In den Statistiken ein schwarzes Loch, besessen von Abstiegsängsten und Wohnstrategien, mit einem ausschließlich materialistischen Verständnis von Kultur, einer entpolitisierten Sicht auf Politik, einer absurden Zahlenversessenheit, einem erotischen Verhältnis zum Ressentiment, nicht aber zur Selbstkritik ist die Mittelklasse eine unzuverlässige Größe. Wie kommt es dann, dass sich diese wunderliche, zur Revolte unfähige Bevölkerungsschicht selbst als Norm betrachtet und andere als anormal abstempelt? Sind die Mittelklassen die wahren Feinde der Demokratie?Nathalie Quintanes Text tut weh, wo es nötig ist. Und gerade wenn sie behauptet, dieser Text wolle nicht zum Lachen bringen, tut er es. Denn was die Mittelklasse kennzeichnet, "ist eine strikte Trennung zwischen dem, was wir leben, und dem, was wir behaupten". So ist "Wohin mit den Mittelklassen?" weder Chronik noch Pamphlet, sondern eine scharfe Bestandsaufnahme der heutigen Klassengesellschaft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2018Jetzt tut nicht so fein!
Wachsende gesellschaftliche Unterschiede: Nathalie Quintane kühlt ihr Mütchen an der Mittelklasse
Dass die Mittelklasse es ist, die den Staat stabilisiert, ist eine alte Vorstellung. Sie findet sich schon bei Aristoteles. Die übermäßig Reichen (und auch die Schönen) würden "leicht übermütig und schlecht im Großen", die Armen und Gedemütigten dagegen "bösartig und schlecht im Kleinen". Die Reichen neigten zum Despotismus, die Armen zur Knechtschaft, freie Gesinnung finde man am ehesten bei den Mittleren.
Daneben und dagegen gibt es aber auch die Verachtung der Mittleren, die aus den Künsten kommt. Die Durchsetzung der Genieästhetik im achtzehnten Jahrhundert dürfte der Auslöser gewesen sein, den Bürger, Inbegriff des Mittleren, als Philister zu sehen. In Wagners "Meistersingern" - ein verarmter Adliger macht hier Bekanntschaft mit der Mittelklasse - beklagt sich Veit Pogner, Mittelständler, wenn es je einen gab, es habe ihn oft "verdrossen, / dass man den Bürger wenig preist, / ihn karg nennt und verschlossen". Anschließend geht es dann allerdings rund.
Karg, verschlossen, verdrossen, damit ist schon einiges gesagt über die Stoßrichtung von Nathalie Quintanes Essay "Wohin mit den Mittelklassen?". Es ist keine soziologische Erwägung, es ist ein Ausbruch, wenn auch ein stilistisch gut kalkulierter; die Autorin spricht selbst von der "übermäßigen Wut" auf ihren Gegenstand. Ihr Standpunkt ist links, die wachsenden gesellschaftlichen Unterschiede empören sie, aber marxistisch denkt sie nicht. Wohl legt sie Wert darauf, von "Klassen" zu reden, aber sie macht nichts daraus.
Wer die Mittelklassen bildet, darüber sagt sie nichts, was man ernst nehmen könnte. Schon auf den ersten zwei Seiten offenbart sie, dass sie den Unterschied zwischen Durchschnittswert und Median nicht kennt, ja nicht mal imstande ist, eine Gleichung mit einer Unbekannten aufzulösen. Vielleicht ist sie wirklich schwach in dieser Hinsicht, vielleicht hält sie solche Fähigkeiten auch für schlechte Angewohnheiten der Mittelklasse, oder sie will durch offensive Wurstigkeit den Leser einweisen in den Gebrauch ihres Buches. Selbstverspottung ist ihr jedenfalls nicht fremd.
Die Mittelklassen versteht Quintane eher kulturell als ökonomisch: Sie zeichnen sich aus durch Feintuerei bei der Wahl der Weine und Tees (Tee ist vornehmer als Kaffee), sie legen Wert auf Schulbildung und den Konsum von Kulturgütern (mit der guten Beobachtung, dass es was zu kaufen geben muss, daher die Bedeutung der Museumsshops), sind diszipliniert, aber freudlos. Und schlimmer noch: Sie versagen moralisch.
Wir haben, so beobachtet die Autorin, das Wort "gutmütig" verloren: "Gutmütig ist genau das, was die Mittelklasse nicht ist." Aber sind es Proletariat oder Subproletariat? Die Arbeiterklasse nennt sie die Klasse, "die nichts anderes wollte als ein bescheidenes Leben, das nicht auf das Unglück und die Demütigung anderer gebaut ist". Aber wie es mit moralischen Betrachtungen gelegentlich ist: Es fehlt an Realitätsbezug. Das Eigengewicht des Ökonomischen wird gering veranschlagt und so das Elend der Arbeiter auf den schändlichen Verrat - sie hatten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die Wahl! - durch die Mittelklassen (Ingenieure und andere, ehedem mit den Arbeitern verbündet) geschoben.
Auch in Afrika gibt es nun Mittelklassen! Da gibt es viel zu klagen und zu lachen, selbstverständlich. Der Zusammenstoß von Kulturen kann ja gar nicht ohne Komik und echte Dysfunktionalitäten abgehen. Aber selbst die Schulbildung ist für Quintane etwas Schlechtes. Wie viel besser wäre es, "den Knirpsen beizubringen, mit Pfeil und Bogen zu jagen und sich durchzuschlagen". Aber was sollte wohl diese Länder vor der Bevölkerungsexplosion retten, wenn nicht Schulbildung, vor allem die der Mädchen?
Nun, das alles muss man für dieses Mal wohl nicht zu ernst nehmen. Die Autorin hat den Schieber aufgezogen und lässt ihre zum Teil wirklich lustige Rhetorik durch den Essaykanal gurgeln. Und wer mag, kann sein Papierschiffchen mitfahren lassen.
STEPHAN SPEICHER
Nathalie Quintane: "Wohin mit den Mittelklassen?"
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit Fotografien von Benoît Galibert. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
116 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wachsende gesellschaftliche Unterschiede: Nathalie Quintane kühlt ihr Mütchen an der Mittelklasse
Dass die Mittelklasse es ist, die den Staat stabilisiert, ist eine alte Vorstellung. Sie findet sich schon bei Aristoteles. Die übermäßig Reichen (und auch die Schönen) würden "leicht übermütig und schlecht im Großen", die Armen und Gedemütigten dagegen "bösartig und schlecht im Kleinen". Die Reichen neigten zum Despotismus, die Armen zur Knechtschaft, freie Gesinnung finde man am ehesten bei den Mittleren.
Daneben und dagegen gibt es aber auch die Verachtung der Mittleren, die aus den Künsten kommt. Die Durchsetzung der Genieästhetik im achtzehnten Jahrhundert dürfte der Auslöser gewesen sein, den Bürger, Inbegriff des Mittleren, als Philister zu sehen. In Wagners "Meistersingern" - ein verarmter Adliger macht hier Bekanntschaft mit der Mittelklasse - beklagt sich Veit Pogner, Mittelständler, wenn es je einen gab, es habe ihn oft "verdrossen, / dass man den Bürger wenig preist, / ihn karg nennt und verschlossen". Anschließend geht es dann allerdings rund.
Karg, verschlossen, verdrossen, damit ist schon einiges gesagt über die Stoßrichtung von Nathalie Quintanes Essay "Wohin mit den Mittelklassen?". Es ist keine soziologische Erwägung, es ist ein Ausbruch, wenn auch ein stilistisch gut kalkulierter; die Autorin spricht selbst von der "übermäßigen Wut" auf ihren Gegenstand. Ihr Standpunkt ist links, die wachsenden gesellschaftlichen Unterschiede empören sie, aber marxistisch denkt sie nicht. Wohl legt sie Wert darauf, von "Klassen" zu reden, aber sie macht nichts daraus.
Wer die Mittelklassen bildet, darüber sagt sie nichts, was man ernst nehmen könnte. Schon auf den ersten zwei Seiten offenbart sie, dass sie den Unterschied zwischen Durchschnittswert und Median nicht kennt, ja nicht mal imstande ist, eine Gleichung mit einer Unbekannten aufzulösen. Vielleicht ist sie wirklich schwach in dieser Hinsicht, vielleicht hält sie solche Fähigkeiten auch für schlechte Angewohnheiten der Mittelklasse, oder sie will durch offensive Wurstigkeit den Leser einweisen in den Gebrauch ihres Buches. Selbstverspottung ist ihr jedenfalls nicht fremd.
Die Mittelklassen versteht Quintane eher kulturell als ökonomisch: Sie zeichnen sich aus durch Feintuerei bei der Wahl der Weine und Tees (Tee ist vornehmer als Kaffee), sie legen Wert auf Schulbildung und den Konsum von Kulturgütern (mit der guten Beobachtung, dass es was zu kaufen geben muss, daher die Bedeutung der Museumsshops), sind diszipliniert, aber freudlos. Und schlimmer noch: Sie versagen moralisch.
Wir haben, so beobachtet die Autorin, das Wort "gutmütig" verloren: "Gutmütig ist genau das, was die Mittelklasse nicht ist." Aber sind es Proletariat oder Subproletariat? Die Arbeiterklasse nennt sie die Klasse, "die nichts anderes wollte als ein bescheidenes Leben, das nicht auf das Unglück und die Demütigung anderer gebaut ist". Aber wie es mit moralischen Betrachtungen gelegentlich ist: Es fehlt an Realitätsbezug. Das Eigengewicht des Ökonomischen wird gering veranschlagt und so das Elend der Arbeiter auf den schändlichen Verrat - sie hatten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre die Wahl! - durch die Mittelklassen (Ingenieure und andere, ehedem mit den Arbeitern verbündet) geschoben.
Auch in Afrika gibt es nun Mittelklassen! Da gibt es viel zu klagen und zu lachen, selbstverständlich. Der Zusammenstoß von Kulturen kann ja gar nicht ohne Komik und echte Dysfunktionalitäten abgehen. Aber selbst die Schulbildung ist für Quintane etwas Schlechtes. Wie viel besser wäre es, "den Knirpsen beizubringen, mit Pfeil und Bogen zu jagen und sich durchzuschlagen". Aber was sollte wohl diese Länder vor der Bevölkerungsexplosion retten, wenn nicht Schulbildung, vor allem die der Mädchen?
Nun, das alles muss man für dieses Mal wohl nicht zu ernst nehmen. Die Autorin hat den Schieber aufgezogen und lässt ihre zum Teil wirklich lustige Rhetorik durch den Essaykanal gurgeln. Und wer mag, kann sein Papierschiffchen mitfahren lassen.
STEPHAN SPEICHER
Nathalie Quintane: "Wohin mit den Mittelklassen?"
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit Fotografien von Benoît Galibert. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
116 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main