Mauern zum Sprechen bringen: Unter diesem Motto hat sich Momme Brodersen, ein intimer Kenner von Leben und Werk Walter Benjamins, eingehend mit der Geschichte eines Hauses im vornehmen Grunewald beschäftigt, das die Familie Benjamin fast ein Vierteljahrhundert lang ihr Eigen nannte. In seinem Buch geht Brodersen den Lebensspuren nach, die hier die ehemaligen Besitzer, aber auch ihre Einlieger und Besucher hinterlassen haben: denen des Bildhauers Harro Magnussen, der das Gebäude einst errichten ließ; denen des Rentiers Emil Benjamin, über dessen Leben und einflussreiches Wirken man hier viel Unbekanntes erfährt; denen seiner Kinder Walter, Georg und Dora, die, in schwierigen wie konfliktreichen Zeiten, entscheidende Jahre ihres Lebens in der Delbrückstraße verbrachten; und nicht zuletzt denen der geschiedenen Ehefrau Walter Benjamins, der Journalistin und Schriftstellerin Dora Sophie Kellner, und ihres gemeinsamen Sohnes Stefan Benjamin. Mit den Nazis wurden die Mauern stumme Zeugen vom Schicksal der jüdischen Besitzer und Mieter, die emigrieren mussten oder am Ende in deutschen KZ's ermordet wurden. 1936 wurde das Anwesen arisiert. Sieben Jahre später legten es alliierte Bomber in Schutt und Asche. Alle Versuche der letzten jüdischen Eigentümerin, Dora Sophie Kellner, für den geraubten Besitz angemessen entschädigt zu werden, endeten mit einer »Wiedergutmachung«, die dieses Wort nicht verdient.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2023Über das Leben in Berlin-Grunewald hat der Philosoph geschwiegen
Wo der deutsche Kaiser empfangen wurde: Momme Brodersen über die Geschichte des letzten Wohnhauses von Walter Benjamins Familie
Unzählige Bücher sind über den Philosophen Walter Benjamin (1892 - 1940) erschienen, doch ist über sein Leben in Berlin mit Ausnahme seiner Kindheit überraschenderweise wenig bekannt. Einer der Gründe dafür ist, dass das letzte Wohnhaus der Familie in der Delbrückstraße 23 im Bezirk Grunewald Mitte der Dreißigerjahre verkauft und im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört wurde. Das villenähnliche Mietshaus, in dem die Familie von 1912 bis 1930 im ersten Stockwerk wohnte, wurde 1918 von Benjamins Vater Emil gekauft, der als Mitinhaber eines Kunstauktionshauses ein großes Vermögen erworben hatte.
Zuvor lebte die Familie mit Hausangestellten in großbürgerlichen Wohnungen, unter anderem am Magdeburger Platz im Zentrum Berlins und in der Carmerstraße in Charlottenburg (das Haus existiert noch). Benjamin hat darüber in zwei Schriften, der "Berliner Chronik" und der "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert", berichtet. Über das Leben in der Delbrückstraße hat er dagegen geschwiegen, obwohl er hier bis 1930, seinem 38. Lebensjahr, mit Unterbrechungen gewohnt hat: zunächst während seines Studiums in Berlin von 1913 bis 1914, dann nach seiner Promotion an der Universität Bern seit 1920 zusammen mit seiner Frau Dora Kellner, die er 1917 geheiratet hatte, sowie dem gemeinsamen Sohn Stefan, der 1918 geboren wurde.
Momme Brodersen, der zwei Biographien über Benjamin veröffentlicht hat, legt nun ein Buch über das Leben der Familie in der Delbrückstraße vor. Durch die Nutzung von Archivmaterialien, Zeitungsbeiträgen und stadthistorischer Literatur kann der Verfasser viel Neues über die Geschichte des Hauses und seiner Umgebung mitteilen. Dazu gehört auch der Bauherr, der im späten neunzehnten Jahrhundert erfolgreiche Berliner Bildhauer Harro Magnussen, der das Haus um 1899 errichten ließ und hier drei Jahre später den deutschen Kaiser Wilhelm II. empfing.
In der Benjamin-Literatur unbekannt war, dass das Haus nach dem Tod der Mutter 1930 an die drei Kinder des Ehepaares, die drei Geschwister Walter, Georg und Dora, als Erbengemeinschaft ging (der Vater war 1926 gestorben). Unbekannt war außerdem, dass das Anwesen 1932 von Benjamins Ehefrau Dora, von der er zwei Jahre zuvor geschieden worden war, übernommen wurde, da die Geschwister die Immobilie aus finanziellen Gründen nicht halten konnten. Und unbekannt war ebenfalls, dass Dora Kellner das Haus 1936 weit unter Wert an einen Holzhändler aus Danzig verkaufen musste, nachdem sie im April 1934 nach San Remo gezogen war, wo sie eine Pension betrieb, in der auch ihr Exmann seit November für mehrere Monate lebte.
Im November 1943 wurde das Haus in der Delbrückstraße bei einem Bombenangriff der Britischen Luftwaffe weitgehend zerstört. 1951 versuchte Dora Benjamin - auch das bisher unbekannt - das Grundstück durch eine Klage zurückzubekommen. Das Restitutionsverfahren endete 1957 mit einem Vergleich, sodass die Erben des Holzhändlers die Immobilie behalten konnten.
Walter Benjamin selbst war schon 1930 in die Prinzregentenstraße nach Schöneberg gezogen, von wo er im Februar 1933 über Ibiza nach Paris emigrierte. Ob er in der Zwischenzeit noch einmal in das Haus in der Delbrückstraße zurückgekehrt ist, lässt sich nicht sagen. Doch verdankt er dem Haus zweifellos seine Existenz als Autor und Privatgelehrter, da seine Publikationen nur wenig einbrachten. Hier konnte er nicht nur kostenlos mit seiner eigenen Familie leben, sondern wurde von seinem Vater über mehrere Jahre hinweg auch finanziell unterstützt.
Vermutlich zahlte der Vater auch ein Zimmer in einem großbürgerlichen Haus in der Meierottostraße 6 in Wilmersdorf, in das sich Benjamin von November 1923 bis Februar 1924 zeitweise zurückgezogen hat. Hier begann er mit den Vorarbeiten zu seiner geplanten Habilitationsschrift "Ursprung des deutschen Trauerspiels", die er anschließend bei einem mehrmonatigen Aufenthalt auf Capri fortsetzte. Und hier schrieb er den Traktat "Reise durch die deutsche Inflation", den frühesten Text der Kurzprosa-Sammlung "Einbahnstraße", die zusammen mit dem Trauerspiel-Buch 1928 bei Rowohlt erschienen ist.
Brodersen ist auf das Refugium ebenso wenig eingegangen wie auf Benjamins Schriften, obwohl die Wohnungen und ihr Umfeld zum Verständnis der Texte beitragen. Nicht nur die beiden autobiographischen Berlin-Darstellungen sind davon inspiriert, sondern auch einige Prosastücke der "Einbahnstraße" wie "Hochherrschaftlich möblierte Zehnzimmerwohnung". Dasselbe gilt für das unabgeschlossene "Passagen-Werk", das Benjamin Ende der Zwanzigerjahre in Berlin begonnen hat. Zwar geht es hier um die Entstehung der Moderne im neunzehnten Jahrhundert in Paris, doch ist die Berliner Zeit in vielen Fragmenten präsent.
Nur in einem Fall hat Brodersen eine Verbindung zwischen dem Haus in Grunewald und Texten Benjamins herstellt, als er auf die bedeutende Autographen-Sammlung des Vaters eingegangen ist, die 1931 mit gedrucktem Katalog versteigert wurde. In der Tat lassen sich zeitliche und personelle Verbindungen zu Benjamins kommentierter Brief-Anthologie "Deutsche Menschen" herstellen, die 1936 in Luzern erschienen ist. Zwar hat er hier keinen der vom Vater erworbenen Briefe deutscher Schriftsteller und Philosophen aufgenommen, aber die Konzeption der Autographen-Sammlung als Epochenporträt der Goethezeit in briefgeschichtlicher Hinsicht weitergeführt.
Darüber hinaus hatte auch Walter Benjamin eine Leidenschaft für das Sammeln. Dazu gehören vor allem populäre Objekte der jüngeren Vergangenheit wie Briefmarken, Ansichtskarten, Spielwaren, Bilderbögen und Kinderbücher, über die er mehrfach geschrieben hat. Es handelt sich um eine Gegenwelt zum Elternhaus. Benjamin hat dafür die Idee des Historikers als "Lumpensammler" entwickelt und diese zwischen 1935 und 1940 im "Passagen-Werk" auf eine breite kulturhistorische Grundlage gestellt. DETLEV SCHÖTTKER
Momme Brodersen: "Verschüttete Erinnerung". Wo die Benjamins zu Hause waren.
Transit Buchverlag, Berlin 2023. 180 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo der deutsche Kaiser empfangen wurde: Momme Brodersen über die Geschichte des letzten Wohnhauses von Walter Benjamins Familie
Unzählige Bücher sind über den Philosophen Walter Benjamin (1892 - 1940) erschienen, doch ist über sein Leben in Berlin mit Ausnahme seiner Kindheit überraschenderweise wenig bekannt. Einer der Gründe dafür ist, dass das letzte Wohnhaus der Familie in der Delbrückstraße 23 im Bezirk Grunewald Mitte der Dreißigerjahre verkauft und im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört wurde. Das villenähnliche Mietshaus, in dem die Familie von 1912 bis 1930 im ersten Stockwerk wohnte, wurde 1918 von Benjamins Vater Emil gekauft, der als Mitinhaber eines Kunstauktionshauses ein großes Vermögen erworben hatte.
Zuvor lebte die Familie mit Hausangestellten in großbürgerlichen Wohnungen, unter anderem am Magdeburger Platz im Zentrum Berlins und in der Carmerstraße in Charlottenburg (das Haus existiert noch). Benjamin hat darüber in zwei Schriften, der "Berliner Chronik" und der "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert", berichtet. Über das Leben in der Delbrückstraße hat er dagegen geschwiegen, obwohl er hier bis 1930, seinem 38. Lebensjahr, mit Unterbrechungen gewohnt hat: zunächst während seines Studiums in Berlin von 1913 bis 1914, dann nach seiner Promotion an der Universität Bern seit 1920 zusammen mit seiner Frau Dora Kellner, die er 1917 geheiratet hatte, sowie dem gemeinsamen Sohn Stefan, der 1918 geboren wurde.
Momme Brodersen, der zwei Biographien über Benjamin veröffentlicht hat, legt nun ein Buch über das Leben der Familie in der Delbrückstraße vor. Durch die Nutzung von Archivmaterialien, Zeitungsbeiträgen und stadthistorischer Literatur kann der Verfasser viel Neues über die Geschichte des Hauses und seiner Umgebung mitteilen. Dazu gehört auch der Bauherr, der im späten neunzehnten Jahrhundert erfolgreiche Berliner Bildhauer Harro Magnussen, der das Haus um 1899 errichten ließ und hier drei Jahre später den deutschen Kaiser Wilhelm II. empfing.
In der Benjamin-Literatur unbekannt war, dass das Haus nach dem Tod der Mutter 1930 an die drei Kinder des Ehepaares, die drei Geschwister Walter, Georg und Dora, als Erbengemeinschaft ging (der Vater war 1926 gestorben). Unbekannt war außerdem, dass das Anwesen 1932 von Benjamins Ehefrau Dora, von der er zwei Jahre zuvor geschieden worden war, übernommen wurde, da die Geschwister die Immobilie aus finanziellen Gründen nicht halten konnten. Und unbekannt war ebenfalls, dass Dora Kellner das Haus 1936 weit unter Wert an einen Holzhändler aus Danzig verkaufen musste, nachdem sie im April 1934 nach San Remo gezogen war, wo sie eine Pension betrieb, in der auch ihr Exmann seit November für mehrere Monate lebte.
Im November 1943 wurde das Haus in der Delbrückstraße bei einem Bombenangriff der Britischen Luftwaffe weitgehend zerstört. 1951 versuchte Dora Benjamin - auch das bisher unbekannt - das Grundstück durch eine Klage zurückzubekommen. Das Restitutionsverfahren endete 1957 mit einem Vergleich, sodass die Erben des Holzhändlers die Immobilie behalten konnten.
Walter Benjamin selbst war schon 1930 in die Prinzregentenstraße nach Schöneberg gezogen, von wo er im Februar 1933 über Ibiza nach Paris emigrierte. Ob er in der Zwischenzeit noch einmal in das Haus in der Delbrückstraße zurückgekehrt ist, lässt sich nicht sagen. Doch verdankt er dem Haus zweifellos seine Existenz als Autor und Privatgelehrter, da seine Publikationen nur wenig einbrachten. Hier konnte er nicht nur kostenlos mit seiner eigenen Familie leben, sondern wurde von seinem Vater über mehrere Jahre hinweg auch finanziell unterstützt.
Vermutlich zahlte der Vater auch ein Zimmer in einem großbürgerlichen Haus in der Meierottostraße 6 in Wilmersdorf, in das sich Benjamin von November 1923 bis Februar 1924 zeitweise zurückgezogen hat. Hier begann er mit den Vorarbeiten zu seiner geplanten Habilitationsschrift "Ursprung des deutschen Trauerspiels", die er anschließend bei einem mehrmonatigen Aufenthalt auf Capri fortsetzte. Und hier schrieb er den Traktat "Reise durch die deutsche Inflation", den frühesten Text der Kurzprosa-Sammlung "Einbahnstraße", die zusammen mit dem Trauerspiel-Buch 1928 bei Rowohlt erschienen ist.
Brodersen ist auf das Refugium ebenso wenig eingegangen wie auf Benjamins Schriften, obwohl die Wohnungen und ihr Umfeld zum Verständnis der Texte beitragen. Nicht nur die beiden autobiographischen Berlin-Darstellungen sind davon inspiriert, sondern auch einige Prosastücke der "Einbahnstraße" wie "Hochherrschaftlich möblierte Zehnzimmerwohnung". Dasselbe gilt für das unabgeschlossene "Passagen-Werk", das Benjamin Ende der Zwanzigerjahre in Berlin begonnen hat. Zwar geht es hier um die Entstehung der Moderne im neunzehnten Jahrhundert in Paris, doch ist die Berliner Zeit in vielen Fragmenten präsent.
Nur in einem Fall hat Brodersen eine Verbindung zwischen dem Haus in Grunewald und Texten Benjamins herstellt, als er auf die bedeutende Autographen-Sammlung des Vaters eingegangen ist, die 1931 mit gedrucktem Katalog versteigert wurde. In der Tat lassen sich zeitliche und personelle Verbindungen zu Benjamins kommentierter Brief-Anthologie "Deutsche Menschen" herstellen, die 1936 in Luzern erschienen ist. Zwar hat er hier keinen der vom Vater erworbenen Briefe deutscher Schriftsteller und Philosophen aufgenommen, aber die Konzeption der Autographen-Sammlung als Epochenporträt der Goethezeit in briefgeschichtlicher Hinsicht weitergeführt.
Darüber hinaus hatte auch Walter Benjamin eine Leidenschaft für das Sammeln. Dazu gehören vor allem populäre Objekte der jüngeren Vergangenheit wie Briefmarken, Ansichtskarten, Spielwaren, Bilderbögen und Kinderbücher, über die er mehrfach geschrieben hat. Es handelt sich um eine Gegenwelt zum Elternhaus. Benjamin hat dafür die Idee des Historikers als "Lumpensammler" entwickelt und diese zwischen 1935 und 1940 im "Passagen-Werk" auf eine breite kulturhistorische Grundlage gestellt. DETLEV SCHÖTTKER
Momme Brodersen: "Verschüttete Erinnerung". Wo die Benjamins zu Hause waren.
Transit Buchverlag, Berlin 2023. 180 S., Abb., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Elke Schlinsog ist beeindruckt davon, wie Momme Brodersen mit seiner Geschichte eines Hauses deutsche Geschichte, "sogar Weltgeschichte", auferstehen lässt. Zwar hänge der Walter Benjamin-Kenner seine Ausführungen an der Geschichte des langjährigen Wohnsitzes der Familie Benjamin im Grunewald, in der Walter Benjamin selbst von 1911 bis 1930 (mit Unterbrechungen) wohnte, auf: Es geht um den Bau der burgartigen Villa durch den Bildhauer Harro Magnussen, um die Übernahme durch Walter Benjamins Vater und um die spätere Vereinnahmung und Zerstörung des Hauses durch die Nazis. Aber am Interessantesten seien dann doch die Geschichten seiner verschiedenen Bewohner oder Besucher, die Brodersen gekonnt einflechte und anhand derer sich konkrete Zeitgeschichte auftue, so Schlinsog: etwa im Fall der Mieterin Minna Krause oder von Kaiser Wilhelm II., der dort einmal empfangen wurde. Alldem liegen merklich gründliche Recherchen Brodersens zugrunde, so die Kritikerin, die außerdem die Verknüpfungen mit Benjamins Werk lobt. Ein bewundernswert konkretes Buch über Geschichte, schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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