Weil das Projekt der Einigung Europas fraglos historischen Rang hat, war man jedenfalls in Deutschland über Jahrzehnte der Auffassung, es dürfe darüber nicht gestritten werden. Das Beinahe-Scheitern der Währungsunion hat gezeigt, dass das dem Projekt nicht gut bekommen ist. Wir wissen nun, dass das schlichte "Immer enger" der europäischen Vertragsrhetorik kein verlässlicher Wegweiser ist. Die Frage, wie es weitergehen solle mit dem europäischen Projekt, muss von nun an ohne Konsenszwänge diskutiert werden. Die unter dem Titel "Wohin des Wegs, Europa?" versammelten Beiträge sind als Impulse zu einer Debatte gedacht, die das Thema Europa offener, unbefangener, nachdenklicher angeht, als das in der Vergangenheit üblich war. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob und wie das fortschreitende Integrationsprojekt und die Bewahrung substanzieller Demokratie miteinander vereinbar gemacht werden können.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In Europafragen tun Sachkenntnis und Realitätssinn Not, meint Dominik Geppert und findet beides beim Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg. Dessen gesammelte Einlassungen zu grundsätzlichen europapolitischen Themen, zur demokratischen Verfassung und zur Integration namentlich, lassen Geppert den Autor als skeptischen Pro-Europäer erkennen. Wenn der Autor die Integrationsdynamik kritisiert und faule Kompromisse aufdeckt, horcht Geppert auf. Auch wenn er keine Lösungen aus der Krise serviert bekommt, Kielmanseggs Leitgedanken, wie die Idee, dass es so schnell keinen EU-Staat geben wird, scheinen ihm bedenkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2016Auf mehr Vertrauen Europa bauen
Peter Graf Kielmansegg hält eine Staatswerdung der EU für nicht wünschenswert
Die Halbwertszeit europäischer Friedensordnungen ist gering geworden. Wie Konrad Adenauers und Charles de Gaulles karolingisches Europa in den 1980er und 1990er Jahren von Grund auf umgeformt wurde, so wird in den gegenwärtigen Krisen von Griechenland über die Ukraine bis Syrien das Europa Helmut Kohls und François Mitterrands transformiert. Es macht einer neuen Ordnung Platz, deren Konturen noch unklar sind. Die wünschenswerte Richtung des Wandels wird hierzulande hauptsächlich unter den verzerrenden Schlagworten "weniger" oder "mehr Europa" verhandelt. Bedrohlich ist, dass dabei gerade in Deutschland die Kluft nicht zwischen den Vertretern unterschiedlicher Parteien verläuft, sondern zwischen einem politischen Establishment, das eine bestimmte Form der europäischen Integration idealistisch überhöht, und immer größeren Teilen der Bevölkerung, die alles, was aus "Brüssel" kommt, verteufeln.
Umso wichtiger sind Diskussionsbeiträge, die quer zu den etablierten Frontstellungen Sachlichkeit und Realitätssinn in die Debatte bringen. Dieser Aufgabe hat sich kaum jemand mit solchem Scharfblick und intellektuellem Gewicht gewidmet wie der emeritierte Mannheimer Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg, dessen europapolitische Wortmeldungen der vergangenen Jahre jetzt gesammelt erschienen sind. Der Autor behandelt zentrale Fragen der europäischen Einigung, für die im tagespolitischen Krisenbewältigungsgetriebe kaum Zeit ist: Lässt sich die EU demokratisch verfassen? Können Demokratie und Integration verlustfrei in Einklang miteinander gebracht werden? Welche Auswirkungen hat die Euro-Krise? Welche Rolle sollten die Gerichte, allen voran das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof, spielen? Und schließlich: Braucht Europa Grenzen? Damit war, vor der Zuspitzung der Flüchtlingskrise, noch nicht so sehr die Sicherung der Außengrenzen gemeint, sondern die Frage, ob und wo der Ausdehnungsprozess der EU geographisch einmal enden sollte.
Die Antworten weisen Kielmansegg als einen skeptischen Pro-Europäer aus. Er ist ein europapolitischer Realist mit großen Sympathien für den Kerngehalt der europäischen Idee, die für ihn vor allem durch die Errungenschaften von Frieden und Wohlstand bestimmt ist. Beides sei nach 1945 zwar nicht allein auf die europäische Einigung zurückzuführen, aber doch wesentlich in deren Rahmen erreicht worden. Die europäische Staatenwelt habe im Integrationsprojekt eine neue Art des Zusammenlebens entwickelt wie sonst nirgendwo auf der Welt und nie zuvor in der Geschichte: "dauerhaft im Rahmen einer überstaatlichen Rechtsordnung institutionalisierte Kooperation" mit einer supranationalen Rechtssetzungsautorität als Zentrum. Den Aktivposten von politischem Einvernehmen und wirtschaftlicher Prosperität stellt Kielmansegg eine Reihe von Passiva gegenüber. Die Integrationsdynamik bewegt sich seiner Meinung nach in die falsche Richtung, weil sie die Regulierung im Innern stetig vorantreibt, statt auf größere Einigkeit der Europäer nach außen zu setzen. Diese Zentralisierungsdynamik führe in einem Verbund von Nationalstaaten mit zäh verteidigter Eigenständigkeit zwangsläufig zu Legitimationsdefiziten. Das als Korrektiv angelegte Prinzip der Subsidiarität stehe nur auf dem Papier, weil die politischen Eliten sich seiner konsequenten Anwendung verweigerten, wobei sie "einerseits einer Art von politisch-säkularer Heilsgewissheit, andererseits der Akquisitionslogik der europäischen Institutionen" folgten.
Hinzu kommt für Kielmansegg die "elementare Unaufrichtigkeit" darüber, dass Erweiterung und Vertiefung der EU nicht gleichzeitig zu haben sind. Was geschieht, wenn man den durch die ökonomischen und soziokulturellen Umstände gebotenen Zwang zur Wahl zwischen geographischer Expansion und institutioneller Intensivierung der Integration durch faule Kompromisse übertüncht, hat spätestens die Krise der Währungsunion seit 2010 offengelegt. Die aus der Not geborenen und in großer Eile ins Werk gesetzten Rettungsmaßnahmen zeitigten Folgewirkungen, die aus Kielmanseggs Sicht die europäische Einigung im Kern beschädigen, weil sie das Vertrauen der Bürger erschüttern und die Geltung des Rechts relativieren. Kielmansegg weist keinen Königsweg aus der existentiellen politischen, ideellen und ökonomischen Krise, in der sich die europäische Einigung befindet. Er formuliert jedoch einige Leitgedanken, ohne die eine europäische Ordnung der Zukunft keinen dauerhaften Erfolg haben wird. Dazu gehört der Abschied von der Illusion, dass aus der EU auf absehbare Zeit ein Staat werden könne, ja dass diese Staatswerdung wünschenswert sei. Zugleich müsse die EU lernen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden; das heißt, sie solle ihre Kräfte in der Mitgestaltung der Weltpolitik bündeln und die kleinteilige Regelung der inneren Verhältnisse den Nationalstaaten, Regionen oder Kommunen überlassen.
Schließlich will Kielmansegg die Fähigkeit zur Selbstkorrektur in den Einigungsprozess eingefügt sehen. Er plädiert für eine "lernende Europapolitik" und denkt an Instrumentarien wie die zeitliche Befristung oder inhaltliche Konditionierung europäischer Richtlinien, außerdem an regelmäßige Prüfverfahren, um der Logik der Unumkehrbarkeit entgegenzuwirken, die dem Integrationsprozess zu seinem eigenen Schaden innewohnt. Nur auf diese Weise könne jene Zustimmung der Bürger gesichert oder zurückgewonnen werden, ohne die alle Anstrengungen der Politiker umsonst seien: "Der Glaube der politischen Eliten an das Projekt kann das Vertrauen der Bürger nicht ersetzen."
DOMINIK GEPPERT
Peter Graf Kielmansegg: Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015. 162 S., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Graf Kielmansegg hält eine Staatswerdung der EU für nicht wünschenswert
Die Halbwertszeit europäischer Friedensordnungen ist gering geworden. Wie Konrad Adenauers und Charles de Gaulles karolingisches Europa in den 1980er und 1990er Jahren von Grund auf umgeformt wurde, so wird in den gegenwärtigen Krisen von Griechenland über die Ukraine bis Syrien das Europa Helmut Kohls und François Mitterrands transformiert. Es macht einer neuen Ordnung Platz, deren Konturen noch unklar sind. Die wünschenswerte Richtung des Wandels wird hierzulande hauptsächlich unter den verzerrenden Schlagworten "weniger" oder "mehr Europa" verhandelt. Bedrohlich ist, dass dabei gerade in Deutschland die Kluft nicht zwischen den Vertretern unterschiedlicher Parteien verläuft, sondern zwischen einem politischen Establishment, das eine bestimmte Form der europäischen Integration idealistisch überhöht, und immer größeren Teilen der Bevölkerung, die alles, was aus "Brüssel" kommt, verteufeln.
Umso wichtiger sind Diskussionsbeiträge, die quer zu den etablierten Frontstellungen Sachlichkeit und Realitätssinn in die Debatte bringen. Dieser Aufgabe hat sich kaum jemand mit solchem Scharfblick und intellektuellem Gewicht gewidmet wie der emeritierte Mannheimer Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg, dessen europapolitische Wortmeldungen der vergangenen Jahre jetzt gesammelt erschienen sind. Der Autor behandelt zentrale Fragen der europäischen Einigung, für die im tagespolitischen Krisenbewältigungsgetriebe kaum Zeit ist: Lässt sich die EU demokratisch verfassen? Können Demokratie und Integration verlustfrei in Einklang miteinander gebracht werden? Welche Auswirkungen hat die Euro-Krise? Welche Rolle sollten die Gerichte, allen voran das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof, spielen? Und schließlich: Braucht Europa Grenzen? Damit war, vor der Zuspitzung der Flüchtlingskrise, noch nicht so sehr die Sicherung der Außengrenzen gemeint, sondern die Frage, ob und wo der Ausdehnungsprozess der EU geographisch einmal enden sollte.
Die Antworten weisen Kielmansegg als einen skeptischen Pro-Europäer aus. Er ist ein europapolitischer Realist mit großen Sympathien für den Kerngehalt der europäischen Idee, die für ihn vor allem durch die Errungenschaften von Frieden und Wohlstand bestimmt ist. Beides sei nach 1945 zwar nicht allein auf die europäische Einigung zurückzuführen, aber doch wesentlich in deren Rahmen erreicht worden. Die europäische Staatenwelt habe im Integrationsprojekt eine neue Art des Zusammenlebens entwickelt wie sonst nirgendwo auf der Welt und nie zuvor in der Geschichte: "dauerhaft im Rahmen einer überstaatlichen Rechtsordnung institutionalisierte Kooperation" mit einer supranationalen Rechtssetzungsautorität als Zentrum. Den Aktivposten von politischem Einvernehmen und wirtschaftlicher Prosperität stellt Kielmansegg eine Reihe von Passiva gegenüber. Die Integrationsdynamik bewegt sich seiner Meinung nach in die falsche Richtung, weil sie die Regulierung im Innern stetig vorantreibt, statt auf größere Einigkeit der Europäer nach außen zu setzen. Diese Zentralisierungsdynamik führe in einem Verbund von Nationalstaaten mit zäh verteidigter Eigenständigkeit zwangsläufig zu Legitimationsdefiziten. Das als Korrektiv angelegte Prinzip der Subsidiarität stehe nur auf dem Papier, weil die politischen Eliten sich seiner konsequenten Anwendung verweigerten, wobei sie "einerseits einer Art von politisch-säkularer Heilsgewissheit, andererseits der Akquisitionslogik der europäischen Institutionen" folgten.
Hinzu kommt für Kielmansegg die "elementare Unaufrichtigkeit" darüber, dass Erweiterung und Vertiefung der EU nicht gleichzeitig zu haben sind. Was geschieht, wenn man den durch die ökonomischen und soziokulturellen Umstände gebotenen Zwang zur Wahl zwischen geographischer Expansion und institutioneller Intensivierung der Integration durch faule Kompromisse übertüncht, hat spätestens die Krise der Währungsunion seit 2010 offengelegt. Die aus der Not geborenen und in großer Eile ins Werk gesetzten Rettungsmaßnahmen zeitigten Folgewirkungen, die aus Kielmanseggs Sicht die europäische Einigung im Kern beschädigen, weil sie das Vertrauen der Bürger erschüttern und die Geltung des Rechts relativieren. Kielmansegg weist keinen Königsweg aus der existentiellen politischen, ideellen und ökonomischen Krise, in der sich die europäische Einigung befindet. Er formuliert jedoch einige Leitgedanken, ohne die eine europäische Ordnung der Zukunft keinen dauerhaften Erfolg haben wird. Dazu gehört der Abschied von der Illusion, dass aus der EU auf absehbare Zeit ein Staat werden könne, ja dass diese Staatswerdung wünschenswert sei. Zugleich müsse die EU lernen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden; das heißt, sie solle ihre Kräfte in der Mitgestaltung der Weltpolitik bündeln und die kleinteilige Regelung der inneren Verhältnisse den Nationalstaaten, Regionen oder Kommunen überlassen.
Schließlich will Kielmansegg die Fähigkeit zur Selbstkorrektur in den Einigungsprozess eingefügt sehen. Er plädiert für eine "lernende Europapolitik" und denkt an Instrumentarien wie die zeitliche Befristung oder inhaltliche Konditionierung europäischer Richtlinien, außerdem an regelmäßige Prüfverfahren, um der Logik der Unumkehrbarkeit entgegenzuwirken, die dem Integrationsprozess zu seinem eigenen Schaden innewohnt. Nur auf diese Weise könne jene Zustimmung der Bürger gesichert oder zurückgewonnen werden, ohne die alle Anstrengungen der Politiker umsonst seien: "Der Glaube der politischen Eliten an das Projekt kann das Vertrauen der Bürger nicht ersetzen."
DOMINIK GEPPERT
Peter Graf Kielmansegg: Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015. 162 S., 29,- [Euro].
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