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Produktdetails
  • btb
  • Verlag: btb
  • Originaltitel: What I lived for
  • Seitenzahl: 749
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 620g
  • ISBN-13: 9783442721603
  • ISBN-10: 3442721601
  • Artikelnr.: 24293187
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.1997

Falscher Kopf
Joyce Carol Oates läßt leben Von Helmut Winter

Daß bei dem Umfang und Tempo ihrer Romanproduktion die Qualität irgendwann leiden würde, war abzusehen - Joyce Carol Oates muß sich inzwischen gefallen lassen, daß ihre Bücher auf zwei ungleiche Stapel gelegt werden: Der mit der billigen Massenware wird immer größer. "Wofür ich gelebt habe" aus dem Jahre 1995 ist der vierundzwanzigste Roman der inzwischen Neunundfünfzigjährigen; er gehört weder zu den Anbiederungen an die "pulp fiction" noch zu den literarisch anspruchsvolleren Texten dieser Autorin: ein gehobener Reißer, in dem sich, hinter der grell beleuchteten Fassade einer Provinzstadt, elementare Wahrheiten über das zeitgenössische Amerika abzeichnen sollen. Auf siebenhundert Seiten überwiegend wäßriger Prosa droht allerdings das Thema der Krise des beruflich und sexuell erfolgreichen Mannes immer wieder in einem Schwall von Klischees unterzugehen. Aber in gewissen Abständen taucht es aus der Flut der Platitüden auf, und dann wird vor dem Hintergrund zerrütteter Familien, desolater Stadtlandschaften und korrupter Politiker in Umrissen so etwas wie ein Porträt des amerikanischen Mannes von heute erkennbar.

Die erfahrene Schriftstellerin bedient sich dazu eines Mittels, das den Massenabsatz des Romans von vornherein garantiert hat: Sie stattet die Hauptfigur mit einem überdimensionalen Geschlechtstrieb aus. Der Immobilienhändler Corky Corcoran vergewaltigt im Laufe eines Wochenendes seine Geliebte Christina, schläft mit seiner Exfrau Charlotte und führt Kiki, die Freundin seiner Stieftochter Thalia, zu einem gewaltigen Orgasmus. Die Beschreibungen dieser Aktivitäten markieren einen Tiefpunkt in Geschmack und Ausdrucksfähigkeit der Autorin.

Wenn sie dagegen ihren Helden in der dritten Person über sich selbst philosophieren und in einem originellen, zupackenden Idiom beschreiben läßt, wie er, mit unzulänglichen Mitteln, den Mord an einer jungen Schwarzen aufzuklären versucht, hören wir die Stimme jener anderen Joyce Carol Oates, die aus der Tradition des amerikanischen Realismus kommt und die Verkettung von Schicksal und Charakter effektvoll glaubhaft machen kann. Über den inneren Monolog eines Machos mit einer Schwäche für große Autos und teure Kleidung entfaltet sich in diesem Roman eine komplexe Geschichte von Schuld und Verstrickung, in deren Zentrum der vermeintliche Selbstmord der jungen Schwarzen Marilee steht, mit der Corky Corcoran befreundet war. Vorangestellt ist eine Szene, in der Corky als Kind miterlebt, wie sein Vater am Weihnachtsabend vor der eigenen Haustür niedergeschossen wird. Gedrängt, die Täter zu identifizieren, die er nicht gesehen hat, sträubt sich der Elfjährige - die Mörder werden nie gefaßt, und Corky läuft für den Rest seines Lebens mit dem Komplex des Versagers herum.

Die Haupthandlung spielt an einem Wochenende im Jahre 1992. Corky, inzwischen zweiundvierzig, reicher Makler, liberaler Stadtverordneter und "the nicest guy" im fiktiven Union City, kommt mit den Widersprüchen in seinem Leben immer weniger zurecht und wird von Todesahnungen heimgesucht. Er hat Angst vor Schußwaffen, trägt aber stets eine Pistole bei sich, hält flammende Reden für die Gleichberechtigung der Schwarzen, ist aber gegen die eigenen rassistischen Reaktionen machtlos; er hat Urkunden gefälscht, Bestechungsgelder verteilt und angenommen, Frauen geliebt und mißhandelt und sich dem Suff ergeben. Als er erfährt, daß seine Geliebte ihre Affäre mit der ausdrücklichen Billigung ihres verkrüppelten Ehemannes unterhält, rastet er aus und taumelt in einer Odyssee der moralischen Desillusionierung durch die krasseren Erscheinungsformen des zeitgenössischen Amerika, die Joyce Carol Oates allesamt für Niedergangssymptome hält: Gewalttätigkeit, Krieg der Geschlechter, Rassenkonflikte, Verfall der bürgerlichen Werte.

Corkys Probleme haben darüber hinaus etwas mit seiner Sexualität zu tun, die automatisch in Aggressivität umschlägt, wenn sie keine Erfüllung findet. Der latente Rassismus des Katholiken Corky ist Ausdruck eines dumpfen Gefühls der Nichtzugehörigkeit, und seine Haltung gegenüber Frauen ist geprägt von den Klischeevorstellungen, die er vom anderen Geschlecht hat. Von sich selbst sagt er, er sei "eben kein Typ, der sich in seinem eigenen Kopf wohl fühlt".

Corky, so suggeriert die Autorin mit einem Mindestmaß an Ironie und Humor, besitzt eine postmoderne, dezentrierte Identität, er hat keine moralischen Instinkte und ist den auf ihn eindringenden Informationen wehrlos ausgeliefert. Seine Mitmenschen nimmt er nur verschwommen wahr, was dazu führt, daß dem Leser selbst dramatische Wendungen der Handlung nur indirekt vermittelt werden. Joyce Carol Oates, die von naturalistischer Direktheit bis zur surrealen Phantastik alle narrativen Register ziehen kann, hat eine beängstigende Fertigkeit darin entwickelt, das Qualvolle und Schmerzhafte in einem lockeren, leicht zu lesenden Tonfall darzubieten. Gerade diese flüssige, allzu glatte Form aber hat letztlich verhindert, daß aus einem ergiebigen Stoff ein packender Roman geworden ist.

Joyce Carol Oates: "Wofür ich gelebt habe". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Renate Orth-Guttmann. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997. 750 S., geb., 56,-DM.

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