48 Frauen. 48 unvorstellbare Schicksale. Ihre Narben ziehen die Blicke anderer auf sich. Sie werden offen angestarrt oder heimlich beäugt. Es ist bequemer für die Gesellschaft jene, die nicht der Norm entsprechen, zu ignorieren. Und damit auszugrenzen. Sie unsichtbar zu machen. Es sind nicht nur die Narben, unter denen Überlebende von Brand- und Säureanschlägen ein Leben lang zu leiden haben. Es sind vor allem unsere Reaktionen, die sie zu Außenseitern machen. Ann-Christine Woehrl hat die Überlebenden von Säure- und Brandanschlägen in Pakistan, Indien, Bangladesch, Nepal, Kambodscha und Uganda besucht. Die Fotografin hat diese Frauen auf ihren unterschiedlichen Pfaden zurück ins Leben porträtiert, nicht als tragische Opfer sondern als jene Menschen, die sie immer waren und trotz ihren unvorstellbaren Leidens geblieben sind. Entstanden ist ein einfühlsames - fast privates - Album, das die Betrachter herausfordert und vor allem inspiriert. Eine Hommage an Frauen, die mit Demut und heroischer Kraft zugleich ihr ganz besonderes Leben meistern. "Die Menschen müssen mich so akzeptieren, wie ich bin. Jetzt liebe ich mich. Ich habe gelernt, die innere Schönheit mehr zu schätzen - auch in anderen Menschen. Also versuche ich, auf das, was in meinem Herzen ist, stolz zu sein." Flavia, UgandaDiese Offenheit und Lebensfreude will die Fotografin in ihren Porträts zeigen. Genau das war ihr Anliegen. Sie wollte jede einzelne der überlebenden Frauen als Persönlichkeit darstellen, fernab des kollektiven Stigmas der Gebrandmarkten und ihnen damit wieder ein Gesicht geben; sie wieder sichtbar machen. Mit der Wahl eines neutralen schwarzen Hintergrunds für die Frauenporträts verzichtete Ann-Christine Woehrl im ersten Teil des Buches auf einen Bezug zum sozialen Umfeld der Frauen und verlieh ihnen so einen geborgenen und auch besonderen - ja feierlichen - Rahmen. Einen Rahmen, in dem sie sich zeigen und so posieren konnten, wie sie sich wohlfühlten - ohne das tragische Opfer darzustellen.Im zweiten Teil des Buches zeigt Ann-Christine Woehrl jeweils eine Überlebende in den sechs Ländern, die sie über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet hat, um den Alltag, den Überlebenswillen, die Schritte zurück ins Leben und Momente der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sowie der Freude und des Glücks einzufangen.Begleitet wird die fotografische Arbeit von einem einleitenden Textessay und sechs Interviews mit den sechs Frauen, die von Laura Salm-Reifferscheidt geführt und niedergeschrieben wurden.Das Buch erhielt die Auszeichnung "Deutscher Fotobuchpreis NOMINIERT 2015".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2015Ans Licht geholt
Die Frauenporträts in diesem Bildband zu betrachten fällt schwer. Lieber möchte man wegsehen. Aber genau darum geht es der Fotografin: Sie möchte diese Frauen sichtbar machen - achtundvierzig Opfer von Säureattentaten. Wobei die Reaktionen der Gesellschaft, die nicht hinsehen will, die Betroffenen ein weiteres Mal zu Opfern macht und sie in die soziale Isolation verbannt. Ann-Christine Woehrl hat in Bangladesch, Indien, Kambodscha, Nepal, Pakistan und Uganda Überlebende von Säure- und Brandanschlägen besucht - und fotografiert. Woehrl, 1975 geboren, arbeitet als freischaffende Fotografin und beschäftigt sich mit sozialen Themen, Frauenrechten und Religionen. Das Projekt In/Visible wurde von der VG Bild/Stiftung Kulturwerk gefördert. Im ersten Teil des schwergewichtigen Bandes folgen nur Porträts aufeinander. Alle Frauen wurden vor einem tiefschwarzen Hintergrund abgebildet. Sie blicken meistens in die Kamera, und der Blick ist offen. Der Fotografin gegenüber verstecken sie sich jedenfalls nicht. Oder nicht mehr. Einige von ihnen hat Woehrl viele Monate begleitet. Im zweiten Teil des Buches erzählt die Autorin Salm-Reifferscheidt die Geschichte dieser Frauen. Immer gibt es diesen einen, entsetzlichen Moment, der ein Leben zerstören wollte. Einigen der Frauen ist es gelungen, dieses Leben wieder für sich zu reklamieren. Flavia aus Uganda, der ein Unbekannter Säure ins Gesicht schüttete, traute sich zunächst lange nicht aus dem Haus. Heute sagt sie: "Die Menschen müssen mich so akzeptieren, wie ich bin. Ich habe gelernt, die innere Schönheit mehr zu schätzen - auch in anderen Menschen." Die Autorin berichtet von der Arbeit des Acid Survivor Trust International, der sich Überlebenden von Säureattentaten annimmt. Einer der Gründe für die hohe Zahl von derartigen Attentaten in Ländern wie Bangladesch, Kambodscha und Pakistan liege an den geringen Kosten und der leichten Zugänglichkeit von Säure, berichtet die Autorin. Die Säuren werden beim Baumwollanbau, in der Schmuckindustrie und bei Textilverarbeitern verwendet. Schärfere Gesetze zur Regulierung des Handels und Umgangs mit Säure zeigten in Bangladesch einen schnellen Erfolg. Die Angriffe sanken jährlich um bis zu zwanzig Prozent. Die Motive der Täter sind oft erschreckend banal: Eifersucht, verschmähte Heiratsanträge, eine zu niedrige Mitgift, Familienfehden. Fast immer sind die Opfer Frauen, nicht immer sind die Täter Männer.
bär
"In/Visible. Un/Sichtbar" von Ann-Christine Woehrl (Fotos), Laura Salm-Reifferscheidt (Text). Edition Lammerhuber, Baden 2014. 212 Seiten. Zahlreiche Fotos. Gebunden, 49,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Frauenporträts in diesem Bildband zu betrachten fällt schwer. Lieber möchte man wegsehen. Aber genau darum geht es der Fotografin: Sie möchte diese Frauen sichtbar machen - achtundvierzig Opfer von Säureattentaten. Wobei die Reaktionen der Gesellschaft, die nicht hinsehen will, die Betroffenen ein weiteres Mal zu Opfern macht und sie in die soziale Isolation verbannt. Ann-Christine Woehrl hat in Bangladesch, Indien, Kambodscha, Nepal, Pakistan und Uganda Überlebende von Säure- und Brandanschlägen besucht - und fotografiert. Woehrl, 1975 geboren, arbeitet als freischaffende Fotografin und beschäftigt sich mit sozialen Themen, Frauenrechten und Religionen. Das Projekt In/Visible wurde von der VG Bild/Stiftung Kulturwerk gefördert. Im ersten Teil des schwergewichtigen Bandes folgen nur Porträts aufeinander. Alle Frauen wurden vor einem tiefschwarzen Hintergrund abgebildet. Sie blicken meistens in die Kamera, und der Blick ist offen. Der Fotografin gegenüber verstecken sie sich jedenfalls nicht. Oder nicht mehr. Einige von ihnen hat Woehrl viele Monate begleitet. Im zweiten Teil des Buches erzählt die Autorin Salm-Reifferscheidt die Geschichte dieser Frauen. Immer gibt es diesen einen, entsetzlichen Moment, der ein Leben zerstören wollte. Einigen der Frauen ist es gelungen, dieses Leben wieder für sich zu reklamieren. Flavia aus Uganda, der ein Unbekannter Säure ins Gesicht schüttete, traute sich zunächst lange nicht aus dem Haus. Heute sagt sie: "Die Menschen müssen mich so akzeptieren, wie ich bin. Ich habe gelernt, die innere Schönheit mehr zu schätzen - auch in anderen Menschen." Die Autorin berichtet von der Arbeit des Acid Survivor Trust International, der sich Überlebenden von Säureattentaten annimmt. Einer der Gründe für die hohe Zahl von derartigen Attentaten in Ländern wie Bangladesch, Kambodscha und Pakistan liege an den geringen Kosten und der leichten Zugänglichkeit von Säure, berichtet die Autorin. Die Säuren werden beim Baumwollanbau, in der Schmuckindustrie und bei Textilverarbeitern verwendet. Schärfere Gesetze zur Regulierung des Handels und Umgangs mit Säure zeigten in Bangladesch einen schnellen Erfolg. Die Angriffe sanken jährlich um bis zu zwanzig Prozent. Die Motive der Täter sind oft erschreckend banal: Eifersucht, verschmähte Heiratsanträge, eine zu niedrige Mitgift, Familienfehden. Fast immer sind die Opfer Frauen, nicht immer sind die Täter Männer.
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"In/Visible. Un/Sichtbar" von Ann-Christine Woehrl (Fotos), Laura Salm-Reifferscheidt (Text). Edition Lammerhuber, Baden 2014. 212 Seiten. Zahlreiche Fotos. Gebunden, 49,90 Euro.
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