Izak, ein 50jähriger gutsituierter Kaufmann, ist mit seinem Leben, das ereignislos und in geregelten Bahnen verläuft, unzufrieden. So besinnt er sich auf seine revolutionäre Jugendzeit und macht sich auf die Suche nach seinen ehemaligen Freunden. Er plant, mit ihnen ein einst gemeinsam verfaßtes Theaterstück über die bunte Völkermischung Istanbuls in seiner alten Schule noch einmal auf die Bühne zu bringen. Nach und nach findet er sie alle wieder: den Türken Necmi, den Griechen Yorgos, den Juden Niso, die Jüdin Seli und die Türkin Sebnem. Doch schon bald zeigt sich, wie sehr sich alle im Laufe der Zeit verändert haben. Keiner von ihnen hat mit seiner Jugendliebe das Glück gefunden, keiner hat seine 'linken' Vorstellungen von einer sozial gerechten Gesellschaft realisieren können. Sie haben schwere Schicksalsschläge erlitten, Gefangenschaft und Folter. Dennoch finden sie zu ihrer einst engen Freundschaft zurück. Die Ehrlichkeit, mit der sie sich ihren Gefühlen stellen, auch mit ihren dunklen Seiten, und der bittere Humor, mit der sie das Unausweichliche akzeptieren, hebt diese Begegnung weit über ein 'Klassentreffen' hinaus. Keiner von ihnen wird wieder in den gewohnten Alltag zurückkehren können ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2011Das Flüstern des Ausweisungsbeamten
In seinem neuen Roman „Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach“ ruft der türkische Autor Mario Levi
den kosmopolitischen Geist Istanbuls gegen den Nationalismus zu Hilfe Von Joachim Käppner
Vor diesem Laden will der Junge fliehen. Der Vater hat darin „jahraus jahrein Drogeriewaren hergestellt, Sommersprossenmittel, Schwefelseife, Talkumpulver, Enthaarungspaste, Präservative aus China, Brillante und Rasierpinsel verkauft“. Es ist sein ganzes Leben, das eines jüdischen Händlers in Istanbul, der es zu sehr bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Doch der Sohn will, kaum hat er die Universität abgeschlossen, fort: „Ich tat alles in meiner Macht Stehende, das Leben zurückzuweisen, das man mir bieten oder besser gesagt aufzwingen wollte. Nachgeben bedeutete ungefähr soviel wie in den Tod einwilligen. Es bedeutete, besiegt zu werden, klein beizugeben und – am schlimmsten – sich auszusöhnen.“
So beginnt Isaak, der Ich-Erzähler, in Mario Levis neuem Roman „Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?“ die Geschichte seiner Rebellion. Sie endet undramatisch, aber kläglich. Der Junge scheitert in London, an sich, an seiner Einsamkeit, an der Fremde: „Der Westen, den ich dort sah, war erschöpft und mitleidlos, ein hinter seinen Lichtern verborgener, sehr finsterer Westen. Ein Westen, der seine Fremden zermalmte und auf unterschiedliche Weise umbrachte.“
So ist er bald wieder daheim am Bosporus und steht im Laden des Vaters. Doch fremd ist er auch hier. Die Juden sind geduldet in der Türkei, aber Isaak spürt die Angst in seiner Familie, es könne einmal anders kommen, denkt an die vertriebenen orthodoxen Christen, die im Ersten Weltkrieg ermordeten Armenier: „Ich kam ja aus einer Geschichte voll tief gehender Bedrohungen, die mich diese Angst spüren ließen und mein Schweigen erwarteten und nährten.“
In seinem Buch „Istanbul ist ein Märchen“ hat Levi die Stadt beschrieben, die es nicht mehr gibt – die kosmopolitische Metropole, die neben den Muslimen auch Christen, Juden und Armeniern gehörte. Sein neuer Roman knüpft an die Beschwörung dieser Metropole an und ist eine Eloge auf die Freiheit und die Menschen, die sie wagen. Isaak macht sich auf die Suche nach seinen Jugendfreunden, die einst wie er den Kopf voll revolutionärer, utopischer Träume hatten: die Türken Necmi und Sebnem, den Juden Niso, Yorgos, den Griechen. Ihnen und ihrem Idealismus erging es übel unter der Knute der türkischen Militärs, die 1980 geputscht hatten. Isaak führt sie noch einmal alle zusammen, um das Theaterstück aufzuführen, das sie vor langer Zeit über die Vielvölkerstadt Istanbul verfasst hatten.
Die Militärdiktatur ist die Folie, auf der Levi, geboren 1957 in Istanbul, die zerstörerische Kraft des Nationalismus zeichnet, der die Türkei und ihre Metropole innerlich zermürbt und zerfressen hat. Im 19. Jahrhundert wurde das Osmanische Reich zum „kranken Mann am Bosporus“, sein Imperium zerbrach, und die Radikalen in Moskau und Athen träumten Fieberträume von der Rückkehr nach Byzanz, der Wiedererrichtung der christlichen Kaiserstadt, die 1453 an die Türken gefallen war.
Es siegte der Nationalismus, Europas Erbkrankheit des 19. und 20. Jahrhunderts. In seinem Buch „Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt“ schreibt Orhan Pamuk: „Dadurch, dass nach Gründung der Nationalstaaten der türkische und der griechische Staat ihre jeweiligen Minderheiten wie Geiseln behandelten, haben in den letzten fünfzig Jahren mehr Griechen Istanbul verlassen als in den fünfzig Jahren nach 1453.“
In einem der intensivsten Momente des Buchs schildert Yorgos, der Grieche, eine Filmszene. Polizisten weisen in den fünfziger Jahren eine griechische Familie aus Istanbul aus. Ein Beamter flüstert dem Vater etwas ins Ohr, der Mann überlegt kurz, sagt dann aber, er könne das Angebot leider nicht annehmen. Viele Jahre später erzählt der Vater, was geschehen ist: „Istanbul ist die schönste Stadt der Welt . . . An jenem Abend hat mir der Polizist zugeflüstert, ich bräuchte nicht zu gehen, wenn ich Muslim würde. Ich habe ein paar Sekunden lang überlegt. Jetzt bereue ich die paar Sekunden.“
Sieht man das Buch politischer, als es ist, kann man es auch als Plädoyer für Europa verstehen, das den Nationalismus durch seine Vereinigung, wenn nicht überwunden, so doch gezähmt hat. In diesem Europa wäre Platz für die Türkei, sie wäre nicht das erste Land, das in der Union freier Staaten von einer barbarischen Vergangenheit erlöst würde.
Levi selbst stammt aus einer jüdischen Familie, die vor mehr als einem halben Jahrtausend vor der eifernden christlichen Eroberern des muslimischen Spanien nach Konstantinopel floh, in die Stadt des Sultans. Er ist in Istanbul aufgewachsen und setzt seiner Heimat nun ein zweites literarisches Denkmal, melancholisch und verträumt, liebevoll und oftmals sehr traurig. Es ist eine Geschichte über ein Land, wie es sein könnte, und über Menschen, wie sie gerne geworden wären.
Nur langsam und zögernd erinnert sich die Türkei ihrer Vielfältigkeit. Als 2007 der armenische Journalist Hrant Dink ermordet wurde, waren für viele Menschen aus den Minderheiten die Zeiten der Finsternis wieder sehr nahe. Levi sagte damals Journalisten, erstmals könne er sich vorstellen, die geliebte Stadt am Meer zu verlassen. Am Ende des Romans wird ein Mensch aus dem Freundeskreis verlorengehen, nur ein Zettel bleibt zurück: „Ihr wart alle sehr gut zu mir . . . Die Finsternis bricht herein. Entschuldigt, daß ich euch enttäuscht habe.“
Mario Levi
Wo wart ihr, als die
Finsternis hereinbrach?
Roman. Aus dem Türkischen von Barbara und Hüseyin Yurtdas. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 679 S., 24,90 Euro.
„Ich kam ja aus einer
Geschichte voll
tief gehender Bedrohungen“
In seinem Buch „Istanbul ist ein Märchen“ hat Levi die Stadt beschrieben, die es nicht mehr gibt – die kosmopolitische Metropole, die neben den Muslimen auch Christen, Juden und Armeniern gehörte. Sein neuer Roman knüpft an diese Beschwörung an und ist eine Eloge auf die Freiheit und die Menschen, die sie wagen. Unser Bild zeigt den Blick von der Galata-Brücke
in Istanbul.
Foto: Marc
Riboud/Magnum Photos/Agentur Focus
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In seinem neuen Roman „Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach“ ruft der türkische Autor Mario Levi
den kosmopolitischen Geist Istanbuls gegen den Nationalismus zu Hilfe Von Joachim Käppner
Vor diesem Laden will der Junge fliehen. Der Vater hat darin „jahraus jahrein Drogeriewaren hergestellt, Sommersprossenmittel, Schwefelseife, Talkumpulver, Enthaarungspaste, Präservative aus China, Brillante und Rasierpinsel verkauft“. Es ist sein ganzes Leben, das eines jüdischen Händlers in Istanbul, der es zu sehr bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Doch der Sohn will, kaum hat er die Universität abgeschlossen, fort: „Ich tat alles in meiner Macht Stehende, das Leben zurückzuweisen, das man mir bieten oder besser gesagt aufzwingen wollte. Nachgeben bedeutete ungefähr soviel wie in den Tod einwilligen. Es bedeutete, besiegt zu werden, klein beizugeben und – am schlimmsten – sich auszusöhnen.“
So beginnt Isaak, der Ich-Erzähler, in Mario Levis neuem Roman „Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?“ die Geschichte seiner Rebellion. Sie endet undramatisch, aber kläglich. Der Junge scheitert in London, an sich, an seiner Einsamkeit, an der Fremde: „Der Westen, den ich dort sah, war erschöpft und mitleidlos, ein hinter seinen Lichtern verborgener, sehr finsterer Westen. Ein Westen, der seine Fremden zermalmte und auf unterschiedliche Weise umbrachte.“
So ist er bald wieder daheim am Bosporus und steht im Laden des Vaters. Doch fremd ist er auch hier. Die Juden sind geduldet in der Türkei, aber Isaak spürt die Angst in seiner Familie, es könne einmal anders kommen, denkt an die vertriebenen orthodoxen Christen, die im Ersten Weltkrieg ermordeten Armenier: „Ich kam ja aus einer Geschichte voll tief gehender Bedrohungen, die mich diese Angst spüren ließen und mein Schweigen erwarteten und nährten.“
In seinem Buch „Istanbul ist ein Märchen“ hat Levi die Stadt beschrieben, die es nicht mehr gibt – die kosmopolitische Metropole, die neben den Muslimen auch Christen, Juden und Armeniern gehörte. Sein neuer Roman knüpft an die Beschwörung dieser Metropole an und ist eine Eloge auf die Freiheit und die Menschen, die sie wagen. Isaak macht sich auf die Suche nach seinen Jugendfreunden, die einst wie er den Kopf voll revolutionärer, utopischer Träume hatten: die Türken Necmi und Sebnem, den Juden Niso, Yorgos, den Griechen. Ihnen und ihrem Idealismus erging es übel unter der Knute der türkischen Militärs, die 1980 geputscht hatten. Isaak führt sie noch einmal alle zusammen, um das Theaterstück aufzuführen, das sie vor langer Zeit über die Vielvölkerstadt Istanbul verfasst hatten.
Die Militärdiktatur ist die Folie, auf der Levi, geboren 1957 in Istanbul, die zerstörerische Kraft des Nationalismus zeichnet, der die Türkei und ihre Metropole innerlich zermürbt und zerfressen hat. Im 19. Jahrhundert wurde das Osmanische Reich zum „kranken Mann am Bosporus“, sein Imperium zerbrach, und die Radikalen in Moskau und Athen träumten Fieberträume von der Rückkehr nach Byzanz, der Wiedererrichtung der christlichen Kaiserstadt, die 1453 an die Türken gefallen war.
Es siegte der Nationalismus, Europas Erbkrankheit des 19. und 20. Jahrhunderts. In seinem Buch „Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt“ schreibt Orhan Pamuk: „Dadurch, dass nach Gründung der Nationalstaaten der türkische und der griechische Staat ihre jeweiligen Minderheiten wie Geiseln behandelten, haben in den letzten fünfzig Jahren mehr Griechen Istanbul verlassen als in den fünfzig Jahren nach 1453.“
In einem der intensivsten Momente des Buchs schildert Yorgos, der Grieche, eine Filmszene. Polizisten weisen in den fünfziger Jahren eine griechische Familie aus Istanbul aus. Ein Beamter flüstert dem Vater etwas ins Ohr, der Mann überlegt kurz, sagt dann aber, er könne das Angebot leider nicht annehmen. Viele Jahre später erzählt der Vater, was geschehen ist: „Istanbul ist die schönste Stadt der Welt . . . An jenem Abend hat mir der Polizist zugeflüstert, ich bräuchte nicht zu gehen, wenn ich Muslim würde. Ich habe ein paar Sekunden lang überlegt. Jetzt bereue ich die paar Sekunden.“
Sieht man das Buch politischer, als es ist, kann man es auch als Plädoyer für Europa verstehen, das den Nationalismus durch seine Vereinigung, wenn nicht überwunden, so doch gezähmt hat. In diesem Europa wäre Platz für die Türkei, sie wäre nicht das erste Land, das in der Union freier Staaten von einer barbarischen Vergangenheit erlöst würde.
Levi selbst stammt aus einer jüdischen Familie, die vor mehr als einem halben Jahrtausend vor der eifernden christlichen Eroberern des muslimischen Spanien nach Konstantinopel floh, in die Stadt des Sultans. Er ist in Istanbul aufgewachsen und setzt seiner Heimat nun ein zweites literarisches Denkmal, melancholisch und verträumt, liebevoll und oftmals sehr traurig. Es ist eine Geschichte über ein Land, wie es sein könnte, und über Menschen, wie sie gerne geworden wären.
Nur langsam und zögernd erinnert sich die Türkei ihrer Vielfältigkeit. Als 2007 der armenische Journalist Hrant Dink ermordet wurde, waren für viele Menschen aus den Minderheiten die Zeiten der Finsternis wieder sehr nahe. Levi sagte damals Journalisten, erstmals könne er sich vorstellen, die geliebte Stadt am Meer zu verlassen. Am Ende des Romans wird ein Mensch aus dem Freundeskreis verlorengehen, nur ein Zettel bleibt zurück: „Ihr wart alle sehr gut zu mir . . . Die Finsternis bricht herein. Entschuldigt, daß ich euch enttäuscht habe.“
Mario Levi
Wo wart ihr, als die
Finsternis hereinbrach?
Roman. Aus dem Türkischen von Barbara und Hüseyin Yurtdas. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 679 S., 24,90 Euro.
„Ich kam ja aus einer
Geschichte voll
tief gehender Bedrohungen“
In seinem Buch „Istanbul ist ein Märchen“ hat Levi die Stadt beschrieben, die es nicht mehr gibt – die kosmopolitische Metropole, die neben den Muslimen auch Christen, Juden und Armeniern gehörte. Sein neuer Roman knüpft an diese Beschwörung an und ist eine Eloge auf die Freiheit und die Menschen, die sie wagen. Unser Bild zeigt den Blick von der Galata-Brücke
in Istanbul.
Foto: Marc
Riboud/Magnum Photos/Agentur Focus
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nach seinem Roman "Istanbul ist ein Märchen" hat der jüdisch-türkische Autor Mario Levi mit "Wo wart ihr als die Finsternis hereinbrach" eine weitere Hommage auf das kosmopolitische Istanbul verfasst, stellt Rezensent Joachim Käppner wohlwollend fest. Allerdings ist es mehr ein Abgesang auf die "Freiheit und die Menschen, die sie wagten", denn Hintergrund bildet die Militärdiktatur, die nach einem Putsch 1980 installiert wurde, erklärt der Rezensent. Es ist die Geschichte von Isaak, der türkische, jüdische und griechische Freunde von einst zusammenruft, um noch einmal ein Theaterstück über die "Vielvölkerstadt" aufzuführen, erfahren wir. Politisch könne man das Ganze vielleicht als ein "Plädoyer für Europa" auffassen, meint Käppner, der sich von dieser traurigen Liebeserklärung an Istanbul und der Absage an den Nationalismus zu Gunsten eines Weltbürgertums sehr angetan zeigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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