Kanada, 1938: Norma Joyce ist noch ein Kind, als der charismatische Botaniker Maurice auf ihrer Farm auftaucht und Leben in den langweiligen Alltag der Familie bringt. Die Achtjährige verliebt sich auf Anhieb in ihn und versucht von da an, die einzige Rivalin, ihre ältere Schwester Lucinda, im Kampf um die Gunst des jungen Mannes auszustechen. Keine von den beiden ahnt, dass die Begegnung mit Maurice ihr weiteres Schicksal unwiderruflich bestimmen wird.
Elizabeth Hay erzählt in ihrem Roman nicht nur die Geschichte einer großen, zerstörerischen Liebe, sie beeindruckt auch durch die Sinnlichkeit, mit der sie die Schönheit von Landschaften heraufbeschwört.
Elizabeth Hay erzählt in ihrem Roman nicht nur die Geschichte einer großen, zerstörerischen Liebe, sie beeindruckt auch durch die Sinnlichkeit, mit der sie die Schönheit von Landschaften heraufbeschwört.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2002Jane Eyre aus Saskatchewan
Die Steppe lebt: Das Romandebüt der Kanadierin Elizabeth Hay
Sas - kat - che - wan. Scharf und waagerecht schneiden die Silben die Luft wie der Wind jene karge nordamerikanische Landschaft, die "nicht flach ist, sondern nur beinahe eben, und das beinahe macht ihre Schönheit aus, und das eben gibt sie dem wildesten Wetter preis". Ontario dagegen klingt warm, rund, verheißungsvoll: nach Apfelkuchen. Im Depressionsjahr 1938 sehnt sich die achtjährige Norma Joyce aus dem rauhen Saskatchewan und dem Haus mit den gegen den Präriesturm "bandagierten Fenstern" in den mit "Äpfeln übersäten Osten".
Zunächst aber kommt das begehrte Obst zu ihr und ihrer älteren Schwester im Rucksack von Maurice Dove, einem "Wetterstudenten" aus Ottawa. Die Leute haben den jungen Botaniker zu den Hardys geschickt, da soll er nachforschen, warum der kleine Hügel, auf dem die Farm steht, allen Niederschlag bekommt, während der Rest der Gegend trocken ausgeht.
Der eloquente, gutaussehende Student interessiert sich für Wind und Regen, für Gräser, Samen und Blätter, ein Archivar dieser urwüchsigen Landschaft, der bei den Hardy-Schwestern die Sehnsucht nach einem Mann mit geraden weißen Zähnen und roten Lippen weckt. Er logiert bei ihnen unterm Dach und besiedelt ihre Mädchenträume. Immer wieder kommt er zum Forschen und Flirten, umgarnt die fleißige, hübsche Blondine Lucinda, spielt mit der kratzbürstigen, unscheinbaren Brünetten Norma. Kurz vor dem Krieg bleibt sein Besuch unerwartet aus. Eifersüchtig hatte Norma den an ihre Schwester gerichteten alles erklärenden Absagebrief verschwinden lassen. Eine Lebensbürde, wie sich herausstellt, denn Lucinda bleibt auf mehr als dem Zitronenkuchen sitzen und vertrocknet wie der Prärieboden unter der Dürre. Vater Hardy verkauft die Farm und zieht in die Gartenstadt Ottawa, wo Norma das Gymnasium besucht und Lucinda in der Küche den Nachbarn die Haare schneidet. Alles geht gut, bis ihnen Maurice Dove wieder über den Weg läuft.
Der Sommer 45 wird für den Kriegsheimkehrer zum kurzweiligen Interim. Wie "eine behutsame Diebin" arbeitet die inzwischen sechzehnjährige Norma an dem, was der älteren Schwester verwehrt geblieben ist. Sie bekommt es, aber nur für kurze Zeit. Danach zieht Dove gen Süden, um eine vielversprechende Stelle am Botanischen Garten in New York anzutreten. Norma folgt ihm heimlich mit ein paar von der Schwester geklauten Dollars. Sie ist schwanger, doch der junge Wissenschaftler, ehrgeizig und standesbewußt, will weder Kind noch Frau, jedenfalls nicht dieses unscheinbare Präriemädchen. Wer heiratet schon die Kleine von nebenan! Norma ist verletzt, ohne überrascht zu sein, und wird sich als so robust wie die Landschaft erweisen, der sie entstammt.
Sie wird um Liebe und Leben kämpfen, so gut es eben geht, indem sie in einer kleinen Druckerei ihr Geld verdient, Bilder malt, ihren Sohn allein großzieht, indem sie lernt, sich wie eine Schlange immer wieder zu häuten. Hartnäckig und geschickt erkämpft sie Maurices Zuneigung für den gemeinsamen Sohn, bis er diesen sogar adoptiert, was nichts an seiner Zurückhaltung ihr gegenüber ändert. Sie wird erleben müssen, wie sich der Sohn von ihr wie von einer verblassenden Sonne ab- und dem Vater zuwendet. Immer wieder hofft sie doch noch auf eine Zukunft mit Maurice, der als berühmter Buchautor nach Oxford entschwindet und mit einer neuen Frau zurückkehrt. Eine Handvoll Zärtlichkeit nimmt sie sich von Frank, dem alten Druckereibesitzer, nicht mehr und nicht weniger. Als der Vater gebrechlich wird, kehrt sie nach Ottawa zurück, um ihn zu pflegen, und nach seinem Tod wird sie noch einmal nach Saskatchewan reisen, wo sie die Vision des Vaters von einer "fruchtbaren Weite" zur "Farm als Fabrik" pervertiert findet. Der Hof auf dem Hügel ist längst einer häßlichen Agrarindustrieanlage gewichen. Sie spürt den "erschütternden Verlust der Landschaft", die in ihrer gewaltigen Dimension letztlich jedoch jeder Vereinnahmung trotzen kann.
Das Romandebüt der Kanadierin Elizabeth Hay ist ein in seiner unpreziösen Klarheit schönes und darin geradezu erfrischend altmodisches Buch, in dem sich die Liebesgeschichten zwischen Menschen und Landschaften ganz allmählich ausbreiten wie jene Weiten, an die sich das Auge nur zögernd gewöhnt. "Saskatchewan, so bitter, hartnäckig, aufmerksam. Ontario, so sorglos und empfänglich." Dazwischen das steinerne New York, wo Pfoten und Schnäbel zu Türklopfern werden, Häuser zu Back- oder Sandsteinfelsen. Alles wird erzählt mit den Augen der die Landschaften malenden Heldin. Ein Roman über sich in ihrer Ungleichheit gleichende, auf obsessive Weise unglückliche Paare, literarische Charaktere, die, nachdem die letzte Seite gelesen ist, ob wir es wollen oder nicht, in uns weiterleben, wie es nur großen Romanfiguren vorbehalten ist. Maurice und Norma Joyce, die sich in ihrer Beharrlichkeit zur Selbstverwirklichung auf geradezu symbiotische Art treffen, die Hardy-Schwestern, zusammengeschweißt in der unerwiderten Liebe zum gleichen Mann und doch so verschieden, das rührende, kinderlose Arbeiter-Unternehmerpaar Frank und Hilda, und Norma Joyce selbst, die einst nur Joyce war, bis ihr Zwillingsbruder Norman im Alter von zwei Jahren starb und sie seinen Namen übernahm. Eine Jane Eyre im zwanzigsten Jahrhundert, aus Saskatchewan.
Elisabeth Hay selbst kommt aus Ontario, arbeitete in Winnipeg, Mexiko und New York, als Rundfunkjournalistin, Dozentin und Lektorin. Heute lebt die Fünfzigjährige in Ottawa. Bisher liegen zwei Sachbücher und zwei Bände mit Kurzprosa von ihr vor. Auf einer Zugreise durch die kanadische Steppe wurde Hay zu diesem Roman inspiriert, der mit dem Mythos des vom Wind der Modernisierung verwehten Landes und seiner Menschen an die Bücher der Amerikanerin Annie Proulx erinnert, einer Chronistin des Farm- und Landsterbens. Proulx schreibt mit kratziger Feder, mit Hang zum skurrilen Detail und einem scharfen Blick für die Mikrokosmen der Farmer, während die soziale Dynamik der Vor- und Nachkriegszeiten bei Hay hinter ihren lyrisch-sinnlichen Bildern von großer epischer Schönheit zurücktritt.
So legt sich über die starken Charaktere Norma und Maurice gleichsam ein elegischer Schleier, während die düster-skurrilen Geschichten der in Wyoming lebenden Pulitzer-Preisträgerin Proulx fast heiter erscheinen. Doch wie Annie Proulx kommt auch Elizabeth Hay eines zugute: die Gnade ihrer späten literarischen Geburt - Lebenserfahrung.
SABINE BERKING
Elisabeth Hay: "Wo der Regen fällt". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Christ. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2001. 350 S., geb., 22,49.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Steppe lebt: Das Romandebüt der Kanadierin Elizabeth Hay
Sas - kat - che - wan. Scharf und waagerecht schneiden die Silben die Luft wie der Wind jene karge nordamerikanische Landschaft, die "nicht flach ist, sondern nur beinahe eben, und das beinahe macht ihre Schönheit aus, und das eben gibt sie dem wildesten Wetter preis". Ontario dagegen klingt warm, rund, verheißungsvoll: nach Apfelkuchen. Im Depressionsjahr 1938 sehnt sich die achtjährige Norma Joyce aus dem rauhen Saskatchewan und dem Haus mit den gegen den Präriesturm "bandagierten Fenstern" in den mit "Äpfeln übersäten Osten".
Zunächst aber kommt das begehrte Obst zu ihr und ihrer älteren Schwester im Rucksack von Maurice Dove, einem "Wetterstudenten" aus Ottawa. Die Leute haben den jungen Botaniker zu den Hardys geschickt, da soll er nachforschen, warum der kleine Hügel, auf dem die Farm steht, allen Niederschlag bekommt, während der Rest der Gegend trocken ausgeht.
Der eloquente, gutaussehende Student interessiert sich für Wind und Regen, für Gräser, Samen und Blätter, ein Archivar dieser urwüchsigen Landschaft, der bei den Hardy-Schwestern die Sehnsucht nach einem Mann mit geraden weißen Zähnen und roten Lippen weckt. Er logiert bei ihnen unterm Dach und besiedelt ihre Mädchenträume. Immer wieder kommt er zum Forschen und Flirten, umgarnt die fleißige, hübsche Blondine Lucinda, spielt mit der kratzbürstigen, unscheinbaren Brünetten Norma. Kurz vor dem Krieg bleibt sein Besuch unerwartet aus. Eifersüchtig hatte Norma den an ihre Schwester gerichteten alles erklärenden Absagebrief verschwinden lassen. Eine Lebensbürde, wie sich herausstellt, denn Lucinda bleibt auf mehr als dem Zitronenkuchen sitzen und vertrocknet wie der Prärieboden unter der Dürre. Vater Hardy verkauft die Farm und zieht in die Gartenstadt Ottawa, wo Norma das Gymnasium besucht und Lucinda in der Küche den Nachbarn die Haare schneidet. Alles geht gut, bis ihnen Maurice Dove wieder über den Weg läuft.
Der Sommer 45 wird für den Kriegsheimkehrer zum kurzweiligen Interim. Wie "eine behutsame Diebin" arbeitet die inzwischen sechzehnjährige Norma an dem, was der älteren Schwester verwehrt geblieben ist. Sie bekommt es, aber nur für kurze Zeit. Danach zieht Dove gen Süden, um eine vielversprechende Stelle am Botanischen Garten in New York anzutreten. Norma folgt ihm heimlich mit ein paar von der Schwester geklauten Dollars. Sie ist schwanger, doch der junge Wissenschaftler, ehrgeizig und standesbewußt, will weder Kind noch Frau, jedenfalls nicht dieses unscheinbare Präriemädchen. Wer heiratet schon die Kleine von nebenan! Norma ist verletzt, ohne überrascht zu sein, und wird sich als so robust wie die Landschaft erweisen, der sie entstammt.
Sie wird um Liebe und Leben kämpfen, so gut es eben geht, indem sie in einer kleinen Druckerei ihr Geld verdient, Bilder malt, ihren Sohn allein großzieht, indem sie lernt, sich wie eine Schlange immer wieder zu häuten. Hartnäckig und geschickt erkämpft sie Maurices Zuneigung für den gemeinsamen Sohn, bis er diesen sogar adoptiert, was nichts an seiner Zurückhaltung ihr gegenüber ändert. Sie wird erleben müssen, wie sich der Sohn von ihr wie von einer verblassenden Sonne ab- und dem Vater zuwendet. Immer wieder hofft sie doch noch auf eine Zukunft mit Maurice, der als berühmter Buchautor nach Oxford entschwindet und mit einer neuen Frau zurückkehrt. Eine Handvoll Zärtlichkeit nimmt sie sich von Frank, dem alten Druckereibesitzer, nicht mehr und nicht weniger. Als der Vater gebrechlich wird, kehrt sie nach Ottawa zurück, um ihn zu pflegen, und nach seinem Tod wird sie noch einmal nach Saskatchewan reisen, wo sie die Vision des Vaters von einer "fruchtbaren Weite" zur "Farm als Fabrik" pervertiert findet. Der Hof auf dem Hügel ist längst einer häßlichen Agrarindustrieanlage gewichen. Sie spürt den "erschütternden Verlust der Landschaft", die in ihrer gewaltigen Dimension letztlich jedoch jeder Vereinnahmung trotzen kann.
Das Romandebüt der Kanadierin Elizabeth Hay ist ein in seiner unpreziösen Klarheit schönes und darin geradezu erfrischend altmodisches Buch, in dem sich die Liebesgeschichten zwischen Menschen und Landschaften ganz allmählich ausbreiten wie jene Weiten, an die sich das Auge nur zögernd gewöhnt. "Saskatchewan, so bitter, hartnäckig, aufmerksam. Ontario, so sorglos und empfänglich." Dazwischen das steinerne New York, wo Pfoten und Schnäbel zu Türklopfern werden, Häuser zu Back- oder Sandsteinfelsen. Alles wird erzählt mit den Augen der die Landschaften malenden Heldin. Ein Roman über sich in ihrer Ungleichheit gleichende, auf obsessive Weise unglückliche Paare, literarische Charaktere, die, nachdem die letzte Seite gelesen ist, ob wir es wollen oder nicht, in uns weiterleben, wie es nur großen Romanfiguren vorbehalten ist. Maurice und Norma Joyce, die sich in ihrer Beharrlichkeit zur Selbstverwirklichung auf geradezu symbiotische Art treffen, die Hardy-Schwestern, zusammengeschweißt in der unerwiderten Liebe zum gleichen Mann und doch so verschieden, das rührende, kinderlose Arbeiter-Unternehmerpaar Frank und Hilda, und Norma Joyce selbst, die einst nur Joyce war, bis ihr Zwillingsbruder Norman im Alter von zwei Jahren starb und sie seinen Namen übernahm. Eine Jane Eyre im zwanzigsten Jahrhundert, aus Saskatchewan.
Elisabeth Hay selbst kommt aus Ontario, arbeitete in Winnipeg, Mexiko und New York, als Rundfunkjournalistin, Dozentin und Lektorin. Heute lebt die Fünfzigjährige in Ottawa. Bisher liegen zwei Sachbücher und zwei Bände mit Kurzprosa von ihr vor. Auf einer Zugreise durch die kanadische Steppe wurde Hay zu diesem Roman inspiriert, der mit dem Mythos des vom Wind der Modernisierung verwehten Landes und seiner Menschen an die Bücher der Amerikanerin Annie Proulx erinnert, einer Chronistin des Farm- und Landsterbens. Proulx schreibt mit kratziger Feder, mit Hang zum skurrilen Detail und einem scharfen Blick für die Mikrokosmen der Farmer, während die soziale Dynamik der Vor- und Nachkriegszeiten bei Hay hinter ihren lyrisch-sinnlichen Bildern von großer epischer Schönheit zurücktritt.
So legt sich über die starken Charaktere Norma und Maurice gleichsam ein elegischer Schleier, während die düster-skurrilen Geschichten der in Wyoming lebenden Pulitzer-Preisträgerin Proulx fast heiter erscheinen. Doch wie Annie Proulx kommt auch Elizabeth Hay eines zugute: die Gnade ihrer späten literarischen Geburt - Lebenserfahrung.
SABINE BERKING
Elisabeth Hay: "Wo der Regen fällt". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Christ. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2001. 350 S., geb., 22,49
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