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Was ist im Keller des Hölderlin-Gymnasiums zwischen Viktor und Tizia nach einer Theaterprobe geschehen? Ist Viktor für das Gymnasium noch tragbar? Erst zwölf Jahre später, inzwischen ist Viktor Haberland Anfang dreißig und arbeitet für ein deutsches Kulturinstitut in Lissabon, trifft er wieder auf Tizia. Ein neuer großer Roman von Bodo Kirchhoff, spannungsvoll und meisterhaft erzählt.

Produktbeschreibung
Was ist im Keller des Hölderlin-Gymnasiums zwischen Viktor und Tizia nach einer Theaterprobe geschehen? Ist Viktor für das Gymnasium noch tragbar? Erst zwölf Jahre später, inzwischen ist Viktor Haberland Anfang dreißig und arbeitet für ein deutsches Kulturinstitut in Lissabon, trifft er wieder auf Tizia. Ein neuer großer Roman von Bodo Kirchhoff, spannungsvoll und meisterhaft erzählt.
Autorenporträt
Bodo Kirchhoff, 1948 geboren, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Er hat viele renommierte Preise gewonnen, u.a. den Kritikerpreis für Literatur, den Preis der LiteraTourNord und die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz.2016 ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis für den Roman "Widerfahrnis".
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit diesem Roman sieht Rezensent Hubert Spiegel Bodo Kirchhoff auf der Höhe seines Handwerkes stehen, nicht durchgehend allerdings auf der Höhe seiner Kunst. So bewundert Spiegel zwar die komplizierte Erzählstruktur des Romans, in dem er drei Liebesgeschichten miteinander konkurrieren sieht. Viele Figuren und Handlungsabläufe in diesem Buch über Liebe, Lust und Gier findet der Rezensent so gut beobachtet und erzählt, dass er immer wieder an die Kammerspiele David Mamets denken muss. Die Kehrseite dieser handwerklichen Finessen besteht für Spielgel in den klischeehaften Menschenbildern des Romans. Auch scheint Spiegel die Nähe zur Unterhaltungs- und Kolportageliteratur (samt einer Joachim-Unseld-Einlage) nicht immer ganz positiv zu bewerten. Und doch: Streckenweise ist er richtig hingerissen von Kirchhoffs Prosa.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2004

Hölderlins Heizungskeller
Zarte Gewalt, gewaltige Zärtlichkeit: Neues von Bodo Kirchhoff

Es ist jetzt genau ein Vierteljahrhundert her, daß der Schriftsteller Bodo Kirchhoff die literarische Bühne betrat. Die abgegriffene Bühnenmetapher ist hier einmal angebracht, denn Bodo Kirchhoff hat wie nur wenige seiner Zunft die theatralischen Aspekte seiner Profession und ihres Betriebs im Blick. Nicht zufällig hat er mehrere Bühnenstücke geschrieben, darunter "Body-Building" von 1979, "Wer sich liebt" (1984) oder "Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf" (1995). Ein recht ordentlich entwickelter Hang zur Selbstdarstellung hat ihm oft den Vorwurf des Pfauenhaften eingetragen; die Konsequenz, mit der er das Erotische auch in seinen abseitigen Aspekten zum Thema seiner Bücher machte, führte dazu, daß dieser Autor in den achtziger Jahren von vielen als eitler Erotomane abgestempelt wurde: Kirchhoff war der schöne Spezialist für den Rotlichtbezirk der deutschen Prosa. Und lange Zeit sah es aus, als hafte dieses Etikett an ihm wie die Fliege am Leim. Noch heute, gut zwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Erzählungsbandes "Die Einsamkeit der Haut", werden Fernsehbeiträge über den Schriftsteller und seine Bücher mit Szenen aus Bordellen und Nachtclubs illustriert.

Kirchhoff dürfte nicht viel Energie darauf verschwendet haben, dieses Klischee abzuschütteln. Heute muß man sagen: Er hat es überwunden, indem er ihm treu blieb. Nach wie vor steht das weite Feld der Erotik im Zentrum seines Werks, nach wie vor ist er hin- und hergerissen zwischen dem Licht der Scheinwerfer und der Einsamkeit der Schriftstellerklause. Er geißelt den Zustand der literarischen Öffentlichkeit und bemüht sich zugleich um eine eigene Literatursendung im Fernsehen, einem Medium, das er als Drehbuchschreiber kennengelernt hat und dessen Gesetze für ihn ebenso gelten wie für jeden anderen. So pendelt Bodo Kirchhoff emsig zwischen Laufsteg und Gehäus'.

Auch in seinem neuen Roman spielt die Bühne eine Rolle. Nach den Proben zu einer Schüleraufführung von Shakespeares "Sommernachtstraum" findet die Liebesszene zwischen Pyramus und Thisbe im Heizungskeller des Hölderlin-Gymnasiums eine Fortsetzung. Bei Musik und Kerzenlicht kommen sich die Schülerin Tizia und der Ich-Erzähler Viktor näher. Der Hausmeister hört Geräusche, deren Deutung er lieber den Hierarchen des Gymnasiums überläßt, die beim benachbarten Griechen sitzen, um den Geburtstag der Direktorin zu feiern. Als das alarmierte Lehrerkollegium sich vor der Tür des Heizungskellers drängt, den Fleischspieß noch in der Hand, die geschmorten Auberginen in der Alufolie, scheint die Situation peinlich, aber nicht dramatisch. Erst als am nächsten Tag Tizia und ihre Mutter eine Vergewaltigung beim Lehrerkollegium anzeigen (nicht aber bei der Polizei), stehen die Lehrer des "Hölderlin" vor einem Problem, das ernster ist als jede Versetzungsfrage: Wem sollen sie glauben, den Anschuldigungen Tizias, die Viktors Schulverweis fordert, oder den Unschuldsbeteuerungen des Ministersohns Viktor?

Ein Schulroman also? Nein, denn die Passagen des Buches, in denen ausführlich die entscheidende Sitzung des Kollegiums beschrieben wird, sind zwar ein Kabinettstückchen des Genres, aber nicht das Herz dieses Buches. Kirchhoff, ein Menschenbeobachter, versammelt Klischeebilder - den dümmlichen Sportlehrer, den wunderlichen Philologen, die vertrocknete Stellvertreterin, das Ehepaar, dessen Herz für Henna im Haar, die "Dritte Welt" und alle Opfer schlägt - und er erfüllt sie alle im Handumdrehen mit Leben. Das ist so scharf beobachtet, so witzig, dramaturgisch geschickt und spannungsreich erzählt, daß man an die Kammerspiele von David Mamet denken muß. Wie Mamet hat Kirchhoff vor dem Klischee ebensowenig Scheu wie das Leben selbst.

All das zeigt Kirchhoff auf der Höhe - nicht seiner Kunst, aber seines Handwerks. Ist das ein Kompliment? Ja und nein, denn natürlich hat Kirchhoff mehr im Sinn, als unter Beweis zu stellen, daß ein perfekter Unterhaltungsschriftsteller an ihm verloren gegangen ist. Deshalb hat er eine komplizierte Erzählstruktur ersonnen. Was wir über die Konferenz erfahren, ist Viktors bearbeitete Fassung eines Protokolls, das sein Deutsch- und Philospohielehrer Branzger verfaßt hat. Lehrer und Schüler haben unmittelbar nach dem Vorfall im Heizungskeller ein Geschäft verabredet: Branzger erzählt Viktor den Verlauf der Konferenz, wenn Viktor im Gegenzug dem Lehrer gesteht, was wirklich zwischen ihm und Tizia geschah. Zum Zeitpunkt von Viktors Bericht liegen diese Ereignisse mehr als zehn Jahre zurück. Viktor ist mittlerweile Mitarbeiter im Goethe-Institut von Lissabon, wo er eine Abendveranstaltung zum Thema "Das traurige Ich" vorbereiten. Um den melancholischen, fadoumflorten Portugiesen deutsches Herzeleid nahezubringen, sucht er eine junge Schauspielerin, die möglichst ohne Honorar deutsche Lyrik vorträgt. Er findet sie am Stadttheater in der Provinz. Es ist Tizia, die der Schauspielerei also die Treue gehalten hat. Steckt darin vielleicht ein Hinweis auf mangelnde Glaubwürdigkeit? Weil Viktor sie einlädt, ohne sich zu erkennen zu geben, und wir immer noch nicht wissen, was damals geschah, muß man zumindest fürchten, es sei nun das zweite Mal, daß Viktor die Frau, die er begehrt, in einen Hinterhalt lockt.

Während er auf Tizias Ankunft wartet und sich unversehens ein Techtelmechtel mit der Institutsleiterin anbahnt, schreibt er jenen Roman, den Lehrer Branzger von seinem Lieblingsschüler verlangt hatte, ohne es auszusprechen. Branzgers Deal diente nicht nur der Befriedigung der masochistisch angehauchten Neugier eines kranken alten Mannes, der unglücklich in seinen Schüler verliebt war, sondern sollte Viktor etwas lehren, was auf keinem Lehrplan verzeichnet ist - das Kunststück, über seine eigenen Gefühle nachzudenken und zu sprechen, Rechenschaft abzulegen nicht in moralischem, sondern in poetischem Sinn.

Liebe, Begehren und Verlangen, Lust, Gier und Gewalt - all dies steht im Zentrum von Branzgers Denken und von diesem Roman. Sein Titel bezieht sich auf jenen Ort an der portugiesischen Küste, wo das Land endet und das Meer beginnt, wo Europa sich mit dem Atlantik vermählt. Das ist Kirchhoffs bezwingend schönes Bild für die Liebe: Sie ist der Ort, an dem wir den Boden unter den Füßen verlieren und von Wellen getragen werden, die uns im nächsten Moment zu verschlingen drohen. Auch den Abgrund in Kauf zu nehmen, das ist eine der Einsichten, die der philantropische Egomane Branzger vermitteln will - wenn es sein muß, mit Gewalt.

Wo die Gewalt anfängt, wenn zwei sich lieben, das ist eine der Fragen, die Bodo Kirchhoff beschäftigen. Im Roman sieht sich das Lehrerkollegium plötzlich mit ihr konfrontiert. Wer über die Liebe spricht, das ist Kirchhoffs Moral, muß damit rechnen, daß es ihm die Eingeweide von innen nach außen kehrt, ob er will oder nicht. Den Beweis läßt er das Lehrerkollegium ebenso führen wie Viktor und den alten Branzger selbst, der nicht nur seinen Schüler liebt, sondern auch eine leidenschaftliche Affäre mit dessen Theaterlehrerin Kressnitz hatte. Wie Tizia und Viktor standen auch Branzger und seine junge Kollegin auf einer gemeinsamen Klassenreise nach Portugal an jenem Punkt der Küste, wo das Meer beginnt.

So konkurrieren also drei Liebesgeschichten in diesem Roman miteinander (und etliche andere spielen am Rande ihre Rolle): Viktor war versessen auf die schöne Tizia, Branzger, der Mann, der von sich sagt, er müsse lieben ohne Unterlaß, liebt seinen Schüler und trauert der Kressnitz nach. Und hier, in der Affäre mit der verschlossenen Kunstlehrerin, scheint plötzlich wieder jener Branzger auf, der schon in Bodo Kirchhoffs Prosadebüt aus dem Jahr 1979 die Hauptfigur abgab. In der Novelle "Ohne Eifer, ohne Zorn" war Branzger ein einsamer Antiheld mit abstoßenden Neigungen. Eine unsympathische Figur, nicht nur wegen ihrem Hang zu koprophilen und nekrophilen Handlungen. Ein Vierteljahrhundert später ist Branzger ein auf anrührende und abstoßende Weise liebevolles Wesen, gefährlich, klug, zärtlich und skrupellos. In den Zwiegesprächen zwischen Lehrer und Schüler, ihrem schillernden Spiel von Werben und Gewähren, Verstehen und Verweigern, erweist sich Kirchhoff wiederum als auf der Höhe - nicht nur seines Handwerks, sondern auch seiner Kunst. Tizia, die schöne, kluge, unerreichbar scheinende Tizia, kann Viktor nur von außen sehen. Er begehrt eine hübsche Hülle. Den alten, nicht nur von Krankheit gezeichneten Branzger hingegen sieht Viktor, wie er ist: ein abstoßendes, geistfunkelndes, gefährliches Wrack, das ihn kaum zu berühren wagt, ihm aber näher kommt als jeder andere Mensch zuvor. Von Branzger lernt Viktor, daß das Meer schon weit außerhalb des Bettes seinen Anfang nimmt.

Die "Einsamkeit der Haut" ist noch immer Kirchhoffs Thema, aber die Rotlichtbezirke der Prosa hat er endgültig hinter sich gelassen. Nun muß er nur noch die Koketterie ablegen. Denn was anderes als Koketterie ist es, wenn in gemäßigten Abständen Frankfurter Lokalprominenz ohne jede dramaturgischen Begründung Erwähnung findet, wenn die Oberbürgermeisterin, der ehemalige Kulturdezernent oder eine Nachrichtensprecherin mit ein paar Zeilen gegrüßt werden. Ein Freundschaftsdienst mag es sein, wenn Kirchhoffs enger Freund und Verleger Joachim Unseld auf wenigen Seiten als guter Freund Branzgers beschrieben wird, der mit einer mythischen Vaterfigur ringt und aus dem Unternehmen ausscheidet, das der Erbe schließlich an die Stiefmutter verliert. Die kleine Suhrkamp-Kolportage hat im Roman zwar ihre Funktion als Beispiel einer wunderbaren Männerfreundschaft, aber die Frage bleibt: Was soll's? Man kann darüber aber nicht ohne große Mühen hinweglesen, sondern man tut es auch. Kirchhoff mag in seinem neuen Roman zwar über solche Kieselsteine stolpern, aber wo das Land endet und das Meer beginnt, ist seine Prosa oft von bewundernswerter Sicherheit.

Bodo Kirchhoff: "Wo das Meer beginnt". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004. 307 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.09.2004

Mit heiler Haut im Mark erschüttert
Sommernachtstraum, später: Bodo Kirchhoffs Roman „Wo das Meer beginnt”
Gleich zu Beginn ein Schäferstündchen, das bei der Frau als Vergewaltigung ankommt; gegen Ende des Buchs Beihilfe zum Selbstmord. Bodo Kirchhoff traut Viktor Haberland in seinem neuen Roman „Wo das Meer beginnt” einiges zu. Schüler Haberland ist mit Tizia Jentsch zur Zeit des ersten Irak-Kriegs auf der Bühne des Frankfurter Hölderlin-Gymnasiums in Shakespeares „Sommernachtstraum” zu sehen gewesen. Anschließend haben die beiden ihre Pyramus- und Thisbe-Liebesgeschichte im Heizungskeller des „Hölderlin” etwas verlängert. Bis Tizia Jentsch aufschreit, und die Lehrer, die im Restaurant nebenan speisen, vom Hausmeister geholt werden. Am nächsten Morgen fordert Tizia Jentsch Haberlands Schulausschluss, ohne ihn anzuzeigen. Zwölf Jahre später, wieder ist Bagdad in den Schlagzeilen, erzählt Haberland, inzwischen Angestellter des Goethe-Instituts Lissabon, auf der Basis der Aufzeichnungen seines verstorbenen Deutschlehrers Branzger, von Portugal aus die ganze Geschichte. So wenigstens stellt er es dar.
Bodo Kirchhoff ist seit langem ein ebenso beliebter wie misstrauisch beäugter Provokateur. Zu viel Sex aus männlicher Sicht sei in seinen Büchern, zu geläufig erzähle er seine Geschichten, zu machohaft trete er auf. Und auch für „Wo das Meer beginnt” stimmt, dass Kirchhoff seine Politik der Zuspitzung der Beziehung von Sex und Gewalt weiter verfolgt. Denn was soll das Herumdeuteln: Wenn eine Frau sagt, es war eine Vergewaltigung, dann war es so! Oder nicht?
Eine andere Provokation, die die Wahrnehmung der ersten mildert, ist diesmal das Biedermeier des Settings. Schon diese Namen: Haberland, Kressnitz, Branzger, Jentsch. Und die prekäre Sitzung des Frankfurter Lehrerkollegiums, die Kirchhoff in einer Binnenerzählung von Branzger, der dabei war, berichten lässt, wird auf Dutzenden von Seiten zur humoristisch gehaltenen Klischee-Idylle ausgebreitet. Holzschnitt-Figuren dürfen sich begegnen: Das beflissen-spießige, alles verstehende Ex-68er-Ehepaar Stubenrauch, der immer etwas zu elegante, zu Frauenverführung und Selbstüberschätzung neigende Jude Leo Blum sowie der tätowierte Turnlehrer Graf, der seine Dummheit wacker in den Vordergrund stellt. Provinzchargen allesamt, und das vom weltläufigen Kirchhoff, der einst durch seine „Mexikanische Novelle” Zeitschriften-Glamour gewann.
Trotzdem ist „Wo das Meer beginnt” nicht die heimatverbundenere Variante des „Schundromans”, mit dem Kirchhoff vor zwei Jahren eine subtile Parodie auf Gangsterstorys geliefert hatte. Besonders Branzger, die eigentliche Hauptfigur, der schwerkranke alte Lehrer, der Haberland vor dem Schulausschluss bewahrt, ist eine der vielschichtigsten Figuren, die Kirchhoff je gelungen sind. Von außen gesehen trägt er ebenfalls bekannte Züge, wirkt er wie eine knorrige Junggesellenfigur aus dem 19. Jahrhundert, nur zeitgemäß bisexuell aufgemotzt. Doch dieser Sonderling verbirgt unter seiner wortkargen Misanthropie die Leidenschaft zur Wahrheit. Als Branzger Haberland in den Tagen nach dem Vorfall zu sich ruft, um von ihm zu erfahren, wie es wirklich war, tritt er auf, als sei ihm nichts Menschliches fremd, und drängt sich verständnisinnig in das Vertrauen des jungen Parzival: „Ich kenne das Mädchen und ich kenne dich, Haberland, und ich weiß, was ein Schulkeller ist und wie man sich fühlt bei der Theaterprobe, Sommernachtstraum . . .”
Das traurige Ich
So der Anfang des Romans, doch je verschlungener die Frage nach dem Charakter von Liebe wird und je ungeklärter erscheint, wie viel Gewalt dazu gehören kann („im Mark erschüttert werden, und doch mit heiler Haut davonkommen, das eine wie das andere, mehr kann man gar nicht wollen”), desto deutlicher wird auch, dass die Beantwortung der Frage zwar mit dem Graben in der Vergangenheit beginnt, dass es jedoch mindestens so wichtig ist, zu verfolgen, was anschließend an die Gewalt passiert: Zwölf Jahre nach dem Vorfall im Heizungskeller sitzt Haberland in Lissabon und sucht für die Abendveranstaltung „Das traurige Ich” eine Schauspielerin. Der Name Tizia Jentsch begegnet ihm, Staatstheater Saarbrücken, von diesem Moment an kann er nicht anders. Er versteckt sich hinter der Institutsleiterin, sie lädt Tizia ein, diese sagt zu. Worauf Haberland die Plastiktüte mit Branzgers Notizen erst hervor holt und sich schreibend mit der Vergangenheit zu befassen beginnt, aber vor allem auch mit dem Warten auf den besagten Abend, das den ganzen Roman dramaturgisch glänzend zusammen hält. Denn die Frage lautet nicht nur, wie es gewesen ist, sondern auch, wie es weitergehen wird mit den beiden.
Zur dramaturgischen Einheit passt die stilistische. Den ganzen Roman hindurch hält Kirchhoff den bekannt gelassenen Ton seines eleganten Parlando, das er durch eine immer wieder virtuose, sich gelegentlich über zwanzig Zeilen hinziehende und doch übersichtlich bleibende Satz-Mischung aus Aussagen und Einschüben bildet: „Wir saßen nun einfach beieinander, jeder den Kopf im Nacken, mit Blick auf eins der Fenster, auf ein tintiges Blau im Vorhangspalt, und ich weiß nicht mehr, wer von uns, er oder ich, schließlich als erster das Ende der Nacht bemerkt hat und kurz einen Finger hob, Richtung Fenster; ich weiß nur, dass danach noch etwas Zeit verging und der Fuß wieder zu bluten begann und dass mein alter Lehrer Branzger plötzlich Ich verblute gesagt hat, ehe er meine Hand nahm und (. . .).”
In diesem Ton wirkt jeder Abgrund gespenstisch und doch auch leicht, erzeugt und aufgehoben durch Rhythmus und Melodie der Sprache, die in den meisten Fällen auch den aktuellen Kontext erträgt, den Kirchhoff seinem Konzept von Gegenwart schuldig zu sein glaubt: Amüsant ironisch konfrontiert er Haberlands Überlegungen zur eigenen Willensfreiheit im Heizungskeller mit Spekulationen zur Hirnforschung, denn der Abend, den Haberland vorbereitet, wird unter dem Titel „Das traurige Ich” eine pikante Kombination präsentieren: Die Portugiesen tragen Fado vor und demonstrieren Saudade, die Deutschen schicken einen Herrn vom Max-Planck-Institut, der Traurigkeit mit ein paar Formeln erklären soll. Haberland muss sich einlesen.
Das zweite Hauptthema des Buchs ist das Alter. Es ist nicht nur Branzgers Angelegenheit, auch die anderen trüben Lehrerfiguren, vom alternden Casanova Blum bis zum noch jungen späten Mädchen Kressnitz, alle leben sie schon mit dem Trauerrand, der wissen lässt, dass Lust und Liebe vergänglich sind. Und selbst Tizia Jentsch und Viktor Haberland, die sich schließlich, kaum über dreißig, noch einmal treffen, haben schon ausgespielt: „Als sie mich ansieht, eine Hand in der Höhe des Kinns, wie um zu winken, und die andere im Haar, sind wir beide die ältesten Menschen, die ich kenne.”
HANS-PETER KUNISCH
BODO KIRCHHOFF: Wo das Meer beginnt. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt. Roman. Frankfurt am Main 2004. 307 Seiten, 19,90 Euro.
Leben mit dem Trauerrand, der wissen lässt, dass Lust und Liebe vergänglich sind.
Foto: Regina Schmeken
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Ein meisterhaft erzählter Roman über Liebe und Eros, über die Spannung zwischen Körper und Sprache, über Situationen der Grenzüberschreitung. Bernd Kielmann Buch-Magazin, Juli 2017