Alessandro Piperno beschreibt die Verfehlungen seiner Figuren so zärtlich, ihren Fall so gnadenlos präzise, dass »Wo die Geschichte endet« zu einem großen literarischen Genuss wird.
Vor sechzehn Jahren musste Matteo aus Rom fliehen, nun kehrt er zurück. Gekonnt pariert er alle Angriffe seiner Ehefrauen - Nummer vier verlangt seine sofortige Rückreise in die USA, Nummer zwei hat noch immer nicht die Scheidung eingereicht -, während seine Kinder die ganze Härte des bürgerlichen Lebens trifft: Martina findet nach einem Kuss nicht in ihre Ehe zurück, und Giorgio hat alle Hände voll zu tun, seit die feine Gesellschaft Roms in seinem Restaurant ein und aus geht. Als ein Unglück sie alle ins Bodenlose stürzt, verkehrt sich die Posse in eine handfeste Tragödie.
Vor sechzehn Jahren musste Matteo aus Rom fliehen, nun kehrt er zurück. Gekonnt pariert er alle Angriffe seiner Ehefrauen - Nummer vier verlangt seine sofortige Rückreise in die USA, Nummer zwei hat noch immer nicht die Scheidung eingereicht -, während seine Kinder die ganze Härte des bürgerlichen Lebens trifft: Martina findet nach einem Kuss nicht in ihre Ehe zurück, und Giorgio hat alle Hände voll zu tun, seit die feine Gesellschaft Roms in seinem Restaurant ein und aus geht. Als ein Unglück sie alle ins Bodenlose stürzt, verkehrt sich die Posse in eine handfeste Tragödie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2019Terror im Lifestyle
Alessandro Pipernos Roman "Wo die Geschichte endet"
In diesem Fall geht es nicht anders: Um das Ende wird allenthalben ein Geheimnis gemacht, doch mit ihm steht und fällt der Roman, der indes kein Krimi ist, sondern eine Familiengeschichte, insofern seien die Karten auf den Tisch gepackt. Es kommt zu einem Anschlag auf ein In-Restaurant, zwei Motive werden explizit genannt, nämlich Rache für eine Entlassung und, dies stärker noch, ein antisemitischer Terrorakt von Islamisten. Eine Schutzgelderpressung, die zuvor angedeutet wurde und im Grunde den einzigen Verweis auf den gesellschaftlichen Rahmen darstellte, wird nach dem Attentat nicht mehr erwähnt, aber das ist zu verschmerzen.
Damit zum Terroranschlag. Er nimmt in Darstellung, Verarbeitung und abschließendem Vernähen aller Handlungsfäden knapp zwanzig Seiten ein. Bei einem Roman von rund dreihundert Seiten klingt das zunächst unproportioniert, doch wenn Alessandro Piperno eines gut beherrscht, dann die konzise, pointierte Darstellung. Wenige Sätze genügen ihm, um Atmosphäre und Klima zu gestalten: "Die Ansichten der Presse waren so austauschbar, dass der Verdacht aufkommen konnte, die Kommentatoren hätten sich vor dem Schreiben miteinander abgesprochen. Einig darin, dass die Mörder darauf abzielten, unseren Lebensstil zu zerstören, waren sie ebenso überzeugt, dass man ihnen nicht nachgeben durfte."
Die knappe Abhandlung ließe sich sogar als clever auffassen, illustriert sie doch plastisch, wie unvermittelt ein solcher Anschlag Menschen ereilt. Selbst bei dem Wissen um die grundsätzliche Möglichkeit rechnet niemand damit. Dafür aber hätte Piperno sich seinen Schmonzetteschlenker verkneifen müssen. Er wirft vom Ende her einen allzu seichten Schatten auf einen Text, der bis dahin mit einigen brillanten Beobachtungen zum sinnentleerten Leben der römischen Hautevolee aufwartet.
Der von Barbara Kleiner gewohnt souverän übersetzte Roman zeichnet über ein halbes Jahr das Leben eines erwachsenen Geschwisterpaars und dessen Angehörigen nach. Giorgio ist der Sohn von Matteo aus erster Ehe, seine Freundin Sara erwartet gerade ein Kind. Martina ist Matteos Tochter aus zweiter Ehe mit Federica. Sie ist mit Lorenzo verheiratet. Beide Geschwister haben Probleme in ihren Beziehungen: Giorgio arbeitet zu viel in seinem Restaurant und ist über die Aussicht, Vater zu werden, nicht gerade entzückt. Er sieht sich als "Opfer einer universalen Verschwörung" und kompensiert seinen Frust mit Hypochondrie. Martina füllt ihren Alltag, indem sie ihre frühere Schulfreundin und jetzige Schwägerin Benedetta begehrt oder sich zumindest einbildet, dies zu tun.
Der gemeinsame Vater der beiden, Matteo, hatte sich vor sechzehn Jahren auf der Flucht vor einem Gläubiger in die Vereinigten Staaten abgesetzt, wo er mittlerweile bei den Ehefrauen drei und vier angelangt ist, ohne je von Federica geschieden worden zu sein. Alles in allem funktioniert diese Form des Patchworks ganz gut, erst als Matteo seine Rückkehr nach Italien ankündigt, bricht Giorgio den Kontakt zu ihm ohne weitere Begründung ab. Zusammengehalten wird das Gefüge von Federica, die Giorgio gleichsam adoptiert hat, seit seine Mutter dauerhaft unter Depressionen leidet. Federica sieht sich als Unschuld aus den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts. Man darf ergänzen: und liebäugelt mit der Rolle der verfolgten Unschuld aus der gothic novel. Ihre Devise: "Besser, man liebt ein Leben lang den falschen Mann, als dass man überhaupt niemanden liebt." Die Idee eines dritten Weges ist ihr fremd.
Piperno fängt die Scheinprobleme dieser Menschen in schönen Bildern ein. Martina leidet, weil Lorenzo sich das Oberhemd über den Kopf auszieht. "Ich habe ihm tausendmal gesagt, dass man das nicht macht. Dass es respektlos ist." Auf Partys suggerieren magere Handgelenke "weniger Wohlbefinden als Finger im Hals und Stunden auf dem Laufband".
Bei dem Anschlag sterben Federica und Lorenzos Vater. Für Martina heißt das: "Jetzt, da das Schicksal erfüllt, da die Geschichte wirklich zu Ende war, sah sie, wie sich der Sinn ihres Lebens herauskristallisierte." Sie landet wieder bei Lorenzo. "Das gegenseitige Mitleid war der optimale Ausgangspunkt für einen Neuanfang." Matteo erbt Federicas Wohnung, Giorgio ist längst Superdad, er und Sara siedeln mit ihrem Sohn nach Israel über. Zuvor gab es an Federicas Herd eine gemeinsame Kochaktion mit Papa Matteo.
Niemand braucht sich Sorgen zu machen, woher das Geld für die Schiffstickets und die Miete kommt, wie gehabt wiegt der finanzielle Wohlstand sie in der Illusion, "dass das Leben einen Sinn hat". Nur behauptet Alessandro Piperno diesmal eben, es wäre keine Illusion, sondern herauskristallisierter Sinn. Schade.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Alessandro Piperno: "Wo die Geschichte endet". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Piper Verlag, München 2019. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alessandro Pipernos Roman "Wo die Geschichte endet"
In diesem Fall geht es nicht anders: Um das Ende wird allenthalben ein Geheimnis gemacht, doch mit ihm steht und fällt der Roman, der indes kein Krimi ist, sondern eine Familiengeschichte, insofern seien die Karten auf den Tisch gepackt. Es kommt zu einem Anschlag auf ein In-Restaurant, zwei Motive werden explizit genannt, nämlich Rache für eine Entlassung und, dies stärker noch, ein antisemitischer Terrorakt von Islamisten. Eine Schutzgelderpressung, die zuvor angedeutet wurde und im Grunde den einzigen Verweis auf den gesellschaftlichen Rahmen darstellte, wird nach dem Attentat nicht mehr erwähnt, aber das ist zu verschmerzen.
Damit zum Terroranschlag. Er nimmt in Darstellung, Verarbeitung und abschließendem Vernähen aller Handlungsfäden knapp zwanzig Seiten ein. Bei einem Roman von rund dreihundert Seiten klingt das zunächst unproportioniert, doch wenn Alessandro Piperno eines gut beherrscht, dann die konzise, pointierte Darstellung. Wenige Sätze genügen ihm, um Atmosphäre und Klima zu gestalten: "Die Ansichten der Presse waren so austauschbar, dass der Verdacht aufkommen konnte, die Kommentatoren hätten sich vor dem Schreiben miteinander abgesprochen. Einig darin, dass die Mörder darauf abzielten, unseren Lebensstil zu zerstören, waren sie ebenso überzeugt, dass man ihnen nicht nachgeben durfte."
Die knappe Abhandlung ließe sich sogar als clever auffassen, illustriert sie doch plastisch, wie unvermittelt ein solcher Anschlag Menschen ereilt. Selbst bei dem Wissen um die grundsätzliche Möglichkeit rechnet niemand damit. Dafür aber hätte Piperno sich seinen Schmonzetteschlenker verkneifen müssen. Er wirft vom Ende her einen allzu seichten Schatten auf einen Text, der bis dahin mit einigen brillanten Beobachtungen zum sinnentleerten Leben der römischen Hautevolee aufwartet.
Der von Barbara Kleiner gewohnt souverän übersetzte Roman zeichnet über ein halbes Jahr das Leben eines erwachsenen Geschwisterpaars und dessen Angehörigen nach. Giorgio ist der Sohn von Matteo aus erster Ehe, seine Freundin Sara erwartet gerade ein Kind. Martina ist Matteos Tochter aus zweiter Ehe mit Federica. Sie ist mit Lorenzo verheiratet. Beide Geschwister haben Probleme in ihren Beziehungen: Giorgio arbeitet zu viel in seinem Restaurant und ist über die Aussicht, Vater zu werden, nicht gerade entzückt. Er sieht sich als "Opfer einer universalen Verschwörung" und kompensiert seinen Frust mit Hypochondrie. Martina füllt ihren Alltag, indem sie ihre frühere Schulfreundin und jetzige Schwägerin Benedetta begehrt oder sich zumindest einbildet, dies zu tun.
Der gemeinsame Vater der beiden, Matteo, hatte sich vor sechzehn Jahren auf der Flucht vor einem Gläubiger in die Vereinigten Staaten abgesetzt, wo er mittlerweile bei den Ehefrauen drei und vier angelangt ist, ohne je von Federica geschieden worden zu sein. Alles in allem funktioniert diese Form des Patchworks ganz gut, erst als Matteo seine Rückkehr nach Italien ankündigt, bricht Giorgio den Kontakt zu ihm ohne weitere Begründung ab. Zusammengehalten wird das Gefüge von Federica, die Giorgio gleichsam adoptiert hat, seit seine Mutter dauerhaft unter Depressionen leidet. Federica sieht sich als Unschuld aus den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts. Man darf ergänzen: und liebäugelt mit der Rolle der verfolgten Unschuld aus der gothic novel. Ihre Devise: "Besser, man liebt ein Leben lang den falschen Mann, als dass man überhaupt niemanden liebt." Die Idee eines dritten Weges ist ihr fremd.
Piperno fängt die Scheinprobleme dieser Menschen in schönen Bildern ein. Martina leidet, weil Lorenzo sich das Oberhemd über den Kopf auszieht. "Ich habe ihm tausendmal gesagt, dass man das nicht macht. Dass es respektlos ist." Auf Partys suggerieren magere Handgelenke "weniger Wohlbefinden als Finger im Hals und Stunden auf dem Laufband".
Bei dem Anschlag sterben Federica und Lorenzos Vater. Für Martina heißt das: "Jetzt, da das Schicksal erfüllt, da die Geschichte wirklich zu Ende war, sah sie, wie sich der Sinn ihres Lebens herauskristallisierte." Sie landet wieder bei Lorenzo. "Das gegenseitige Mitleid war der optimale Ausgangspunkt für einen Neuanfang." Matteo erbt Federicas Wohnung, Giorgio ist längst Superdad, er und Sara siedeln mit ihrem Sohn nach Israel über. Zuvor gab es an Federicas Herd eine gemeinsame Kochaktion mit Papa Matteo.
Niemand braucht sich Sorgen zu machen, woher das Geld für die Schiffstickets und die Miete kommt, wie gehabt wiegt der finanzielle Wohlstand sie in der Illusion, "dass das Leben einen Sinn hat". Nur behauptet Alessandro Piperno diesmal eben, es wäre keine Illusion, sondern herauskristallisierter Sinn. Schade.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Alessandro Piperno: "Wo die Geschichte endet". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Piper Verlag, München 2019. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Bissig-zärtliche Satire.« Süddeutsche Zeitung 20190711
Terror im Lifestyle
Alessandro Pipernos Roman "Wo die Geschichte endet"
In diesem Fall geht es nicht anders: Um das Ende wird allenthalben ein Geheimnis gemacht, doch mit ihm steht und fällt der Roman, der indes kein Krimi ist, sondern eine Familiengeschichte, insofern seien die Karten auf den Tisch gepackt. Es kommt zu einem Anschlag auf ein In-Restaurant, zwei Motive werden explizit genannt, nämlich Rache für eine Entlassung und, dies stärker noch, ein antisemitischer Terrorakt von Islamisten. Eine Schutzgelderpressung, die zuvor angedeutet wurde und im Grunde den einzigen Verweis auf den gesellschaftlichen Rahmen darstellte, wird nach dem Attentat nicht mehr erwähnt, aber das ist zu verschmerzen.
Damit zum Terroranschlag. Er nimmt in Darstellung, Verarbeitung und abschließendem Vernähen aller Handlungsfäden knapp zwanzig Seiten ein. Bei einem Roman von rund dreihundert Seiten klingt das zunächst unproportioniert, doch wenn Alessandro Piperno eines gut beherrscht, dann die konzise, pointierte Darstellung. Wenige Sätze genügen ihm, um Atmosphäre und Klima zu gestalten: "Die Ansichten der Presse waren so austauschbar, dass der Verdacht aufkommen konnte, die Kommentatoren hätten sich vor dem Schreiben miteinander abgesprochen. Einig darin, dass die Mörder darauf abzielten, unseren Lebensstil zu zerstören, waren sie ebenso überzeugt, dass man ihnen nicht nachgeben durfte."
Die knappe Abhandlung ließe sich sogar als clever auffassen, illustriert sie doch plastisch, wie unvermittelt ein solcher Anschlag Menschen ereilt. Selbst bei dem Wissen um die grundsätzliche Möglichkeit rechnet niemand damit. Dafür aber hätte Piperno sich seinen Schmonzetteschlenker verkneifen müssen. Er wirft vom Ende her einen allzu seichten Schatten auf einen Text, der bis dahin mit einigen brillanten Beobachtungen zum sinnentleerten Leben der römischen Hautevolee aufwartet.
Der von Barbara Kleiner gewohnt souverän übersetzte Roman zeichnet über ein halbes Jahr das Leben eines erwachsenen Geschwisterpaars und dessen Angehörigen nach. Giorgio ist der Sohn von Matteo aus erster Ehe, seine Freundin Sara erwartet gerade ein Kind. Martina ist Matteos Tochter aus zweiter Ehe mit Federica. Sie ist mit Lorenzo verheiratet. Beide Geschwister haben Probleme in ihren Beziehungen: Giorgio arbeitet zu viel in seinem Restaurant und ist über die Aussicht, Vater zu werden, nicht gerade entzückt. Er sieht sich als "Opfer einer universalen Verschwörung" und kompensiert seinen Frust mit Hypochondrie. Martina füllt ihren Alltag, indem sie ihre frühere Schulfreundin und jetzige Schwägerin Benedetta begehrt oder sich zumindest einbildet, dies zu tun.
Der gemeinsame Vater der beiden, Matteo, hatte sich vor sechzehn Jahren auf der Flucht vor einem Gläubiger in die Vereinigten Staaten abgesetzt, wo er mittlerweile bei den Ehefrauen drei und vier angelangt ist, ohne je von Federica geschieden worden zu sein. Alles in allem funktioniert diese Form des Patchworks ganz gut, erst als Matteo seine Rückkehr nach Italien ankündigt, bricht Giorgio den Kontakt zu ihm ohne weitere Begründung ab. Zusammengehalten wird das Gefüge von Federica, die Giorgio gleichsam adoptiert hat, seit seine Mutter dauerhaft unter Depressionen leidet. Federica sieht sich als Unschuld aus den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts. Man darf ergänzen: und liebäugelt mit der Rolle der verfolgten Unschuld aus der gothic novel. Ihre Devise: "Besser, man liebt ein Leben lang den falschen Mann, als dass man überhaupt niemanden liebt." Die Idee eines dritten Weges ist ihr fremd.
Piperno fängt die Scheinprobleme dieser Menschen in schönen Bildern ein. Martina leidet, weil Lorenzo sich das Oberhemd über den Kopf auszieht. "Ich habe ihm tausendmal gesagt, dass man das nicht macht. Dass es respektlos ist." Auf Partys suggerieren magere Handgelenke "weniger Wohlbefinden als Finger im Hals und Stunden auf dem Laufband".
Bei dem Anschlag sterben Federica und Lorenzos Vater. Für Martina heißt das: "Jetzt, da das Schicksal erfüllt, da die Geschichte wirklich zu Ende war, sah sie, wie sich der Sinn ihres Lebens herauskristallisierte." Sie landet wieder bei Lorenzo. "Das gegenseitige Mitleid war der optimale Ausgangspunkt für einen Neuanfang." Matteo erbt Federicas Wohnung, Giorgio ist längst Superdad, er und Sara siedeln mit ihrem Sohn nach Israel über. Zuvor gab es an Federicas Herd eine gemeinsame Kochaktion mit Papa Matteo.
Niemand braucht sich Sorgen zu machen, woher das Geld für die Schiffstickets und die Miete kommt, wie gehabt wiegt der finanzielle Wohlstand sie in der Illusion, "dass das Leben einen Sinn hat". Nur behauptet Alessandro Piperno diesmal eben, es wäre keine Illusion, sondern herauskristallisierter Sinn. Schade.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Alessandro Piperno: "Wo die Geschichte endet". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Piper Verlag, München 2019. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alessandro Pipernos Roman "Wo die Geschichte endet"
In diesem Fall geht es nicht anders: Um das Ende wird allenthalben ein Geheimnis gemacht, doch mit ihm steht und fällt der Roman, der indes kein Krimi ist, sondern eine Familiengeschichte, insofern seien die Karten auf den Tisch gepackt. Es kommt zu einem Anschlag auf ein In-Restaurant, zwei Motive werden explizit genannt, nämlich Rache für eine Entlassung und, dies stärker noch, ein antisemitischer Terrorakt von Islamisten. Eine Schutzgelderpressung, die zuvor angedeutet wurde und im Grunde den einzigen Verweis auf den gesellschaftlichen Rahmen darstellte, wird nach dem Attentat nicht mehr erwähnt, aber das ist zu verschmerzen.
Damit zum Terroranschlag. Er nimmt in Darstellung, Verarbeitung und abschließendem Vernähen aller Handlungsfäden knapp zwanzig Seiten ein. Bei einem Roman von rund dreihundert Seiten klingt das zunächst unproportioniert, doch wenn Alessandro Piperno eines gut beherrscht, dann die konzise, pointierte Darstellung. Wenige Sätze genügen ihm, um Atmosphäre und Klima zu gestalten: "Die Ansichten der Presse waren so austauschbar, dass der Verdacht aufkommen konnte, die Kommentatoren hätten sich vor dem Schreiben miteinander abgesprochen. Einig darin, dass die Mörder darauf abzielten, unseren Lebensstil zu zerstören, waren sie ebenso überzeugt, dass man ihnen nicht nachgeben durfte."
Die knappe Abhandlung ließe sich sogar als clever auffassen, illustriert sie doch plastisch, wie unvermittelt ein solcher Anschlag Menschen ereilt. Selbst bei dem Wissen um die grundsätzliche Möglichkeit rechnet niemand damit. Dafür aber hätte Piperno sich seinen Schmonzetteschlenker verkneifen müssen. Er wirft vom Ende her einen allzu seichten Schatten auf einen Text, der bis dahin mit einigen brillanten Beobachtungen zum sinnentleerten Leben der römischen Hautevolee aufwartet.
Der von Barbara Kleiner gewohnt souverän übersetzte Roman zeichnet über ein halbes Jahr das Leben eines erwachsenen Geschwisterpaars und dessen Angehörigen nach. Giorgio ist der Sohn von Matteo aus erster Ehe, seine Freundin Sara erwartet gerade ein Kind. Martina ist Matteos Tochter aus zweiter Ehe mit Federica. Sie ist mit Lorenzo verheiratet. Beide Geschwister haben Probleme in ihren Beziehungen: Giorgio arbeitet zu viel in seinem Restaurant und ist über die Aussicht, Vater zu werden, nicht gerade entzückt. Er sieht sich als "Opfer einer universalen Verschwörung" und kompensiert seinen Frust mit Hypochondrie. Martina füllt ihren Alltag, indem sie ihre frühere Schulfreundin und jetzige Schwägerin Benedetta begehrt oder sich zumindest einbildet, dies zu tun.
Der gemeinsame Vater der beiden, Matteo, hatte sich vor sechzehn Jahren auf der Flucht vor einem Gläubiger in die Vereinigten Staaten abgesetzt, wo er mittlerweile bei den Ehefrauen drei und vier angelangt ist, ohne je von Federica geschieden worden zu sein. Alles in allem funktioniert diese Form des Patchworks ganz gut, erst als Matteo seine Rückkehr nach Italien ankündigt, bricht Giorgio den Kontakt zu ihm ohne weitere Begründung ab. Zusammengehalten wird das Gefüge von Federica, die Giorgio gleichsam adoptiert hat, seit seine Mutter dauerhaft unter Depressionen leidet. Federica sieht sich als Unschuld aus den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts. Man darf ergänzen: und liebäugelt mit der Rolle der verfolgten Unschuld aus der gothic novel. Ihre Devise: "Besser, man liebt ein Leben lang den falschen Mann, als dass man überhaupt niemanden liebt." Die Idee eines dritten Weges ist ihr fremd.
Piperno fängt die Scheinprobleme dieser Menschen in schönen Bildern ein. Martina leidet, weil Lorenzo sich das Oberhemd über den Kopf auszieht. "Ich habe ihm tausendmal gesagt, dass man das nicht macht. Dass es respektlos ist." Auf Partys suggerieren magere Handgelenke "weniger Wohlbefinden als Finger im Hals und Stunden auf dem Laufband".
Bei dem Anschlag sterben Federica und Lorenzos Vater. Für Martina heißt das: "Jetzt, da das Schicksal erfüllt, da die Geschichte wirklich zu Ende war, sah sie, wie sich der Sinn ihres Lebens herauskristallisierte." Sie landet wieder bei Lorenzo. "Das gegenseitige Mitleid war der optimale Ausgangspunkt für einen Neuanfang." Matteo erbt Federicas Wohnung, Giorgio ist längst Superdad, er und Sara siedeln mit ihrem Sohn nach Israel über. Zuvor gab es an Federicas Herd eine gemeinsame Kochaktion mit Papa Matteo.
Niemand braucht sich Sorgen zu machen, woher das Geld für die Schiffstickets und die Miete kommt, wie gehabt wiegt der finanzielle Wohlstand sie in der Illusion, "dass das Leben einen Sinn hat". Nur behauptet Alessandro Piperno diesmal eben, es wäre keine Illusion, sondern herauskristallisierter Sinn. Schade.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Alessandro Piperno: "Wo die Geschichte endet". Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Piper Verlag, München 2019. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main