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Debüt eines Regisseurs: Luc Bondy, sonst mit Schauspiel und Oper befasst, hat seine erste Sammlung von Prosatexten vorgelegt. Es entsteht ein Lebensbogen aus Szenen und Miniaturen, ein Roman in Fragmenten. Geschichten eines Künstlers voller Weltneugier, in denen immer wieder die Sprache leuchtet.

Produktbeschreibung
Debüt eines Regisseurs: Luc Bondy, sonst mit Schauspiel und Oper befasst, hat seine erste Sammlung von Prosatexten vorgelegt. Es entsteht ein Lebensbogen aus Szenen und Miniaturen, ein Roman in Fragmenten. Geschichten eines Künstlers voller Weltneugier, in denen immer wieder die Sprache leuchtet.
Autorenporträt
Luc Bondy wurde 1948 in Zürich geboren und wuchs in Südfrankreich auf. Ausbildung in Paris an der Schauspielschule des Pantomimen Jacques Lecoq. Er gilt als einer der führenden Bühnenregisseure der Welt und arbeitet an allen großen Häusern sowohl im Schauspiel als auch in der Oper. Seit 1998 in der Leitung, seit 2002 alleiniger Intendant der Wiener Festwochen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.1998

Traumstich hinter die Wand
Erzählregie: Luc Bondy fragt "Wo war ich?" · Von Gerhard Stadelmaier

Die Dame, von der wir hier lesen, wie sie sich fröstelnd und lächelnd an einen Heizkörper lehnt, langsam eine Zigarette inhaliert und ihrem Mann beiläufig mitteilt, es gebe gleich Kalbsleber mit Apfelscheiben, und dabei den Tod oder eine andere Unfaßbarkeit auf den dünnen, mokanten Lippen hat - sie haben wir irgendwann schon einmal auf dem Theater gesehen. Nicht so, nicht ganz so. Jünger ganz bestimmt, verzweifelter vielleicht, glücklicher womöglich, weniger rauchend unter Umständen. Und ganz bestimmt attraktiver, körperlicher, sinnlicher. Aber sicher so leicht, so schwerelos, ganz hier und gleichzeitig weit weg, gebunden an eine lächerliche Situation, aber aus ihr hervorleuchtend.

So war sie in vielen Gestalten und Körpern in den Inszenierungen des Regisseurs Luc Bondy schon auf der Bühne. Und er war ihr mit seinem Gelächter, seiner Ironie, seiner lässig-federnden Erotik nahe. Jetzt, wenn er die Dame nicht inszeniert, sondern sie erzählt und sie auf ein paar Seiten Prosa als "meine Großmutter" vorstellt, fragt er sich im Buchtitel: "Wo war ich?" Er war nie bei ihr. Selbst wenn sie spitznasig und dünn im Sarg liegt, dann liest, sieht, träumt er durch sie hindurch. Er benimmt sich wie ein Hamlet, der hinter dem Vorhang, hinter der Tapete das aufregendere Leben oder den aufregenderen Tod vermutet - und hinter der Wand liegt wieder eine Wand und immer so weiter. Und erst auf der Bühne hören die Wände auf.

So verschwindet eine Dame aus dem Leben und wird durch alle Wände hindurch zur Kunst, in der man das Leben noch spürt. Und umgekehrt spürt und schmeckt man in all dem chaotischen Leben, das der Erzähler nur einfach vorfindet, schon die Kunst.

Regisseure müssen nicht schreiben können. Es wäre oft schon gut, wenn sie lesen könnten. Viele sind der Szene, nicht der Sprache mächtig ("Wenn ich schreiben könnte, hätte ich auch Theaterkritiker werden können", hat mal einer der gescheiteren unter ihnen geseufzt). Luc Bondy, der größte und gierigste Leser unter den Regisseuren, der die schöne Legende lebt, er habe jeden Tag alle Anzugs- und Manteltaschen voller Bücher, schreibt, wie er liest. Sprunghaft, neugierig, in ein Buch hinein-, aus einem anderen herausspringend, süchtig nach dem, was einer auf zwei, drei Seiten alles erleben kann. Das ist nicht einmal immer gut geschrieben, eher schnell auf Papier phantasiert, sozusagen plaudergeträumt, manchmal mit der umwerfenden Lakonik des lächelnden szenischen Pointensetzers, wenn er beobachtet, wie ein französischer Freund so lange so wahnsinnige Gedichte auf eine klapperdürre sonnenbrillenbewehrte chinesische Unbekannte macht, die er nie berührt, nie anspricht, immer nur andichtet, bis seine Ehe auseinanderfällt wie ein kaputtes Uhrwerk. Bondy wirkt da, als wenn er eine Komödie von Sacha Guitry aus dem Jahr 1930 mit einer Groteske von Ionesco aus dem Jahr 1950 leichterhand fabulierend im Jahr 1997 vermählte - ein funkelndes Geniestück.

Geniestücktransporteure dürfen sich auch unglaubliche Fehler leisten: wenn sie zum Beispiel Herrn Hofreiter in Schnitzlers "Weitem Land" mit Herrn Hofrat oder den Foldal in Ibsens "Borkman" mit dem Ekdal aus Ibsens "Wildente" verwechseln. Aber diese Fehler sind nur Fehler, wenn man die Katastrophe philologisch fühlt. Bondy fühlt in diesem Augenblick die Katastrophe menschlich: Einer seiner Lieblingsschauspieler hat sich umgebracht, in Recklinghausen vor den Zug geworfen, aber vorher schon sich innerlich davongemacht.

Dieses Davongehen, Davonspielen, Müde- und Sprachloswerden erzählt Bondy mit dem glückstraurigen Pathos eines Theaterkritikers, der einen Kunst-Liebling rezensiert, und zugleich mit dem wutgescheiten Aufschrei eines nahen Angehörigen, der sich vor dem Abgang eines liebsten Freundes auch den Kitsch der Tränenerstickung leisten darf - aber es so erzählt, daß man selbst dann, wenn man von diesem Todesfall des Schauspielers Roland Amstutz real in der Zeitung gelesen hat, hier bei Bondy ganz zart, wie nebenbei gefesselt ist. Wie von einer ungeheuren Begebenheit aus der schönen, schaurigen Novellen-Welt.

Wer nicht schon alles über den Regisseur und die Person Luc Bondy weiß, wird in diesen sechsundzwanzig Skizzen, Erzählungen, Anekdoten, Splittern, Etüden, Tagebuchfeuilletons nichts über ihn erfahren. Gerade weil er nur über sich selber schreibt, seine Frauen, seine Ängste, seine Träume, seine guten Vorsätze, seine bösen Witze, verbirgt sich Bondy unter lauter Masken. Wie's drinnen wirklich aussieht, geht keinen was an: Die Seele ist auch nur eine Bühne. Aber man erfährt unendlich viel darüber, wie sich Bondys Augen bewegen, wie er in die Welt und ins Leben hinausblinzelt. "Wo war ich?" ist ein helles, schnelles Augenbuch. Sein Erzähler, einem Kopffüßler ähnelnd, dessen Kopf ganz Auge ist, schlendert wie auf elektrisierten Beinen leicht federnd durch die Welt. Ein neugierig witternder, ruhelos gelenkiger Spaziergänger. Wer ihm folgt, hat seinen zivilisierten Voyeursspaß. Man sieht ihn vor Metrostationen und an Restauranttischen. Man schaut ihm bei der Zeitungslektüre über die Schulter, als er gerade danach giert, daß Inszenierungen von Kollegen verrissen und seine eigenen in den Himmel hinein gelobt werden. Man erlebt ihn mit Frauen, die ihm während einer Theaterprobe von Zauberern entführt werden, die aus New York für teures Subventionsgeld eingeflogen wurden: So wird der Ehebruch aus dem Theater-Etat beglichen. Man sieht ihn mit Freunden, die ihn betrügen, mit dicken, kleinen Kindern, die ihm im Internat die Suppe wegessen. Man erlebt, wie er nächtens von der skandalösen Tatsache albträumt, noch immer nicht den einzigen Theaterpreis, der ihm nach Recht und Gesetz zustünde, bekommen zu haben, und wie ihn die Geister der Preisträger heimsuchen, hinter deren Fratzen man unschwer die Breth (die mit den fettigen Haaren), den Stein (den mit den Backenknochen), die Clever (die mit den Aischylos-Monologen zur guten Nacht) erkennen kann, und wie er mit ihnen sein Spiel treibt.

Man blickt dem dahinstäubenden Kokain hinterher, das er auf rasenden nächtlichen Streifzügen erbeutet wie der nüchternste Süchtige der Welt. Man schaut in Mädchengesichter, die ihm ein Leben lang nachgehen. Man ist leichterhand mit der Krebskrankheit auf du und du, die ihm zu Zeiten nachkroch wie ein trotz allem faszinierendes Ungeheuer. Man assistiert hochamüsiert und hocherschrocken einem Vater, der im süß-sardonischen Dämmer des Schlaganfalls in einer unhörbaren inneren Rede die versammelte Familie traurig sarkastisch durchhechelt zur Feier des achtzigsten Geburtstages, während draußen die Schneeflocken fallen und es im Gehirn immer dunkler wird. Lauter Augenblicke, die in ein Fest ausarten: in ein Fest des Rausches, der Nachdenklichkeit, der Trauer, des Witzes, am Ende in ein Fest des Todes.

Es ist gleichgültig, ob dies alles wahr oder möglicherweise biographisch oder nur montiert ist. Wenn es denn gefunden oder vorgefunden sein sollte, hat es immer sofort den offenen Glanz und das öffentliche Leuchten des Erfundenen, das lässige Strahlen des wunderbar Kuriosen, Geheimnisvollen, das unerlöst, unerklärt funkelt und manchmal auch prunkt. Der Unter-, besser: Nebentitel von "Wo war ich?" lautet "Einbildungen". Bondys Einbildungen kommen aus Bondys Lebenstollheit, die zu Kunst wird. Erzählt von einem Lebenskünstler, der nebenbei Theater macht.

Luc Bondy: "Wo war ich? Einbildungen." Ammann Verlag, Zürich 1998. 198 S., geb., 34,- DM.

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