Diese Gedichte, die ihre Zerbrechlichkeit auch in strenge poetische Formen zu zwingen wissen und deren lyrische Beweglichkeit sich als Bewegung des Gedankens vollzieht, befinden sich auf den Spuren der Vergangenheit - einer verloschenen Geschichte und wie verloren wirkenden Biographie; und sie schreiben an gegen die verleugnete Geschichte und ein zum Verstummen gebrachtes Erwachsenwerden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.1996Lauter abgeschnittene Ohren
Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat: Gedichte von Kurt Drawert
"Dies Land, von Lüge zugeweht, / ich glaubte schon, ich wär es los . . . / Doch hinter allen starken Riegeln / ist mir sein Name eingebrannt." Bis 1993 lebte Kurt Drawert in Leipzig. Auch die DDR war Heimat, trotz allem, auch die Lüge kann Heimat sein. Ein seelischer Sauerstoffmangel blieb übrig, seit sie "wie Wasser in einem Spülbecken im Abfluß verschwand".
Gurgelnd reißt die Verlusterfahrung alles mit sich, die Sprache, die Bücher, die Liebe, die Freiheit, die Kunst. Alles ist tot, wesenlos, schemenhaft. Nicht einmal der Erinnerung darf man sich ungehemmt hingeben. "Wo es war", ist heute ein Brandfleck. Sisyphos ist zu beneiden um die Zeit, als er noch seinen Felsblock zu rollen hatte. Das ist vorbei: "Seit seinem Freispruch / dümpelt er trüb vor sich hin / und stiert in die Leere / zwischen den Händen." Auch die schönen Künste helfen nicht: "lauter abgeschnittene Ohren / aus einem anderen Jahrhundert". Jedes Leben ist nur ein Mißgeschick, der Ersatz steht schon in der Ecke und trommelt mit den Fingern auf die Platte, "auch du reißt keine Lücke ins Spielfeld, / wenn du verschwindest".
Der Verlust der Heimat und ihre entehrende Entlarvung steigern sich hier zu einer allumfassenden Vanitas-Erfahrung. Man hat nicht das Recht, sie dem Autor abzusprechen, aber nach ihrer literarischen Qualität darf man fragen. Was Kurt Drawert schreibt, hat stets Niveau. Jedem, der Verstummens-, Vergeblichkeits- und Verlusterfahrungen zu bewältigen hat, gibt dieser homo melancholicus Worte für seine Qual. Er ist ein Sprecher aller einst Hoffenden, nun Gescheiterten, mit denen zusammen er die Klage ums Verlorene singt: "Im Nebel ist alles verschwunden."
Präziser auf den Punkt gebracht wurde die Trauer um die zerstörte Utopie freilich schon viel früher, von Bertolt Brecht, der nach dem 17. Juni 1953 dichtete: "Ich sitze am Straßenhang. / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld?" HERMANN KURZKE
Kurt Drawert: "Wo es war". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 126 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat: Gedichte von Kurt Drawert
"Dies Land, von Lüge zugeweht, / ich glaubte schon, ich wär es los . . . / Doch hinter allen starken Riegeln / ist mir sein Name eingebrannt." Bis 1993 lebte Kurt Drawert in Leipzig. Auch die DDR war Heimat, trotz allem, auch die Lüge kann Heimat sein. Ein seelischer Sauerstoffmangel blieb übrig, seit sie "wie Wasser in einem Spülbecken im Abfluß verschwand".
Gurgelnd reißt die Verlusterfahrung alles mit sich, die Sprache, die Bücher, die Liebe, die Freiheit, die Kunst. Alles ist tot, wesenlos, schemenhaft. Nicht einmal der Erinnerung darf man sich ungehemmt hingeben. "Wo es war", ist heute ein Brandfleck. Sisyphos ist zu beneiden um die Zeit, als er noch seinen Felsblock zu rollen hatte. Das ist vorbei: "Seit seinem Freispruch / dümpelt er trüb vor sich hin / und stiert in die Leere / zwischen den Händen." Auch die schönen Künste helfen nicht: "lauter abgeschnittene Ohren / aus einem anderen Jahrhundert". Jedes Leben ist nur ein Mißgeschick, der Ersatz steht schon in der Ecke und trommelt mit den Fingern auf die Platte, "auch du reißt keine Lücke ins Spielfeld, / wenn du verschwindest".
Der Verlust der Heimat und ihre entehrende Entlarvung steigern sich hier zu einer allumfassenden Vanitas-Erfahrung. Man hat nicht das Recht, sie dem Autor abzusprechen, aber nach ihrer literarischen Qualität darf man fragen. Was Kurt Drawert schreibt, hat stets Niveau. Jedem, der Verstummens-, Vergeblichkeits- und Verlusterfahrungen zu bewältigen hat, gibt dieser homo melancholicus Worte für seine Qual. Er ist ein Sprecher aller einst Hoffenden, nun Gescheiterten, mit denen zusammen er die Klage ums Verlorene singt: "Im Nebel ist alles verschwunden."
Präziser auf den Punkt gebracht wurde die Trauer um die zerstörte Utopie freilich schon viel früher, von Bertolt Brecht, der nach dem 17. Juni 1953 dichtete: "Ich sitze am Straßenhang. / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld?" HERMANN KURZKE
Kurt Drawert: "Wo es war". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 126 S., geb., 28,- DM.
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