinen Bildern. Wie Scheherazade erzählt die Erzählstimme in „Witz“ um ihr Leben, ohne auch nur einmal Luft zu holen, und weil das Vorhaben eben darin besteht, der Feierlichkeit eine andere Sprache entgegenzusetzen, ist sie meistens albern.
Alliterationen bechern hier „betont blechern“, die „heiteren Hetären hatten aus Häresie“ auch schon irgendwas gemacht. Selten ist die Anwesenheit eines Übersetzers so spürbar wie hier die von Ulrich Blumenbach. Es wimmelt vor Binnenreimen, die Assonanzen klingeln wie „klüngelnde Klunkern“, an einer Stelle ist Make-up „ein klarer Fall von Gesichtsklitterung“, und als einmal ein Bolide vorkommt, ist er natürlich: solide. Ernsthaftigkeit sei etwas, das man sich verdienen müsse, sagt Cohen, und er würde sich lieber den rechten Arm abhacken, als sich bei einer Ernsthaftigkeit erwischen zu lassen.
Die Handlung des Romans bietet in dieser Hinsicht keinen Anlass zur Besorgnis: Es geht um Benjamin Israelien, der am letzten Abend des 20. Jahrhunderts als erwachsener Mann mit Bart und Brille zur Welt kommt, als 13. Kind seiner Eltern und als ihr erster Sohn. Am selben Tag bricht eine Seuche aus, die sämtliche Juden der Welt dahinrafft und die nur die Erstgeborenen überleben. Die Welt ist in heller Aufruhr und treibt die Überlebenden aus Angst vor göttlicher Strafe in einem Lager auf Ellis Island zusammen.
Nach und nach sterben allerdings auch die Erstgeborenen, bis auf einen, bis auf Benjamin Israelien, der bald der letzte Jude der Welt ist. Die Medienmaschine läuft an, Benjamin avanciert zum Superstar, ist auf allen Kanälen präsent, eröffnet Autohäuser, das magische Nachwachsen seiner Vorhaut wird zum großen TV-Event. Ohne Juden, kommentierte die New York Times den besinnungslosen Philosemitismus in „Witz“ damals, sei das Judentum auf einmal äußerst populär. Die Nichtjuden identifizieren sich so gründlich mit Benjamin, dass sie eine neojüdische Sekte gründen, die schnell Mitglieder gewinnt und bald totalitäre Züge annimmt: Wer sich weigert, zum Judentum zu konvertieren, wird im letzten Drittel des Romans nach Polen deportiert, in das Arbeitslager Wasimmerwitz.
Weil die existierenden Wörter offenbar nicht ausreichen, erfinden Cohen und Blumenbach unentwegt neue. Als einmal der Blick aus dem Fenster beschrieben wird, gibt es dort – nur als Beispiel – das hier zu sehen: „zu Iglus umgedrehte eingefrorene Schuten und Skiffs, gestrandet auf abdriftfreiem Eis zwischen Prahmen, die als Berge die Gefrörnis überhöckern, die aufgegebene Leichter, die hoch und weiß die eisbewucherten Schlepper übergipfeln“.
Oder, auch typisch für das Buch, die manische Vokabel-Akkumulation in diesem Satz, der einen Blick über das Schlachterviertel von Brooklyn schildert: „Dann beginnt ihr Tagwerk, das Schlachten, das Umbringen von Fleisch, sein Zurechtschneiden zu Erzeugnissen, zu so vielfältigen Formen, wie es Appetite gibt, und ähnlich exartikuliert und unversöhnlich: Diese Augen der runden Allsehenden, Rinder in Querrippen, Kamm und Lenden, Ossobuco, Schulter- und Haxenbraten, Brust- und Schulterstücke, Schmetterlingssteaks, die durchs Zwielicht flattern, um den zu Skalb ausholenden Hackmessern zu entgehen, so lang und zerstückelt scharf gehalten, wie die Zähne eines hungerleidenden GOttes; (...)“. Eine halbe Seite geht dieser Satz noch weiter, eine absolut übliche Länge in diesem Buch.
Noch ist nicht abzusehen, wie Deutschland und seine Erinnerungskultur umgehen werden mit diesem Roman, der all die rituellen Selbstverständlichkeiten bitter und genialisch verlacht. Eine Möglichkeit wäre lauer Applaus, eine andere freundliches Weghören. Joshua Cohen selbst sagt heute, jenseits der vierzig und altersmilde, dass die aufdringlich kitschige Bildsprache, mit der die Schoah heute in Europa den Nachgeborenen vermittelt wird, aus der reinen Public-Relations-Perspektive vermutlich sogar richtig sei. Schließlich gehe es darum, ein möglichst großes, globales Publikum zu informieren, und Millionen Menschen gegenüber könne man nicht subtil sein.
Die Postmoderne war eine
Enttäuschung: kannte er alles
aus der Thora-Schule
Weil die existierenden Wörter
nicht reichen, erfinden
Cohen und Blumenbach neue
Joshua Cohen:
Witz. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling, Frankfurt am Main 2022. 906 Seiten, 38 Euro.
Der Schriftsteller Joshua Cohen, Jahrgang 1980. Sein jüngster Roman „The Netanyahus“ ist noch nicht übersetzt. Aber immerhin gibt es seinen Debütroman jetzt in dieser kongenialen Fassung von Ulrich Blumenbach.
Foto: Leonardo Cendamo/Getty Images
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Mal sehen, ob die deutsche Erinnerungskultur mit Joshua Cohens Roman „Witz“ klarkommt,
der ihre Rituale genialisch verlacht. Ein Treffen in Leipzig
VON FELIX STEPHAN
Am Abend vor seinem Auftritt auf der Leipziger Pop-up-Buchmesse in diesem Frühjahr saß der amerikanische Schriftsteller Joshua Cohen in seinem Hotelzimmer und verfolgte die Verleihung des National Book Critics Award in New York. Außer ihm selbst waren noch Rachel Cusk, Colson Whitehead und die spätere Gewinnerin Honorée Fanonne Jefferson nominiert, deren Roman über eine afroamerikanische Familie von Oprah Winfrey empfohlen worden war. Joshua Cohen machte sich keine Illusionen. Als zuvor sein Roman „The Netanyahus“ vorgestellt worden war, brauchte die Moderatorin mehrere Versuche, um den Titel auzusprechen. Cohen starrte auf sein eigenes Bild in der Ecke des Bildschirms, hinter sich an der Wand eine hässliche Fotografie von Leipzig, und je länger der Abend dauerte, desto betrunkener wurde er.
Der Roman ist außerdem gerade in Spanien, Frankreich und Israel erschienen, und Cohen ist überall persönlich vorstellig geworden. In Israel sei ihm nach einem Fernsehauftritt in der Tageszeitung Haaretz vorgeworfen worden, ein religiös geprägtes Hebräisch zu sprechen, aber säkulare Romane zu schreiben, was sich nicht gehöre. Normalerweise antworte er nie auf Kritiken, sagt er jetzt bei einem Treffen in Leipzig, aber er habe tagelang nichts zu tun gehabt in Tel Aviv, und ihm sei schrecklich langweilig gewesen. Deshalb habe er, wiederum in Haaretz, eine scharfe Entgegnung veröffentlicht, woraufhin in der israelischen Buchwelt eine Debatte losbrach. Die Erinnerung an den Aufruhr bereitet ihm sichtlich Freude; was er dort abgezogen hat, nennt er im Rückblick einen „Maximbillerismus“.
Jetzt also Deutschland, soeben ist hier sein Debütroman „Witz“ erschienen. Im Original ist das Buch schon zwölf Jahre alt, aber wenn man es jetzt liest, wundert man sich, wie der Übersetzer Ulrich Blumenbach es so schnell auf die Reihe bekommen hat. „Witz“ ist ein ausuferndes 900-seitiges Sprachkunstwerk von James Joyceschen Ausmaßen. Man hat die Kolloquien und Joshua-Cohen-Gesellschaften, die sich noch in hundert Jahren mit der Auslegung einzelner Kapitel beschäftigen, praktisch schon vor Augen.
Allein die semantischen Sedimentschichten, die sich in dem unschuldigen, einsilbigen Titel verbergen: „Witz“ ist das jiddische Wort für das deutsche „Scherz, Witz“, in vielen slawischen Sprachen aber auch das Suffix für den Sohn: Abramowitz ist der „Sohn von Abraham“. Es ist außerdem eine Silbe, die in Yad Vashem unzählige Male in die Wand geprägt ist und es ist natürlich die zweite Silbe des Wortes „Auschwitz“.
Joshua Cohen wuchs in einer religiösen Familie in New Jersey auf und besuchte eine jüdische Schule in New Jersey. Zu Hause sprach die Familie Englisch, modernes Hebräisch lernte er von seinem Vater, dem weniger religiösen, aber stärker zionistisch eingestellten Elternteil. Der Unterricht bestand aus vier Stunden täglich religiöser Unterweisung und zwei Stunden für alle anderen Fächer.
Dort, beim Thora-Studium, lernte er den Umgang mit Texten: Jeden Tag arbeitete er Texte durch, die er nicht verstand, zu denen es aber Kommentare gab, zu denen es wiederum Kommentare gab. Er könne kaum zum Ausdruck bringen, wie ihn das gelangweilt habe, sagt er, vor allem, weil er nicht daran geglaubt habe. Mit 16 flog er von der Schule, ein Jahr vor dem regulären Abschluss.
An den amerikanischen Universitäten dominierte damals das so genannte postmoderne Erzählen, metafiktionale Verfahren, die für sich in Anspruch nahmen, das Absolute zu unterlaufen, indem sie ihre Textlichkeit ausstellten. Für Cohen, der sich von der Literatur viel versprochen hatte, war die Postmoderne eine herbe Enttäuschung: Was an den amerikanischen Universitäten als neu und experimentell galt, hatte er schon in der Thora-Schule durchgearbeitet und er fand es weder aufregend noch provokant. Sein Debütroman war deshalb auch ein Versuch, der postmodernen Tristesse etwas entgegenzusetzen, das die Wirklichkeit der Fiktion gegenüber priorisierte.
Mit zwanzig ging Cohen nach Berlin, um für die jüdische Nachrichtenagentur JTA aus Osteuropa zu berichten. Wenn irgendwo in der Slowakei oder Rumänien ein jüdischer Friedhof von einem Stadionneubau bedroht wurde, war es Cohens Job, dorthin zu fahren und darüber eine Agenturmeldung zu schreiben. Das Themenfeld, für das er zuständig war, beschrieb Cohen einmal als „Todesporno-Tourismus“.
Sein Durchbruch als Journalist gelang ihm mit einer Geschichte über den Großvater des damaligen Präsidentschaftskandidaten John Kerry, der als Fritz Kohn in dem kleinen Dorf Horní Benešov in Mähren gelebt hatte. Joshua Cohen grub im lokalen Stadtarchiv die Geburtsurkunde aus. Mit der Zeit wurden die Texte, die er schreiben durfte, länger, er fing an für die New York Times und Harper’s Magazine zu schreiben. Während all dieser Zeit arbeitete er nebenbei an „Witz“, acht, neun Jahre lang, fast seine gesamten Zwanziger verbrachte er damit.
Das Buch geht auf eine spezifische Beobachtung zurück: Bei diesen Reisen in die Regionen, in denen kaum mehr Juden lebten, fiel Cohen auf, dass die neuen osteuropäischen Regierungen im Bemühen, sich nach Westen zu orientieren, konsequent jüdische Gedächtnisorte musealisierten. Sie renovierten Friedhöfe und setzten Synagogen wieder instand, hübschten alles auf, bis diese Erinnerungsorte amerikanischem Standards entsprachen. Plötzlich war die Plakette am Konzentrationslager Lublin-Majdanek nicht mehr nur auf Russisch, sondern auch auf Englisch und Französisch, plötzlich wurde Krakau-Kazimierz zu einem begehbaren Open-Air-Museum für jüdische Lebensart des 19. Jahrhunderts, plötzlich sah Prag aus, so Cohen, „wie Hitler es sich immer gewünscht hat: Wie ein Museum für eine ausgestorbene Rasse (race)“.
Cohen wurde klar, dass er Zeuge eines unumkehrbaren Prozesses war, der die Erfahrung der Schoah durch die Repräsentation ersetzte, was nicht weniger als ein Paradigmenwechsel ist. Erfahrung ist stets chaotisch und zerklüftet, vor allem Traumatisierte können das, was ihnen zugestoßen ist, selten in eine schlüssige narrative Ordnung bringen, es fehlt ihnen die Distanz. Diese narrative Unordnung, dieses innere Chaos aber ist die Sprache der Schoah.
Repräsentation hingegen hat immer einen bestimmten Stil, und damit fangen die Probleme an. Staatliche Repräsentation trieft für gewöhnlich vor feierlichem, historisierendem Kitsch, ähnlich wie der amerikanische Holocaust-Roman à la Jonathan Safran Foer. Wie aber sonst? Als Cohen Ende der Nullerjahre in Berlin zum ersten Mal eine junge Frau sah, die sich auf den Stelen des Holocaust-Mahnmals räkelte, um ein Selfie zu machen, fand er diesen Anblick „interessant“. Heute ist es ein Klischee, darüber überhaupt zu sprechen, damals aber wurde das Selfie gerade erst erfunden.
„Witz“ stellt die Repräsentationsfrage nun auf jeder Seite neu. Die Sprache ist ausufernd, verlabert, opulent. Auf jedes Adjektiv, so scheint es, folgt eine Reihe von Synonymen, als ginge es darum, so viel Vokabular wie möglich aufeinanderzustapeln, um eine Mauer aus Sprache zu errichten, die das, wovon man sich kein Bild machen soll, pietätvoll verbirgt. Das Unding an sich, begraben unter seinen Bildern. Wie Scheherazade erzählt die Erzählstimme in „Witz“ um ihr Leben, ohne auch nur einmal Luft zu holen, und weil das Vorhaben eben darin besteht, der Feierlichkeit eine andere Sprache entgegenzusetzen, ist sie meistens albern.
Alliterationen bechern hier „betont blechern“, die „heiteren Hetären hatten aus Häresie“ auch schon irgendwas gemacht. Selten ist die Anwesenheit eines Übersetzers so spürbar wie hier die von Ulrich Blumenbach. Es wimmelt vor Binnenreimen, die Assonanzen klingeln wie „klüngelnde Klunkern“, an einer Stelle ist Make-up „ein klarer Fall von Gesichtsklitterung“, und als einmal ein Bolide vorkommt, ist er natürlich: solide. Ernsthaftigkeit sei etwas, das man sich verdienen müsse, sagt Cohen, und er würde sich lieber den rechten Arm abhacken, als sich bei einer Ernsthaftigkeit erwischen zu lassen.
Die Handlung des Romans bietet in dieser Hinsicht keinen Anlass zur Besorgnis: Es geht um Benjamin Israelien, der am letzten Abend des 20. Jahrhunderts als erwachsener Mann mit Bart und Brille zur Welt kommt, als 13. Kind seiner Eltern und als ihr erster Sohn. Am selben Tag bricht eine Seuche aus, die sämtliche Juden der Welt dahinrafft und die nur die Erstgeborenen überleben. Die Welt ist in heller Aufruhr und treibt die Überlebenden aus Angst vor göttlicher Strafe in einem Lager auf Ellis Island zusammen.
Nach und nach sterben allerdings auch die Erstgeborenen, bis auf einen, bis auf Benjamin Israelien, der bald der letzte Jude der Welt ist. Die Medienmaschine läuft an, Benjamin avanciert zum Superstar, ist auf allen Kanälen präsent, eröffnet Autohäuser, das magische Nachwachsen seiner Vorhaut wird zum großen TV-Event. Ohne Juden, kommentierte die New York Times den besinnungslosen Philosemitismus in „Witz“ damals, sei das Judentum auf einmal äußerst populär. Die Nichtjuden identifizieren sich so gründlich mit Benjamin, dass sie eine neojüdische Sekte gründen, die schnell Mitglieder gewinnt und bald totalitäre Züge annimmt: Wer sich weigert, zum Judentum zu konvertieren, wird im letzten Drittel des Romans nach Polen deportiert, in das Arbeitslager Wasimmerwitz.
Weil die existierenden Wörter offenbar nicht ausreichen, erfinden Cohen und Blumenbach unentwegt neue. Als einmal der Blick aus dem Fenster beschrieben wird, gibt es dort – nur als Beispiel – das hier zu sehen: „zu Iglus umgedrehte eingefrorene Schuten und Skiffs, gestrandet auf abdriftfreiem Eis zwischen Prahmen, die als Berge die Gefrörnis überhöckern, die aufgegebene Leichter, die hoch und weiß die eisbewucherten Schlepper übergipfeln“.
Oder, auch typisch für das Buch, die manische Vokabel-Akkumulation in diesem Satz, der einen Blick über das Schlachterviertel von Brooklyn schildert: „Dann beginnt ihr Tagwerk, das Schlachten, das Umbringen von Fleisch, sein Zurechtschneiden zu Erzeugnissen, zu so vielfältigen Formen, wie es Appetite gibt, und ähnlich exartikuliert und unversöhnlich: Diese Augen der runden Allsehenden, Rinder in Querrippen, Kamm und Lenden, Ossobuco, Schulter- und Haxenbraten, Brust- und Schulterstücke, Schmetterlingssteaks, die durchs Zwielicht flattern, um den zu Skalb ausholenden Hackmessern zu entgehen, so lang und zerstückelt scharf gehalten, wie die Zähne eines hungerleidenden GOttes; (...)“. Eine halbe Seite geht dieser Satz noch weiter, eine absolut übliche Länge in diesem Buch.
Noch ist nicht abzusehen, wie Deutschland und seine Erinnerungskultur umgehen werden mit diesem Roman, der all die rituellen Selbstverständlichkeiten bitter und genialisch verlacht. Eine Möglichkeit wäre lauer Applaus, eine andere freundliches Weghören. Joshua Cohen selbst sagt heute, jenseits der vierzig und altersmilde, dass die aufdringlich kitschige Bildsprache, mit der die Schoah heute in Europa den Nachgeborenen vermittelt wird, aus der reinen Public-Relations-Perspektive vermutlich sogar richtig sei. Schließlich gehe es darum, ein möglichst großes, globales Publikum zu informieren, und Millionen Menschen gegenüber könne man nicht subtil sein.
Die Postmoderne war eine
Enttäuschung: kannte er alles
aus der Thora-Schule
Weil die existierenden Wörter
nicht reichen, erfinden
Cohen und Blumenbach neue
Joshua Cohen:
Witz. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling, Frankfurt am Main 2022. 906 Seiten, 38 Euro.
Der Schriftsteller Joshua Cohen, Jahrgang 1980. Sein jüngster Roman „The Netanyahus“ ist noch nicht übersetzt. Aber immerhin gibt es seinen Debütroman jetzt in dieser kongenialen Fassung von Ulrich Blumenbach.
Foto: Leonardo Cendamo/Getty Images
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