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Ein literarisches Ereignis: die Veröffentlichung von Kerrs Berliner Briefen hundert Jahre nach ihrem Erscheinen in der angesehenen liberalen "Breslauer Zeitung". Günther Rühle hat sie entdeckt und in einer exzellent kommentierten Ausgabe wieder zugänglich gemacht. Zwischen 1895 und 1900 geschrieben, ist dieser Weltstadt-Report Liebeserklärung und Kritik in einem. Vor allem ist er ein wunderbarer Lesestoff: witzig, unterhaltend, immer interessant und unmittelbar berührend.

Produktbeschreibung
Ein literarisches Ereignis: die Veröffentlichung von Kerrs Berliner Briefen hundert Jahre nach ihrem Erscheinen in der angesehenen liberalen "Breslauer Zeitung". Günther Rühle hat sie entdeckt und in einer exzellent kommentierten Ausgabe wieder zugänglich gemacht. Zwischen 1895 und 1900 geschrieben, ist dieser Weltstadt-Report Liebeserklärung und Kritik in einem. Vor allem ist er ein wunderbarer Lesestoff: witzig, unterhaltend, immer interessant und unmittelbar berührend.
Autorenporträt
Alfred Kerr (ursprünglich Kempner), ist 1867 in Breslau geboren, studierte Literaturwissenschaft in Berlin beim großen Erich Schmidt. 1905 veröffentlichte er sein erstes Buch bei S. Fischer: "Das neue Drama". Mitarbeit als Kritiker vornehmlich an "Der Tag", dem von ihm geleiteten zweiten "Pan" und dem "Berliner Tageblatt". 1933 Flucht aus Deutschland. Mühselige Existenz in London. Zwei Bücher im Exil: "Die Diktatur des Hausknechts und Walther Rathenau". "Erinnerungen eines Freundes." 1948 erlitt Alfred Kerr als Besucher in Hamburg einen Schlaganfall.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

In Frack und Lack und Claque
Die "Berliner Briefe" Alfred Kerrs / Von Ulrich Weinzierl

Auf die Glückwünsche zu seinem Achtzigsten hatte er geantwortet: "Man stirbt einen Tod; man weiß nur nicht welchen; vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen." Zehn Monate darauf, Mitte September 1948, flog der deutsche Emigrant von London nach Hamburg. Während des Fluges, der für ihn eine Premiere war, notierte er gleichsam automatisch seine Himmelseindrücke: "Glanz - Glanz verwundert miterlebt, vor dem Abkratzen." Am Abend der Ankunft ging der immer noch hellwache Greis ins Theater und erlitt einen Schlaganfall. Halbseitig gelähmt, entschlief er am Morgen des 12. Oktober dank einer Überdosis Veronal. Seinem Sohn hinterließ er die Botschaft: "Ich habe das Leben sehr geliebt, aber beendet(?), als es zur Qual wurde." Alfred Kerr, der berühmteste und meistgehaßte Kritiker seiner Epoche, hat das Leben in der Tat sehr, ja, unbändig geliebt. Er liebte die Schönheit, er liebte Macht und Erfolg und jeglichen Zauber - sei's der Natur, sei's der Kunst.

Schon früh hatte sich Alfred Kempner aus Breslau in des Wortes Doppelsinn einen Namen gemacht. Zum einen sein (1909 legalisiertes) Pseudonym, um nicht mit dem "schlesischen Schwan" Friederike Kempner in rufschädigenden Zusammenhang gebracht zu werden. "Sie war meine Tante nicht. Sie waaar es nichttt!!!" protestierte er, weithin vernehmlich und vergeblich. Zum anderen war Kerr bereits in einem Alter eine Institution, da sich die zünftigen Kollegen eben ihre ersten Sporen verdienten. Wer behauptet, dieser Mann habe den professionellen Theaterkritiker als Figur von Starformat geschaffen, übertreibt nicht im geringsten. Seine großen Auftritte fanden jeweils im Saal vor Publikum statt und dann, noch effektvoller, unter dem Strich tonangebender Journale. Wie aber wird man eine die Masse turmhoch überragende Gestalt? Unverwechselbarkeit eines Markenprodukts lautet das Rezept, und Stilisierung ist das Mittel zum Zweck: Seine Rezensionen waren sogar für den Laien durch die römische Bezifferung der Absätze sofort erkennbar: made by Kerr.

Das ihn bindende künstlerische Gesetz hat der Tagesschriftsteller mit dem "Ewigkeitszug" selbst am trefflichsten definiert: "Dein Ausdrucksziel: das Knappere. / Der Inhalt: ,Aude sapere!'" Freilich liegt Kerrs Anspruch, die Kritik als vierte Kunstgattung zu etablieren, hart an der Grenze zum Größenwahn. Als Beleg für solche Diagnose wären jede Menge Zitate des "Gegenschöpfers" anzuführen. Eine winzige Blütenlese: Kritik "ist in dieser Welt das Oberste: wenn sie auch Kunst ist." Und daß Kritik Kunst sei, so Kerr, habe er naturgemäß anhand der eigenen Schriften erkannt, denn die erzeugten "Musik des Stahls". Dichter hingegen hätten leider "keine Sprachkraft". Darum konnte der Thomas-Mann-Verächter die nicht ganz unbegabte Novelle "Der Tod in Venedig" mit dem Resümee abfertigen: "Immerhin ist hier Päderastie annehmbar für den gebildeten Mittelstand gemacht."

Indes läßt sich der Fall Kerr mit seltsamen Selbstaussagen und den unvermeidlichen Fehlurteilen keineswegs erledigen. Auch bei ihm war die Praxis oft stärker als die Theorie. Vom biblischen König David wollte Alfred Kerr die Instrumente seines Metiers geliehen haben: "Schleuder und Harfe." Und beide beherrschte er ohne Zweifel virtuos. Wenn man in seinem fünfbändigen kritischen Vermächtnis "Die Welt im Drama" oder in späteren Sammelausgaben blättert, wechseln Faszination und Abscheu einander ab. Da ist die zupackende Modernität seines Martellato-Telegrammstils, da ist die außerordentliche Beobachtungsgabe; da sind Witz und messerscharfe Diktion und - vor allem - die hochdramatische, geradezu expressionistische Inszenierung seiner Texte. Kaum erträglich wirken jedoch das läppische "Ecco", viele bemühte Wortschöpfungen (vom "Mimentreiber" bis zum "Einüberich" für den Regisseur), das Pfauengehabe seiner Mätzchen und Marotten. Dieses Artisten-Problem war nie ein Mangel an Talent, es war dessen Überfülle, die sich allzu disziplinlos in Manierismen entlud. Kerrs Verteidigungsangriff, "Manier ist ein Defekt im Leser", lief schon einst und läuft noch heute ins Leere. Wie er Schiller postum zur Räson gerufen hat, darf man auch ihm erwidern: "Kerr, es geht nicht."

Bewunderer seines OEuvres hören es ungern: Haß machte ihn, anders als den Intimfeind Karl Kraus, klein. Die antisemitischen Verse des Juden Kerr auf den Satiriker gleicher Herkunft: "Armes Kruppzeug - glotzt und schreit: / ,Bin ich ä Perseenlichkeit . . .!'" klingen ebenso widerwärtig wie die Attacken gegen den Konkurrenten "Schminkeles" Harden oder seine chauvinistischen Weltkriegsgedichte. Dabei war Alfred Kerr, aus Schmerz und Trauer und Empörung, durchaus zu bedeutenden Sprachkunstwerken fähig. Der Abschied anno 1933 von dem mit dem Naziregime paktierenden Freund Hauptmann, dessen Herold Kerr jahrzehntelang gewesen war, bleibt gerade in seinem klassischen Fluchpathos ein unvergängliches Dokument: "Hauptmann, Gerhart, ist ehrlos geworden", heißt es darin. Und: "Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln; sein Bild begraben in Staub."

Wozu all die Erwägungen über eine vielschichtige, widersprüchliche und gewiß singuläre Erscheinung der deutschen Literatur? Weil uns Günther Rühle kürzlich Bibliotheksausgrabungen vorgelegt hat, die einen unbekannten Kerr zeigen. Von 1895 bis einschließlich 1900 verfaßte der etwa dreißigjährige Doktor der Philosophie in Berlin Kulturberichte für die liberale "Breslauer Zeitung", er schrieb aus der glitzernden Metropole für die achtbare Provinz.

Mit Fanfarenstößen beginnen seine "Berliner Briefe". Frech nennt der Debütant den Berliner Westen eine "elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas könnnen, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben". Später einmal sollte Alfred Kerr als Lieblingsbeschäftigung unter anderem angeben: "Sätze meistern. Und Krach." Stilistisches Können findet sich in seinen Berlin-Kolumnen schon in Vollendung, die Neigung zum Lärmen erst in Ansätzen. Der Feuilletonist Alfred Kerr hat sichtlich Spaß an amüsanten Sticheleien, souverän bedient er sich der romantischen Ironie. Seiner Neugier wird alles zum Thema, hurtig springt er vom scheinbar Erhabenen zum Gewöhnlichen. Natürlich bietet das Berlin des Fin de siècle dem ehrgeizigen Journalisten wunderbaren Stoff - zum Erzählen und zum Kommentieren. Aus der nüchtern-strengen preußischen Residenz entwickelt sich die kaiserliche Reichshauptstadt mit allem, was dazugehört: den repräsentativen Neubauten, der fortschreitenden Technisierung, dem explodierendem Bevölkerungswachstum. In den Warentempeln regiert luxuriöse Verschwendung, die Parvenüs beziehen ihre Villen, Schwindler, Bankrotteure und Selbstmörder haben Saison. Noch aber wirkt in jener Auf- und Umbruchsphase das Alte weiter, noch leben Fontane, Bismarck und Menzel, die "kleine Exzellenz". Von ihnen allen wirft Kerr en passant mit präzisen Strichen Porträtminiaturen aufs Papier.

Manchmal stöhnt er über die Flut der Verpflichtungen: Aus Ballsälen, von Soireen und Premieren, bei denen er in "Frack und Claque und Lack" auftritt, hetzt der rasende Reporter zu Prozessen vor Gericht oder gar ins Irrenhaus. Und freitags wird diktiert. Als das "Fräulein", das seine Arbeiten tippt, an der Grippe stirbt, widmet er der "älteren, ganz Nerven und Geist gewordenen Dame" einen berührenden Nachruf. Immer wieder, zuweilen ein bißchen kokett, flicht der Berichterstatter Persönlichstes ein. Es stört nicht, sondern bringt zusätzliche Farbe.

Zur selben Zeit, allerdings für eine kürzere Periode, schickt übrigens Karl Kraus der "Breslauer Zeitung" seine "Wiener Briefe". Wählt Kerr die Berufsbezeichnung "Chronist", so bevorzugt Kraus den altmodischen Begriff "Chroniqueur". Auf die Gefahr hin, Krausianer zu kränken: Ein Vergleich fällt nicht unbedingt zugunsten des um sieben Jahre jüngeren Wieners aus. Kerrs Feuilletons sind welthaltiger, temperamentvoller, frischer. In diesem pointillistischen Straßenbild- und Salonmaler steckt ein Sozialpsychologe, im charmanten Plauderer ein bissiger Spötter. Zu Recht beklagt Kraus den Nachteil seiner Position als Auslandskorrespondent in der Heimat: "Um von Wien neue Eindrücke zu bekommen, müßte man ein Zugereister sein, aber jeden Tag ein anderer." Alfred Kerr wiederum ist längst kein Fremder mehr in Berlin, doch versucht er sich den Blick des staunenden Betrachters und Augengourmets zu bewahren. Und der entdeckt beim Flanieren lohnende Objekte genug: die Bombastik Wilhelms des Zweiten und dessen unsäglichen Kitschgeschmack, Junkeranmaßung und bürgerliche Schweifwedelei vor Thron und Altar. Kerr reibt sich am Übermenschentum Nietzsches und am "sächsischen Agitator" Richard Wagner, er verhöhnt die vom Hof protegierten Schmarren-Dramatiker Wildenbruch und Lauff und Skowronnek und rühmt dafür Schnitzler und Hauptmann. Daß er der üblichen Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung entgeht, verdankt er einzig und allein seinem Formulierungsgeschick. Sottisen über die "reaktionäre Epoche" und den Staat als "Zwangserziehungsanstalt" äußert er stets con sordino und nebenbei. Ein Musterbeispiel für Kerrs feine Bosheit, aus Anlaß von Wilhelms Palästinareise 1898: "Der protestantische Kaiser fährt in das Land der Juden und besucht vorher den mohammedanischen Sultan. Nun muß aber auch die Geschichte mit den drei Ringen losgehn."

Alfred Kerr rezensiert mit Vorliebe die Schwänke und Tragödien der Gesellschaft, unstillbarer Erlebnishunger treibt ihn bis zum Londoner Sozialistenkongreß, wo ihm Bebel beim gemeinsamen Spaziergang im Park den Unterschied zwischen Anarchisten und Sozialisten erklärt, zumindest was deren intellektuellen Reiz betrifft. Clara Zetkin, die Duse des Proletariats, zieht den Theaterfanatiker sogleich in ihren Bann, und Kerrs Bericht aus London wird zu einem Höhepunkt seiner Prosa. Überhaupt beeindruckt der politische Verstand des Ästheten: Den chinesischen Boxeraufstand und die Vergeltungsexpedition der europäischen Mächte analysiert Kerr noch vor der berüchtigten allerhöchsten "Hunnenrede" so einfach wie einprägsam. In wenigen Zeilen charakterisiert er modellhaft das Funktionsprinzip von Kolonialismus und Imperialismus: "Weiße Kaufleute brauchen Absatzgebiete; die Geistlichkeit schwört, es gehe um das Christentum; die Geistlichkeit kitzelt den Zorn der Bevölkerung wach; die Bevölkerung schlachtet gelegentlich ein paar solcher Missionare; dafür läßt sich ihre Regierung Häfen zur Strafe ausliefern; deshalb geschehen die Aufstände; wegen der Aufstände bekommen wir bald neue Häfen; die Geistlichkeit triumphiert, daß das Christentum gesiegt hat; Arthur Schopenhauer liegt auf dem Bauche, in seinem Frankfurter Sarkophag." Die auftrumpfende Floskel "Ecco", sie fehlt. Als Zeichen des Respekts möchten wir sie ausnahmsweise hinzufügen.

Dem unermüdlichen Vorkämpfer einer Kerr-Renaissance, Günther Rühle, gebührt für die Herausgabe der in ihrer Mehrzahl fulminanten Fundstücke hohe Anerkennung. Daß in den sonst vorzüglichen Anmerkungen einige Mißgeschicke passierten, sei nur am Rande erwähnt: Einen k.k. Ministerpräsidenten "Josef Baderin" kennt die Historiographie nicht, gemeint ist Kasimir Graf Badeni. Ferdinand Lassalle benötigt wahrlich kein Adelsprädikat, und ein verborgenes Zitat aus dem Buch Hiob als "christliche Verse" auszuweisen, grenzt an Kühnheit. Zudem verhindert ein sinnwidriger Druckfehler ("cher" statt "chez") die Entschlüsselung eines unvergessenen Vaudeville. Es handelt sich um Feydeaus "Die Dame vom Maxim". Gemessen am Umfang der Edition, sind das jedoch Lappalien.

Erheblich wichtiger scheint: Mit dem Band "Wo liegt Berlin?" wurde lange Verschollenes zutage gefördert - ein deutsches Jahrhundertwendepanorama in Mosaikform, das Bestand hat, weil Qualität nicht veraltet. Kerrs Reisereportagen, seine Impressionen von Landschaften und Menschen, erreichten ein ähnliches, unverkrampftes Niveau. Ihr Titel war: "Die Welt im Licht". Sie erstrahlt auch in den "Briefen aus der Reichshauptstadt". Kurzum: Alfred Kerr, der hinreißende Anfänger, ist uns insgesamt sympathischer geworden.

Alfred Kerr: "Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt".Herausgegeben von Günther Rühle. Aufbau Verlag, Berlin 1997. 767 S., geb., 79,90 DM.

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