Die Gestalt des Blinden im Innern der Diskurse um das Sehen markiert die Spur einer Verwerfung. Sie besagt in nuce, dass hier etwas nicht stimmt. In der Tat geschehen an den Rändern der Wahrnehmung seltsame Dinge. Es ereignen sich dort Überlagerungen von Erscheinen und Verschwinden, die auf ein ungewisses Terrain führen. Mediale Settings, wissenschaftliche Instrumente und künstlerische Entwürfe haben sich auf eben dieses Feld begeben, um eine Sichtbarmachung nach der anderen aus dem Dunkeln zu heben und damit auch die Kehrseite des Unternehmens ständig wachzuhalten. Eben davon spricht ein jedes Blindengleichnis, wie es ältere Generationen in biblischen Texten fanden und wie es das 20. Jahrhundert aus dem physiologischen Labor empfing. Jede Theorie des Sehens hat ihren zugehörigen Blinden, von dem her sie ihre genaueste Charakterisierung erfährt.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungFernsehen auf den ersten Blick
Um Platonismen sinnfällig zu finden, muss man ihre Geschichte nicht kennen. Der Starruhm des Kosmologen Stephen Hawking ist dafür ein schönes Beispiel. Da bringt das körperliche Handicap das mathematische Ingenium in der öffentlichen Inszenierung erst richtig zum Leuchten. Zugespitzt formuliert: Je weniger Körper, desto reiner die Mathematik. Obwohl es in der Tradition solchen platonisierenden Lobs der Mathematik auch darauf ankommen konnte, dass insbesondere auf einen der körperlichen Sinne zu verzichten war: auf den Gesichtssinn nämlich, denn bilderlos sollte es in die höheren Regionen gehen.
Auf diesem Weg gelangt man zum Topos des blinden Mathematikers. Reizvoll ist an ihm auch, dass es beim Topos nicht blieb - schließlich gab und gibt es tatsächlich blinde Mathematiker. Einer von ihnen war überdies unter den Vorgängern Stephen Hawkings in Oxford: Nicholas Saunderson, fast unmittelbarer Nachfolger Isaac Newtons auf dem seither berühmten Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik.
Durch herausragende Theoreme ist Saunderson zwar nicht aufgefallen. Aber Denis Diderot hat ihm mit seinem "Brief über die Blinden" trotzdem zu dauerhaftem Nachleben verholfen. Diderot, der seinerseits in dieser frühen Schrift ein schönes Beispiel dafür gibt, welche Einsätze sich an einem blinden Newtonianer abhandeln ließen - und an der Frage, welche Welt ein Blindgeborener entdecken würde (wenn überhaupt), dem eine Operation das Augenlicht schenkt.
Diese Frage nach dem ersten, dem wahrhaft unschuldigen Blick war en vogue. Bei Peter Bexte ist sie eine Facette des Zusammenhangs, den sein Buch gleich im Titel anführt: "Wo immer vom Sehen die Rede ist . . ., da ist ein Blinder nicht fern" (Wilhelm Fink Verlag, München 2013. 169 S., Abb., br., 29,90 [Euro]). Und dass in dieser Verknüpfung weit mehr steckt als bloß das einfache Verfahren, sich dem Sehsinn durch Beschreibung der Effekte seines Ausfalls zu nähern, das führt der Autor darin schön vor Augen. In einem Buch, das die Umwege pflegt, an keinen großen Thesen mauert, dafür auf seinen verschlungenen Wegen mit manchen Funden und überraschenden Einsichten aufwartet. Dass der Autor sie nicht mit Macht zusammenzwingen möchte, schlägt zum Guten aus. Verbindungen und Übergänge gibt es da trotzdem genug.
Einer führt übrigens von den alten Szenarien des ersten Blicks direkt hinauf ins letzte Jahrhundert: wenn Marshall McLuhan in den siebziger Jahren allen Ernstes behauptet, einen solchen Fall studiert zu haben. Mit dem bemerkenswerten Ergebnis, dass der frisch an den Augen Operierte mit gedruckten Buchstaben erwartungsgemäß nichts anfing, auch beim Film versagte, aber "das Fernsehen klar erkennen" konnte. Eine recht rätselhafte Stelle. Gleicht man sie mit den alten Debatten ab, bleibt eigentlich nur ein ironischer Sinn: Der unschuldige Blick könnte sich lediglich am reinen Farbenzauber der Bildpunkte delektiert haben - was uns erfahrenen Fernsehern notgedrungen entgeht.
HELMUT MAYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Um Platonismen sinnfällig zu finden, muss man ihre Geschichte nicht kennen. Der Starruhm des Kosmologen Stephen Hawking ist dafür ein schönes Beispiel. Da bringt das körperliche Handicap das mathematische Ingenium in der öffentlichen Inszenierung erst richtig zum Leuchten. Zugespitzt formuliert: Je weniger Körper, desto reiner die Mathematik. Obwohl es in der Tradition solchen platonisierenden Lobs der Mathematik auch darauf ankommen konnte, dass insbesondere auf einen der körperlichen Sinne zu verzichten war: auf den Gesichtssinn nämlich, denn bilderlos sollte es in die höheren Regionen gehen.
Auf diesem Weg gelangt man zum Topos des blinden Mathematikers. Reizvoll ist an ihm auch, dass es beim Topos nicht blieb - schließlich gab und gibt es tatsächlich blinde Mathematiker. Einer von ihnen war überdies unter den Vorgängern Stephen Hawkings in Oxford: Nicholas Saunderson, fast unmittelbarer Nachfolger Isaac Newtons auf dem seither berühmten Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik.
Durch herausragende Theoreme ist Saunderson zwar nicht aufgefallen. Aber Denis Diderot hat ihm mit seinem "Brief über die Blinden" trotzdem zu dauerhaftem Nachleben verholfen. Diderot, der seinerseits in dieser frühen Schrift ein schönes Beispiel dafür gibt, welche Einsätze sich an einem blinden Newtonianer abhandeln ließen - und an der Frage, welche Welt ein Blindgeborener entdecken würde (wenn überhaupt), dem eine Operation das Augenlicht schenkt.
Diese Frage nach dem ersten, dem wahrhaft unschuldigen Blick war en vogue. Bei Peter Bexte ist sie eine Facette des Zusammenhangs, den sein Buch gleich im Titel anführt: "Wo immer vom Sehen die Rede ist . . ., da ist ein Blinder nicht fern" (Wilhelm Fink Verlag, München 2013. 169 S., Abb., br., 29,90 [Euro]). Und dass in dieser Verknüpfung weit mehr steckt als bloß das einfache Verfahren, sich dem Sehsinn durch Beschreibung der Effekte seines Ausfalls zu nähern, das führt der Autor darin schön vor Augen. In einem Buch, das die Umwege pflegt, an keinen großen Thesen mauert, dafür auf seinen verschlungenen Wegen mit manchen Funden und überraschenden Einsichten aufwartet. Dass der Autor sie nicht mit Macht zusammenzwingen möchte, schlägt zum Guten aus. Verbindungen und Übergänge gibt es da trotzdem genug.
Einer führt übrigens von den alten Szenarien des ersten Blicks direkt hinauf ins letzte Jahrhundert: wenn Marshall McLuhan in den siebziger Jahren allen Ernstes behauptet, einen solchen Fall studiert zu haben. Mit dem bemerkenswerten Ergebnis, dass der frisch an den Augen Operierte mit gedruckten Buchstaben erwartungsgemäß nichts anfing, auch beim Film versagte, aber "das Fernsehen klar erkennen" konnte. Eine recht rätselhafte Stelle. Gleicht man sie mit den alten Debatten ab, bleibt eigentlich nur ein ironischer Sinn: Der unschuldige Blick könnte sich lediglich am reinen Farbenzauber der Bildpunkte delektiert haben - was uns erfahrenen Fernsehern notgedrungen entgeht.
HELMUT MAYER
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