Saul Friedländer ist noch ein halbes Kind, als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht. Sanft und in einer wunderschönen Sprache erzählt der große Historiker des Holocaust von seinem Leben danach, das reich ist an Erfahrungen und Begegnungen, aber das Leben eines Entwurzelten bleibt. "Wohin die Erinnerung führt" ist das großartige Zeugnis einer Epoche und gewährt zugleich ungewöhnlich offen Einblick in die fragilen Gefühlswelten eines Überlebenden. Den blutjungen Saul Friedländer drängt es nach Israel, wo er als glühender Zionist für die Gründung eines jüdischen Staates kämpfen will. Der Fünfzehnjährige fälscht das Geburtsdatum in seinem Pass und schifft sich auf der "Altalena" ein. In kurzer Zeit lernt er hebräisch und die jüdische Kultur kennen, doch schon bald zieht es ihn wieder zurück nach Paris. Er studiert und erkennt immer deutlicher, wohin die Suche nach der eigenen Identität ihn führen wird - in die Erinnerung an jenes Ereignis, dem sechs Millionen Juden, darunter auch seine Eltern, zum Opfer gefallen sind. Elegant und mit scheinbar leichter Feder erweckt Saul Friedländer in seinen Memoiren Menschen und Milieus zum Leben, schildert die politischen und intellektuellen Kontroversen seiner Zeit und lässt den Schmerz fühlbar werden, in den dieses ganze Leben unentrinnbar eingetaucht ist.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Christoph Jahr liest Saul Friedländers zweites Erinnerungsbuch mit großem Gewinn. Die wesentlich chronologisch angelegte autobiografische Schrift besticht in Jahrs Augen gerade durch ihr Bekenntnis zur Vermengung von historischen Fakten und individuellen Erlebnissen und Verwundungen. Immer wieder kann Friedländer dem Rezensenten zeigen, wie unterschiedlich der Blick auf den Holocaust sich je nach Perspektive gestalten kann. Anregendes und Anrührendes halten die intimen Memoiren für Jahr bereit. Die Verbindung aus Politik und Alltagserlebnissen, Familiengeschichte und dem Innenleben des großen Historikers eröffnen Jahr den Blick auf das komplexe Verhältnis von Erinnerung und Geschichtsschreibung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2017Produktive Subjektivität
Wie sich der Historiker Saul Friedländer in seinen Erinnerungen auch selbst verbirgt
Berlin und Broszat, so resümiert Saul Friedländer jetzt in seinen Memoiren, seien letztlich der Auslöser gewesen, sein gefeiertes Monumentalwerk "Das Dritte Reich und die Juden" zu schreiben. Für Friedländer führten damit ein eher unangenehmes Gespräch mit dem Historiker Ernst Nolte in Berlin und eine sehr produktive Debatte mit dem Leiter des Institut für Zeitgeschichte in München, Martin Broszat, dazu, sich auch mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Friedländer wurde 1932 in Prag in einem, wie er selbst schreibt, deutsch-jüdischen Milieu geboren. 1939 floh die Familie nach Paris, wo Friedländer - ab 1942 in einem katholischen Internat versteckt - den Krieg überlebte. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Friedländer, der sich nach dem Krieg vom überzeugten Katholiken zu einem Kommunisten, dann kurzzeitig zu einem Zionisten wandelte, wanderte 1948 nach Israel aus. In der Folgezeit lebte und lehrte er als Historiker an Universitäten in Israel, der Schweiz und den Vereinigten Staaten.
Bereits 1978 erschien der erste Teil seiner Memoiren, der sich seiner Kindheit in Prag und seinen Jahren in Frankreich, Israel und der Schweiz widmete. Der nun publizierte Band fokussiert sich insbesondere auf die Jahre 1977 bis 2015, auf jene Zeit also, die Friedländer den internationalen Durchbruch als Forscher bringen sollte, was sich 2008 an der Verleihung des Pulitzer-Preises für sein Werk "Das Dritte Reich und die Juden" zeigte.
Mit Spannung wartete deshalb die Historikerschaft auf Friedländers Darstellung seiner Auseinandersetzung mit Martin Broszat, die zum Auslöser seines produktiven Schaffens an diesem Werk wurde. Ende der 1980er Jahre debattierten beide über die Frage, ob es eine Historisierung des Nationalsozialismus geben könne. Friedländer kritisierte dabei vor allem, dass eine derartige Historisierung, die er mit Sorge sah, ohne den Holocaust stattfinde. Langfristig führten diese und andere Diskussionen zu einem Paradigmenwechsel in der NS-Forschung. Inzwischen ist die zentrale Bedeutung der Judenverfolgung für die nationalsozialistische Diktatur allgemein anerkannt.
In den Memoiren erscheint diese Debatte doch reichlich verkürzt. Auch beinahe dreißig Jahre später wirkt es kaum so, als habe Friedländer mit dem 1989 verstorbenen Broszat Frieden geschlossen. Vielmehr wird Broszat sogar ungerechtfertigterweise in die Nähe eines Geschichtsrevisionismus gerückt, nur weil er die berechtigte Frage aufwarf, inwieweit der Nationalsozialismus mit den üblichen wissenschaftlichen Maßstäben wie andere Teile der Geschichte betrachtet werden sollte. Hierauf warf Friedländer ebenso berechtigt ein, dass in diesem Falle die Erinnerung an den Holocaust verblassen könnte.
Bis heute kollidieren Geschichtsbetrachtung und Erinnerungskultur natürlicherweise in besonderem Maße, wenn der Holocaust im Fokus steht. Friedländer fühlte sich wohl von der Überlegung Broszats persönlich angegriffen, wonach die "Subjektivität der Opfer" ein "vergröberndes Hindernis" bei der Darstellung von Geschichte sei. Mit seinem Werk "Das Dritte Reich und die Juden" wollte er deshalb den Beweis antreten, dass, wie er in seinen Memoiren vermerkt, "auch die Opfer (. . .) in der Lage waren, diese Geschichte zu schreiben". Letztlich sind also möglicherweise die Nachkommen von Opfern und Tätern durch ihre produktive Subjektivität trotz der damit verbundenen Begrenztheit des eigenen Strebens besonders in der Lage, große Werke zum Nationalsozialismus zu schreiben - Friedländer ebenso wie Broszat.
Die Memoiren Friedländers sind lebhaftes Zeugnis seines Gelehrtenlebens, seines jahrelangen Diskutierens, Denkens und Schreibens. Darüber hinaus erhalten sie ihre besondere Würze dadurch, dass er nicht nur im gelehrten Feld der Geschichtswissenschaft tätig war. Welcher Leser würde sich schon bei der Lektüre der Memoiren eines deutschen C4-Professors vergnügen? Vielmehr hat Friedländer auch etwa für den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, oder etwa für den späteren israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres gearbeitet. Bei Letzterem war Friedländer sogar, sehr indirekt zwar, am israelischen Atomprogramm beteiligt. Doch insgesamt verschwindet Friedländer oftmals hinter all den Personen, denen er im Laufe seines Lebens begegnete. Allzu viele bekannte Namen fallen, ohne dass man Hintergründe oder Einordnungen zu diesen oder jenen Personen erfährt. Ja, diese Begegnungen stören vielfach sogar, denn sie verbergen letztlich diejenige Person, zu deren besseren Kenntnis man die Memoiren eigentlich erworben hatte: Saul Friedländer. Wettgemacht wird dies durch seine sehr offene und kritische Einschätzung des israelisch-arabischen Konflikts und der israelischen Innenpolitik.
Am ergreifendsten ist der echte, ungeschminkte Friedländer mit seinen Ängsten, seiner teilweisen Abhängigkeit von Tabletten, der Einsamkeit, die ihn prägte, und dem Gefühl, permanent im Exil zu leben. Mehrfach erwähnt er seine Schüchternheit, und gerade diese scheint ihn davon abzuhalten, genauer über seine Prägungen und Gedankengänge zu schreiben. Zu gerne hätte man etwa erfahren, auch wenn es immer wieder zwischen den Zeilen hervorscheint, was es eigentlich für ihn bedeutete, den Holocaust überlebt und sich - nach jahrelangem Umschiffen seiner eigenen Familiengeschichte, wie er schreibt - für eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema entschlossen zu haben. Welche Rolle spielte der genealogische Zusammenhang mit den Opfern der Vernichtung, der ihn ebenso mit dem Holocaust verband wie Broszat der Zusammenhang mit den Tätern? Frei nach Marc Bloch wäre zu wünschen, dass der Historiker Friedländer erläutere, wer der Mensch Friedländer wirklich gewesen sei.
MICHAEL MAYER
Saul Friedländer: Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben. C.H. Beck Verlag, München 2016. 329 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie sich der Historiker Saul Friedländer in seinen Erinnerungen auch selbst verbirgt
Berlin und Broszat, so resümiert Saul Friedländer jetzt in seinen Memoiren, seien letztlich der Auslöser gewesen, sein gefeiertes Monumentalwerk "Das Dritte Reich und die Juden" zu schreiben. Für Friedländer führten damit ein eher unangenehmes Gespräch mit dem Historiker Ernst Nolte in Berlin und eine sehr produktive Debatte mit dem Leiter des Institut für Zeitgeschichte in München, Martin Broszat, dazu, sich auch mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Friedländer wurde 1932 in Prag in einem, wie er selbst schreibt, deutsch-jüdischen Milieu geboren. 1939 floh die Familie nach Paris, wo Friedländer - ab 1942 in einem katholischen Internat versteckt - den Krieg überlebte. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Friedländer, der sich nach dem Krieg vom überzeugten Katholiken zu einem Kommunisten, dann kurzzeitig zu einem Zionisten wandelte, wanderte 1948 nach Israel aus. In der Folgezeit lebte und lehrte er als Historiker an Universitäten in Israel, der Schweiz und den Vereinigten Staaten.
Bereits 1978 erschien der erste Teil seiner Memoiren, der sich seiner Kindheit in Prag und seinen Jahren in Frankreich, Israel und der Schweiz widmete. Der nun publizierte Band fokussiert sich insbesondere auf die Jahre 1977 bis 2015, auf jene Zeit also, die Friedländer den internationalen Durchbruch als Forscher bringen sollte, was sich 2008 an der Verleihung des Pulitzer-Preises für sein Werk "Das Dritte Reich und die Juden" zeigte.
Mit Spannung wartete deshalb die Historikerschaft auf Friedländers Darstellung seiner Auseinandersetzung mit Martin Broszat, die zum Auslöser seines produktiven Schaffens an diesem Werk wurde. Ende der 1980er Jahre debattierten beide über die Frage, ob es eine Historisierung des Nationalsozialismus geben könne. Friedländer kritisierte dabei vor allem, dass eine derartige Historisierung, die er mit Sorge sah, ohne den Holocaust stattfinde. Langfristig führten diese und andere Diskussionen zu einem Paradigmenwechsel in der NS-Forschung. Inzwischen ist die zentrale Bedeutung der Judenverfolgung für die nationalsozialistische Diktatur allgemein anerkannt.
In den Memoiren erscheint diese Debatte doch reichlich verkürzt. Auch beinahe dreißig Jahre später wirkt es kaum so, als habe Friedländer mit dem 1989 verstorbenen Broszat Frieden geschlossen. Vielmehr wird Broszat sogar ungerechtfertigterweise in die Nähe eines Geschichtsrevisionismus gerückt, nur weil er die berechtigte Frage aufwarf, inwieweit der Nationalsozialismus mit den üblichen wissenschaftlichen Maßstäben wie andere Teile der Geschichte betrachtet werden sollte. Hierauf warf Friedländer ebenso berechtigt ein, dass in diesem Falle die Erinnerung an den Holocaust verblassen könnte.
Bis heute kollidieren Geschichtsbetrachtung und Erinnerungskultur natürlicherweise in besonderem Maße, wenn der Holocaust im Fokus steht. Friedländer fühlte sich wohl von der Überlegung Broszats persönlich angegriffen, wonach die "Subjektivität der Opfer" ein "vergröberndes Hindernis" bei der Darstellung von Geschichte sei. Mit seinem Werk "Das Dritte Reich und die Juden" wollte er deshalb den Beweis antreten, dass, wie er in seinen Memoiren vermerkt, "auch die Opfer (. . .) in der Lage waren, diese Geschichte zu schreiben". Letztlich sind also möglicherweise die Nachkommen von Opfern und Tätern durch ihre produktive Subjektivität trotz der damit verbundenen Begrenztheit des eigenen Strebens besonders in der Lage, große Werke zum Nationalsozialismus zu schreiben - Friedländer ebenso wie Broszat.
Die Memoiren Friedländers sind lebhaftes Zeugnis seines Gelehrtenlebens, seines jahrelangen Diskutierens, Denkens und Schreibens. Darüber hinaus erhalten sie ihre besondere Würze dadurch, dass er nicht nur im gelehrten Feld der Geschichtswissenschaft tätig war. Welcher Leser würde sich schon bei der Lektüre der Memoiren eines deutschen C4-Professors vergnügen? Vielmehr hat Friedländer auch etwa für den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, oder etwa für den späteren israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres gearbeitet. Bei Letzterem war Friedländer sogar, sehr indirekt zwar, am israelischen Atomprogramm beteiligt. Doch insgesamt verschwindet Friedländer oftmals hinter all den Personen, denen er im Laufe seines Lebens begegnete. Allzu viele bekannte Namen fallen, ohne dass man Hintergründe oder Einordnungen zu diesen oder jenen Personen erfährt. Ja, diese Begegnungen stören vielfach sogar, denn sie verbergen letztlich diejenige Person, zu deren besseren Kenntnis man die Memoiren eigentlich erworben hatte: Saul Friedländer. Wettgemacht wird dies durch seine sehr offene und kritische Einschätzung des israelisch-arabischen Konflikts und der israelischen Innenpolitik.
Am ergreifendsten ist der echte, ungeschminkte Friedländer mit seinen Ängsten, seiner teilweisen Abhängigkeit von Tabletten, der Einsamkeit, die ihn prägte, und dem Gefühl, permanent im Exil zu leben. Mehrfach erwähnt er seine Schüchternheit, und gerade diese scheint ihn davon abzuhalten, genauer über seine Prägungen und Gedankengänge zu schreiben. Zu gerne hätte man etwa erfahren, auch wenn es immer wieder zwischen den Zeilen hervorscheint, was es eigentlich für ihn bedeutete, den Holocaust überlebt und sich - nach jahrelangem Umschiffen seiner eigenen Familiengeschichte, wie er schreibt - für eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema entschlossen zu haben. Welche Rolle spielte der genealogische Zusammenhang mit den Opfern der Vernichtung, der ihn ebenso mit dem Holocaust verband wie Broszat der Zusammenhang mit den Tätern? Frei nach Marc Bloch wäre zu wünschen, dass der Historiker Friedländer erläutere, wer der Mensch Friedländer wirklich gewesen sei.
MICHAEL MAYER
Saul Friedländer: Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben. C.H. Beck Verlag, München 2016. 329 S., 24,95 [Euro].
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"Eine hochspannende Autobiographie, ein zeitgeschichtliches Dokument, ein wichtiges Buch"
Jochen Kürten und Sabine Peschel, Deutsche Welle
"[eine] außergewöhnliche, in einer ebenso einfachen wie eleganten Sprache verfasste Autobiografie" Ulrich Teusch, SWR2
"ein tief menschliches Zeugnis, frei von Eitelkeit, und wie immer bei [Friedländer] anschaulich und elegant geschrieben"
Claudia Kühner, NZZ am Sonntag
Jochen Kürten und Sabine Peschel, Deutsche Welle
"[eine] außergewöhnliche, in einer ebenso einfachen wie eleganten Sprache verfasste Autobiografie" Ulrich Teusch, SWR2
"ein tief menschliches Zeugnis, frei von Eitelkeit, und wie immer bei [Friedländer] anschaulich und elegant geschrieben"
Claudia Kühner, NZZ am Sonntag