Longlist - nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019.
In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1969 betritt Neil Armstrong als erster Mensch den Mond. Abermillionen verfolgen auf der Erde die Fernsehübertragung. Das machen sich einige zunutze. Martha Rohn etwa, wegen Mordes verurteilt, entkommt in jener fernsehstillen Nacht aus dem Frauenzuchthaus, und ihr fünfjähriger Sohn Hardy flieht aus dem Kinderheim, in das er als vermeintliches Waisenkind "Nummer 13" nach ihrer Verurteilung gesteckt wurde. Er weiß nichts über sie, weiß nicht einmal, dass sie noch lebt. Ein Ehepaar nimmt sich seiner an, bietet ihm ein Zuhause in der Neubausiedlung am Kahlen Hang, im Rheingau. Da träumt er davon, eines Tages Astronaut zu werden, und tatsächlich - Jahre später, in Amerika, ist die Verwirklichung des Kindheitstraums zum Greifen nah.
"Wo wir waren", ein breit gefächerter, ein gesamtes Jahrhundert umspannender Roman einer zerrissenen Familie, ist ungeheuer farbig und einfallsreich erzählt, mal rasant, mal nachdenklich, ein großes Tableau, das Zeiten, Länder, Geschichtliches und vor allem eine Vielzahl von Schicksalen verschränkt, von Cliffhanger zu Cliffhanger vorwärtsjagend und dann wieder anrührend und zart. Ein Roman über das Flüchten und Auf-der-Flucht-Sein, über Heimat und Fremde, Zufall und Verwandlung und immer wieder die Frage: Wo waren wir, und wo werden wir einmal sein?
In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1969 betritt Neil Armstrong als erster Mensch den Mond. Abermillionen verfolgen auf der Erde die Fernsehübertragung. Das machen sich einige zunutze. Martha Rohn etwa, wegen Mordes verurteilt, entkommt in jener fernsehstillen Nacht aus dem Frauenzuchthaus, und ihr fünfjähriger Sohn Hardy flieht aus dem Kinderheim, in das er als vermeintliches Waisenkind "Nummer 13" nach ihrer Verurteilung gesteckt wurde. Er weiß nichts über sie, weiß nicht einmal, dass sie noch lebt. Ein Ehepaar nimmt sich seiner an, bietet ihm ein Zuhause in der Neubausiedlung am Kahlen Hang, im Rheingau. Da träumt er davon, eines Tages Astronaut zu werden, und tatsächlich - Jahre später, in Amerika, ist die Verwirklichung des Kindheitstraums zum Greifen nah.
"Wo wir waren", ein breit gefächerter, ein gesamtes Jahrhundert umspannender Roman einer zerrissenen Familie, ist ungeheuer farbig und einfallsreich erzählt, mal rasant, mal nachdenklich, ein großes Tableau, das Zeiten, Länder, Geschichtliches und vor allem eine Vielzahl von Schicksalen verschränkt, von Cliffhanger zu Cliffhanger vorwärtsjagend und dann wieder anrührend und zart. Ein Roman über das Flüchten und Auf-der-Flucht-Sein, über Heimat und Fremde, Zufall und Verwandlung und immer wieder die Frage: Wo waren wir, und wo werden wir einmal sein?
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Jörg Magenau ist überwältigt von diesem großen Leseabenteuer, das ihm der Schriftsteller Martin Zähringer bereitet. Dass so viel Welt in einen Roman passt, hätte Magenau gar nicht gedacht: Wenn Zähringer die Geschichte des deutschen Waisenjungen Hardy erzählt, der es in einem kometenhaften Aufstieg zum superreichen Internet-Giganten schafft, schlägt einen großen Bogen über Kontinente und Jahrhunderte hinweg. Auf der Suche nach der Essenz des Lebens galoppiert Magenau mit Zähringer durch den Ersten und Zweiten Weltkrieg, durch Flucht und Vertreibung, Vietnamkrieg und Mondlandung. Magenau erkennt hier deutlich Michael Ondaatje, Thomas Pynchon und "Apokalypse Now" als Referenzpunkte intelligenter Unterhaltungsliteratur. Und auch wenn Zähringer in seinen Augen nicht unbedingt durch stilistische Brillanz glänze, so doch durch eine "federleichte Eleganz".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2019Schnapspralinen hinter Rüdesheim
Norbert Zähringer erzählt das Leben eines Waisenknaben, der in den Siebzigerjahren im Rheinland
aufbricht und es zum IT-Millionär im Silicon Valley bringt. Ein Roman voller Ablenkungen
VON BURKHARD MÜLLER
Wo haben Sie sich am 21. Juli 1969 befunden? Auf diese Frage kann so ziemlich jeder, der damals schon mit Bewusstsein auf der Welt war, eine Antwort geben. Ganz gewiss jedenfalls wird Hardy Rohn niemals vergessen, wo er damals war. Das hat nur indirekt mit der Mondlandung zu tun, sondern vor allem damit, dass sein älterer Komplize Schleicher diese Nacht, in der alle und besonders das Bewachungspersonal gebannt vor der Mattscheibe kleben, für ideal hält, um aus dem Waisenhaus abzuhauen. Der Schleicher, der dem fünfjährigen Hardy noch kurz das Messer an die Kehle hält, für den Fall, dass er auch nur ein Sterbenswörtlein verraten sollte, setzt sich gleich darauf ab; und Hardy, nun doppelt verwaist, irrt desorientiert durch die dunklen Weinberge des Rheingaus, bis er zufällig im Wohnzimmer des Sci-Fi-Autors Walther landet, der gerade eine Mondfernsehparty schmeißt.
Zwar holt einige Zeit später die Polizei Hardy ab und bringt ihn zurück ins Heim, wo er mit Schlägen und Isolationshaft in einem alten Weinfass bestraft wird; aber die Kontakte sind geknüpft. Wenig später adoptieren ihn Dr. Kunze, ein schwergewichtiger Versicherungsvertreter mit Zigarre im Stil von Ludwig Erhard, und seine zwanzig Jahre jüngere Ehefrau Jessica, eine patente Sportlehrerin, die keine eigenen Kinder haben.
Die Mondlandung erfüllte die in sie gesetzten Erwartungen bekanntlich nicht. Wenn gegenwärtig ihr fünfzigster Jahrestag begangen wird, dann eher in gedämpften Tönen. Beim kleinen Schritt blieb es, und seit den frühen Siebzigern ist kein Mensch mehr weiter gekommen als bis in die Erdumlaufbahn. Was nur hat den Autor Norbert Zähringer bewogen, ausgerechnet diese hoffnungsfrohe Sackgasse zum Angelpunkt seines neuen Romans „Wo wir waren“ zu machen? Das Gravitationszentrum, das er sich davon wohl versprochen hat, erweist sich als zu schwach, ein Buch von 500 Seiten zusammenzuhalten, obwohl es immer wieder auf besagte Sommernacht zurückkommt.
Am deutlichsten stellt sich noch die Biografie Hardys dar, einer Figur wie von Charles Dickens erdacht. Das Waisenkind mit der Nummer 13 – nein, das Glück war ihm nicht hold an seiner Wiege –, mit hellem Blick und großer Begabung, wie er seinen Weg durch die deutsche Provinz der Siebzigerjahre nimmt.
Es ist eine Welt, in der Peter Frankenfeld von Rudi Carrell abgelöst wird, in der man noch im Simca am schönen Rhein entlanggondelt, doch alsbald schon im Hippiebus nach Afghanistan und Nepal aufbricht, 1978, ein Jahr, bevor in Iran die Mullahs und in Afghanistan die Rote Armee das Heft in die Hand nehmen: das letzte Friedensjahr des Kalten Krieges gewissermaßen, noch einmal Friede, Freude und süße Cannabis-Schwaden für Hardy, Jessica und Walther – denn es versteht sich, dass Jessica auf Dauer nicht bei dem alten Spießer Kunze bleiben kann, sondern mit dem coolen Lederjackenträger Walther durchbrennt, mag er auch nur billige Heftchen nach Art von Perry Rhodan schreiben.
Das Wunderkind Hardy zieht weiter nach Kalifornien, ins Silicon Valley, wird reich mit einer Firma, die frühzeitig ein GPS-Programm entwirft, verkauft sie für 250 Millionen Dollar und weiß als Rentner von Mitte dreißig mit seinem Leben und Geld nichts anzufangen, ist todunglücklich wie nicht einmal im Waisenhaus – da trifft er seine Kindheitsliebe Betti wieder, die inzwischen Stewardess ist: wird er sie halten können? Solchen Kolportagekitsch ließe sich der Leser noch einigermaßen gefallen, obwohl er sich sagt, man hätte Personen, Milieus und Zeit durchaus treffender charakterisieren können. Auch dass das Waisenkind im Zentrum die blasseste und am wenigsten greifbare Figur bleibt, musste schon bei Oliver Twist so sein.
Aber mit dieser linearen Story gibt sich Zähringer nicht zufrieden. Er will vielmehr um jeden Preis noch mehr Welt hereinholen. Und so springt er in einem kompletten Jahrhundert herum, beginnend 1901 und endend mit dem 10. September 2001 (na Leser, schwant Dir was?). Das nachmalige Waisenhaus hat als Lazarett im Ersten Weltkrieg gedient, später als Irrenhaus. Wir lernen Hardys Großvater kennen, der sich als Schiffsfunker auf den Weltmeeren herumtreibt, dann Hardys Mutter Martha (er selbst sie allerdings nie), die sich als Flüchtling aus dem Memelland schwertut und ihren unerträglichen Gatten schließlich mit vergifteten Schnapspralinen ins Jenseits befördert.
Vergiftete Schnapspralinen! Daraus hätte man ein wunderbares Leitmotiv für die BRD um 1960 machen können, speziell hier im Hinterland von Rüdesheim, wo dieses Produkt bis heute in Frakturschrift beworben wird. Zähringer lässt es sich entgehen. Martha versucht sich das Leben zu nehmen, indem sie Blei vom Klorohr ihrer Zelle abschabt und schluckt, sie wird auf einer Trage festgeschnallt, dem Arzt vorgeführt – und präsentiert ihm in dieser Situation ihre über Dutzende Seiten gehende Lebensgeschichte, am Stück und in elegischer Ausführlichkeit: „Kennen Sie das? Kurz bevor die kalte Jahreszeit kommt, bäumt sich der Sommer noch einmal auf, mit ein paar letzten warmen Tagen.“ Ist es vorstellbar, dass eine Frau, die soeben noch mit Schaum vor dem Mund tobend auf dem Boden gelegen hat und jetzt mit Gurten fixiert ist, so redet? Wenn sich hier jemand aufbäumen sollte, dann nicht der Sommer, sondern sie.
Je weiter das Buch voranschreitet, desto fahriger ist es konstruiert und geschrieben. Der Leser nimmt teil an den Abenteuern des GI Jim, Hardys leiblichem Vater, früher am Rhein stationiert und jetzt in Vietnam, eine völlig unfruchtbare Digression. Die Sätze klingen stellenweise, als wären sie sehr eilig aus dem Englischen übersetzt: „Und deswegen möchten wir, dass du weißt, dass das, was wir dir jetzt sagen, nichts ändert“ oder „Und er wusste auch lange nichts, denn Jennifer hatte beschlossen, einen Teufel zu tun, es ihm zu sagen.“ Unwahrscheinliche Wiederbegegnungen quer über den Globus sollen die Stringenz eines Schicksals behaupten, wo Zähringer nicht weiß, wie es weitergehen soll.
Als Hardy eine russische Raumkapsel besichtigt, mit der er doch noch zum Mond fliegen will, sitzt drinnen bereits eine asiatische Geschäftsfrau – wie sich herausstellt, niemand anders als die kindliche Kumari-Göttin, die er als 15-jähriger Tourist in Kathmandu scheu aus der Ferne bewundert hat! Und im Hintergrund des Waisenhauses treibt sich eine alte SS-Seilschaft herum … Wenn einem Autor gar nichts mehr einfällt: SS geht immer. Die Lektüre wird, obwohl die Vorkommnisse sich beschleunigen und auffächern, immer spröder und öder. Nein, es ist leider nichts gewesen mit der Mondlandung.
Norbert Zähringer: Wo wir waren. Roman. Rowohlt, Hamburg 2019, 511 Seiten, 25 Euro.
Seit den Siebzigern ist kein
Mensch mehr weiter gekommen
als in die Erdumlaufbahn
Zähringers Sätze klingen
stellenweise, als seien sie eilig
aus dem Englischen übersetzt
Die schönen siebziger Jahren, in denen Norbert Zähringers Roman beginnt, und in denen man am Rhein entlanggondelte und posierte.
Foto: plainpicture/R. Wolf
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Norbert Zähringer erzählt das Leben eines Waisenknaben, der in den Siebzigerjahren im Rheinland
aufbricht und es zum IT-Millionär im Silicon Valley bringt. Ein Roman voller Ablenkungen
VON BURKHARD MÜLLER
Wo haben Sie sich am 21. Juli 1969 befunden? Auf diese Frage kann so ziemlich jeder, der damals schon mit Bewusstsein auf der Welt war, eine Antwort geben. Ganz gewiss jedenfalls wird Hardy Rohn niemals vergessen, wo er damals war. Das hat nur indirekt mit der Mondlandung zu tun, sondern vor allem damit, dass sein älterer Komplize Schleicher diese Nacht, in der alle und besonders das Bewachungspersonal gebannt vor der Mattscheibe kleben, für ideal hält, um aus dem Waisenhaus abzuhauen. Der Schleicher, der dem fünfjährigen Hardy noch kurz das Messer an die Kehle hält, für den Fall, dass er auch nur ein Sterbenswörtlein verraten sollte, setzt sich gleich darauf ab; und Hardy, nun doppelt verwaist, irrt desorientiert durch die dunklen Weinberge des Rheingaus, bis er zufällig im Wohnzimmer des Sci-Fi-Autors Walther landet, der gerade eine Mondfernsehparty schmeißt.
Zwar holt einige Zeit später die Polizei Hardy ab und bringt ihn zurück ins Heim, wo er mit Schlägen und Isolationshaft in einem alten Weinfass bestraft wird; aber die Kontakte sind geknüpft. Wenig später adoptieren ihn Dr. Kunze, ein schwergewichtiger Versicherungsvertreter mit Zigarre im Stil von Ludwig Erhard, und seine zwanzig Jahre jüngere Ehefrau Jessica, eine patente Sportlehrerin, die keine eigenen Kinder haben.
Die Mondlandung erfüllte die in sie gesetzten Erwartungen bekanntlich nicht. Wenn gegenwärtig ihr fünfzigster Jahrestag begangen wird, dann eher in gedämpften Tönen. Beim kleinen Schritt blieb es, und seit den frühen Siebzigern ist kein Mensch mehr weiter gekommen als bis in die Erdumlaufbahn. Was nur hat den Autor Norbert Zähringer bewogen, ausgerechnet diese hoffnungsfrohe Sackgasse zum Angelpunkt seines neuen Romans „Wo wir waren“ zu machen? Das Gravitationszentrum, das er sich davon wohl versprochen hat, erweist sich als zu schwach, ein Buch von 500 Seiten zusammenzuhalten, obwohl es immer wieder auf besagte Sommernacht zurückkommt.
Am deutlichsten stellt sich noch die Biografie Hardys dar, einer Figur wie von Charles Dickens erdacht. Das Waisenkind mit der Nummer 13 – nein, das Glück war ihm nicht hold an seiner Wiege –, mit hellem Blick und großer Begabung, wie er seinen Weg durch die deutsche Provinz der Siebzigerjahre nimmt.
Es ist eine Welt, in der Peter Frankenfeld von Rudi Carrell abgelöst wird, in der man noch im Simca am schönen Rhein entlanggondelt, doch alsbald schon im Hippiebus nach Afghanistan und Nepal aufbricht, 1978, ein Jahr, bevor in Iran die Mullahs und in Afghanistan die Rote Armee das Heft in die Hand nehmen: das letzte Friedensjahr des Kalten Krieges gewissermaßen, noch einmal Friede, Freude und süße Cannabis-Schwaden für Hardy, Jessica und Walther – denn es versteht sich, dass Jessica auf Dauer nicht bei dem alten Spießer Kunze bleiben kann, sondern mit dem coolen Lederjackenträger Walther durchbrennt, mag er auch nur billige Heftchen nach Art von Perry Rhodan schreiben.
Das Wunderkind Hardy zieht weiter nach Kalifornien, ins Silicon Valley, wird reich mit einer Firma, die frühzeitig ein GPS-Programm entwirft, verkauft sie für 250 Millionen Dollar und weiß als Rentner von Mitte dreißig mit seinem Leben und Geld nichts anzufangen, ist todunglücklich wie nicht einmal im Waisenhaus – da trifft er seine Kindheitsliebe Betti wieder, die inzwischen Stewardess ist: wird er sie halten können? Solchen Kolportagekitsch ließe sich der Leser noch einigermaßen gefallen, obwohl er sich sagt, man hätte Personen, Milieus und Zeit durchaus treffender charakterisieren können. Auch dass das Waisenkind im Zentrum die blasseste und am wenigsten greifbare Figur bleibt, musste schon bei Oliver Twist so sein.
Aber mit dieser linearen Story gibt sich Zähringer nicht zufrieden. Er will vielmehr um jeden Preis noch mehr Welt hereinholen. Und so springt er in einem kompletten Jahrhundert herum, beginnend 1901 und endend mit dem 10. September 2001 (na Leser, schwant Dir was?). Das nachmalige Waisenhaus hat als Lazarett im Ersten Weltkrieg gedient, später als Irrenhaus. Wir lernen Hardys Großvater kennen, der sich als Schiffsfunker auf den Weltmeeren herumtreibt, dann Hardys Mutter Martha (er selbst sie allerdings nie), die sich als Flüchtling aus dem Memelland schwertut und ihren unerträglichen Gatten schließlich mit vergifteten Schnapspralinen ins Jenseits befördert.
Vergiftete Schnapspralinen! Daraus hätte man ein wunderbares Leitmotiv für die BRD um 1960 machen können, speziell hier im Hinterland von Rüdesheim, wo dieses Produkt bis heute in Frakturschrift beworben wird. Zähringer lässt es sich entgehen. Martha versucht sich das Leben zu nehmen, indem sie Blei vom Klorohr ihrer Zelle abschabt und schluckt, sie wird auf einer Trage festgeschnallt, dem Arzt vorgeführt – und präsentiert ihm in dieser Situation ihre über Dutzende Seiten gehende Lebensgeschichte, am Stück und in elegischer Ausführlichkeit: „Kennen Sie das? Kurz bevor die kalte Jahreszeit kommt, bäumt sich der Sommer noch einmal auf, mit ein paar letzten warmen Tagen.“ Ist es vorstellbar, dass eine Frau, die soeben noch mit Schaum vor dem Mund tobend auf dem Boden gelegen hat und jetzt mit Gurten fixiert ist, so redet? Wenn sich hier jemand aufbäumen sollte, dann nicht der Sommer, sondern sie.
Je weiter das Buch voranschreitet, desto fahriger ist es konstruiert und geschrieben. Der Leser nimmt teil an den Abenteuern des GI Jim, Hardys leiblichem Vater, früher am Rhein stationiert und jetzt in Vietnam, eine völlig unfruchtbare Digression. Die Sätze klingen stellenweise, als wären sie sehr eilig aus dem Englischen übersetzt: „Und deswegen möchten wir, dass du weißt, dass das, was wir dir jetzt sagen, nichts ändert“ oder „Und er wusste auch lange nichts, denn Jennifer hatte beschlossen, einen Teufel zu tun, es ihm zu sagen.“ Unwahrscheinliche Wiederbegegnungen quer über den Globus sollen die Stringenz eines Schicksals behaupten, wo Zähringer nicht weiß, wie es weitergehen soll.
Als Hardy eine russische Raumkapsel besichtigt, mit der er doch noch zum Mond fliegen will, sitzt drinnen bereits eine asiatische Geschäftsfrau – wie sich herausstellt, niemand anders als die kindliche Kumari-Göttin, die er als 15-jähriger Tourist in Kathmandu scheu aus der Ferne bewundert hat! Und im Hintergrund des Waisenhauses treibt sich eine alte SS-Seilschaft herum … Wenn einem Autor gar nichts mehr einfällt: SS geht immer. Die Lektüre wird, obwohl die Vorkommnisse sich beschleunigen und auffächern, immer spröder und öder. Nein, es ist leider nichts gewesen mit der Mondlandung.
Norbert Zähringer: Wo wir waren. Roman. Rowohlt, Hamburg 2019, 511 Seiten, 25 Euro.
Seit den Siebzigern ist kein
Mensch mehr weiter gekommen
als in die Erdumlaufbahn
Zähringers Sätze klingen
stellenweise, als seien sie eilig
aus dem Englischen übersetzt
Die schönen siebziger Jahren, in denen Norbert Zähringers Roman beginnt, und in denen man am Rhein entlanggondelte und posierte.
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Zähringer hat seit seinem Debüt "So" bewiesen, dass er ein virtuoser Textilverarbeiter von Handlungsfäden ist. Oder um ein noch passenderes Bild zu bemühen: ein Uhrmachermeister der Literatur. Alle seine Romane sind perfekt konstruierte Minimaschinen, in denen jedes Zahnrädchen ins andere greift, alle Figuren, Motive und Episoden aufeinander abgestimmt sind und kein einziges Detail ohne Funktion. Richard Kämmerlings Die Welt 20190504