England, in den 1520er Jahren: Heinrich der Achte regiert, aber hat keinen Erben. Der König liegt wegen seiner Scheidung zudem im Clinch mit dem Papst. In dieser Atmosphäre des Misstrauens steigt Thomas Cromwell zum höchsten Berater des Königs auf. Als politisches Genie, Bestecher, Schmeichler, Tyrann und geschickter sowie todbringender Manipulator geht er mit seinem Reformprogramm seinen politischen Interessen und seinen Ambitionen nach ...
Ein großartiger historischer Roman, der die Überschneidungen von individueller Psychologie und der großen Politik im England der Tudors untersucht.
Ein großartiger historischer Roman, der die Überschneidungen von individueller Psychologie und der großen Politik im England der Tudors untersucht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2010Der Henker des Königs
Hilary Mantels Roman "Wölfe" blickt mit den Augen eines genialen Opportunisten auf die Welt der englischen Renaissance
Sein Porträt, gemalt von Hans Holbein, hängt in der Frick Collection in New York, neben dem seines großen Widersachers Thomas More. Und wer das Bild betrachtet, ist froh, dass er dem Schatzkanzler, Lordsiegelbewahrer und königlichen Großkammerherrn Thomas Cromwell nicht mehr persönlich gegenübertreten muss: diesem Bauerngesicht mit den stechenden Äuglein unter dem Samtbarett, diesem verkniffenen Mund samt Doppelkinn über dem schwarzen Pelzkragen, dieser fleischigen Hand, die das Papier aus der Kanzlei Heinrichs VIII. umklammert hält wie einen Dolch. Ganz anders dagegen More, auf der anderen Seite des Renaissancekamins: ein Feingeist, Historiker und Humanist, stilsicher, weltgewandt, Verfasser des philosophischen Klassikers "Utopia", Verteidiger der katholischen Kirche. Und Cromwells Opfer.
Die Nachwelt hat es wie der Hofmaler Hans Holbein gemacht: Sie hat dem einen Mann die Züge des Denkers und dem anderen die Grimasse des Schurken verpasst. In Shakespeares Königsdrama "Henry VIII" kommt Cromwell nur als Randfigur vor, aber in Robert Bolts populärem Nachkriegsstück "Ein Mann zu jeder Jahreszeit" (und in Fred Zinnemanns gleichnamiger Verfilmung von 1966) ist er der machiavellistische Böse schlechthin - und More die Verkörperung des Gewissens und der Humanität. Jüngere Darstellungen wie die epische BBC-Serie "Die Tudors" oder der Kostümfilm "Die Schwester der Königin" (mit Natalie Portman als Anne Boleyn und Scarlett Johansson als deren Schwester Mary) sind diesem Schema stur gefolgt.
Es ist also keine Überraschung, dass die Engländerin Hilary Mantel, deren bisheriges Werk - der autobiographische Roman "Ein Liebesexperiment", die Familiengeschichte "Regen über der Wüste" und andere - zum Teil auch auf Deutsch erschienen ist, sich darangemacht hat, Cromwell literarisch neu zu erfinden. Die Überraschung besteht darin, dass ihr das mit "Wölfe" gelungen ist. Denn die Schmutzspuren der Geschichte lassen sich vom Porträt des Schatzkanzlers ja nicht abwaschen: die Intrigen, die politischen Prozesse, die Auflösung der Klöster, die Hinrichtung Mores, der sich geweigert hatte, den von Cromwell durch das Parlament gepeitschten "Act of Succession" - der die Nachfolge der Kinder Anne Boleyns mit Heinrich VIII. regelte - zu beeiden.
All das kommt auch bei Hilary Mantel vor, aber es ist eingewoben in ein dichtes Gewebe einander bedingender Ereignisse, und konsequent gegen den Strich der historischen Überlieferung gebürstet. In den Geschichtsbüchern, die seine Feinde geschrieben haben, ersetzt Cromwell die milde Kanzlerschaft von Thomas More durch ein Regime der Folter und Gesinnungsschnüffelei. Bei Mantel dagegen hat er seine Methoden von More abgeschaut; er wendet sie nur geschickter an. Das Buch beginnt mit einer Kindheitsszene. Der junge Cromwell, fünfzehn Jahre alt, wird von seinem Vater, einem Schläger und Säufer, fast zu Tode geprügelt. "Blut aus der Wunde an seinem Kopf rinnt ihm über das Gesicht . . . Der Hof stinkt nach Bier und Blut. Unten am Flussufer schreit jemand. Nichts tut ihm weh, oder vielleicht tut ihm alles weh, denn es gibt keinen einzelnen Schmerz, den er genau benennen kann." Die Schläge treiben den Jungen dazu, das Elternhaus zu verlassen und sein Glück jenseits des Ärmelkanals zu suchen, wo der König von Frankreich Soldaten für seine Kriege gegen die Habsburger anwirbt. Dreißig Jahre und eine Handvoll Seiten später ist er zurück in London, um als Sekretär des Kardinals Wolsey, des Lordkanzlers Heinrichs VIII., das große Spiel um die Macht in England mitzuspielen.
Schon in diesem Anfang wird klar, worin die besondere Qualität von Mantels Roman liegt. Es ist eine Überblendung von objektiver und subjektiver Wahrnehmung, wie es sie im historischen Roman so noch nicht gegeben hat. Seit Walter Scott mit "Ivanhoe" das Genre vor zweihundert Jahren erfand, folgen seine Fiktionen, wenn man von Ausreißern wie Tolstois "Krieg und Frieden" absieht, dem immergleichen stereotypen Muster aus Beschreibung und Wechselrede, Schlachten- oder Boudoirgemälde und drehbuchmäßigem Dialog.
Bei Mantel kommt in diesen klassischen Aufbau eine neue erzählerische Dringlichkeit. Es ist, als blickten wir durch ein Kamera-Auge über Cromwells Schulter in den Raum, in dem er agiert, während eine zweite, weiter entfernte Kamera die größeren Konturen des Geschehens festhält. Doch die subjektive Kamera kann auch Gedanken lesen. Cromwells körperlicher Minderwertigkeitskomplex, seine Angst, zu grob, zu plump, zu verbrecherhaft zu wirken, bildet ein Leitmotiv des Romans. Ein anderer Grundakkord ist die Trauer des Erfolgreichen um die Verluste, die seinen Aufstieg begleiten: seine Frau und die beiden Töchter, die am Schweißfieber sterben, sein Förderer Wolsey, der vom Hofadel gestürzt wird, seine Geliebte in Antwerpen, die er nicht mehr wiedersieht. Man spürt, wie die Luft dünner wird um diesen Mann, wie seine Perspektiven sich verengen, bis ihm nur der Ausweg nach ganz oben bleibt, zum Ruhm und in den Tod. Ein Kunstgriff der Autorin besteht darin, dass sie ihre Hauptfigur, ohne ihr von der Seite zu weichen, immer wieder sacht aus dem Fokus der Erzählung rückt. Ganze Absätze lang spricht sie von Cromwell nur als "er", selbst dann, wenn er mit mehreren Personen im Gespräch ist. So muss der Leser der Suchbewegung von Mantels Prosa folgen, bis sein Blick mit dem Cromwells verschmilzt. Der Trick ist riskant, er setzt auf unsere Bereitschaft, uns auf das Spiel einzulassen. Aber er funktioniert.
Und doch bleibt der Mensch, von dem "Wölfe" auf 750 Seiten erzählt, ein perfektes Rätsel, perfekt auch in dem Sinn, dass er auf beunruhigende Weise allwissend und allesvermögend ist. "Er kann einen Vertrag aufsetzen", heißt es, "einen Falken abrichten, eine Karte zeichnen, eine Prügelei beenden, ein Haus einrichten oder Geschworene kaufen. Er liefert Ihnen ein Argument der alten Dichter und Philosophen, wenn Sie eins brauchen, von Platon zu Plautus und wieder zurück. Er macht Geld und gibt es aus. Er nimmt jegliche Wette an." Cromwells Gedächtnis ist legendär, es speichert jedes Schriftstück und jedes Gesicht, das ihm begegnet. Doch selbst das genügt ihm nicht. In Calais hört er von einem Italiener, der für den französischen König eine Gedächtnismaschine baut, ein "Theater des Wissens" mit unzähligen ineinander verschachtelten Schubladen. Er lässt den Erfinder suchen, schreibt Briefe, schickt Agenten los. Vergeblich.
So vergeblich wie Cromwells Bemühungen, seinem König zu verschaffen, was dieser sich am meisten wünscht: einen männlichen Erben. Damit Heinrich sich von seiner Ehefrau Katharina von Aragon scheiden lassen und seine Geliebte Anne Boleyn heiraten kann, provoziert Cromwell den Bruch mit dem Papst, enteignet den englischen Klerus und legt so den Grundstein zur Anglikanischen Kirche. Aber Anne gebiert zuerst ein Mädchen, danach erleidet sie eine Fehlgeburt. Niemand, selbst Cromwell nicht, kann ahnen, dass aus dem quengelnden, rothaarigen Baby der Dame Boleyn dereinst Elisabeth I. werden wird, die größte aller englischen Königinnen.
Der gewöhnliche historische Roman, wie ihn die Buchhandlungen zwischen "Krimi" und "Fantasy" anbieten, ist einerseits unsinnlich, andererseits ungenau: Er verhunzt sowohl die Geschichte als auch die Literatur. In "Wölfe" haben beide einen Festtag. Dieses Buch ist mit Farben, Gerüchen und Geräuschen so gesättigt, dass man es, etwa bei der Krönung Anne Boleyns, wie einen Augenzeugenbericht lesen kann. Zugleich folgt es penibel den historischen Ereignissen. Und ebenso, wie der gute Hausvater Cromwell jedes Aktenstück aufhebt, das in seine Hände gerät, lässt auch Hilary Mantel kein Detail ihrer Geschichte fallen.
Die rotseidenen Roben des erledigten Günstlings Wolsey füllen, in Streifen geschnitten, das Jackenfutter der adligen Karrieristen am Königshof, während die Engelsflügel von Cromwells totem Lieblingstöchterchen Grace auf den Speicher wandern, wo er sie in einer erschütternden Szene auspackt und ins Licht hält. Es ist eine Wolfsgesellschaft, in der die Liebe selten und das Gefressenwerden alltäglich sind. Die Wölfe selbst, heißt es einmal, seien mit den großen Wäldern aus England verschwunden. "Das Heulen, das du da hörst, das sind nur die Londoner."
Kann man dieses Heulen aushalten, 750 Seiten lang? Man kann. Man muss. Ihre Landsleute haben Hilary Mantel vergangenes Jahr den Booker-Preis verliehen, und wer das Buch liest, begreift, warum es von Anfang an als Favorit galt. Cromwell, der vielgehasste, hat das englische Königtum reformiert. Hilary Mantel, die viel Gepriesene, hat ein Teilreich der Literatur erneuert: den historischen Roman.
ANDREAS KILB
Hilary Mantel: "Wölfe". Roman. Aus dem Englischen von Christiane Trabant. DuMont, 768 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hilary Mantels Roman "Wölfe" blickt mit den Augen eines genialen Opportunisten auf die Welt der englischen Renaissance
Sein Porträt, gemalt von Hans Holbein, hängt in der Frick Collection in New York, neben dem seines großen Widersachers Thomas More. Und wer das Bild betrachtet, ist froh, dass er dem Schatzkanzler, Lordsiegelbewahrer und königlichen Großkammerherrn Thomas Cromwell nicht mehr persönlich gegenübertreten muss: diesem Bauerngesicht mit den stechenden Äuglein unter dem Samtbarett, diesem verkniffenen Mund samt Doppelkinn über dem schwarzen Pelzkragen, dieser fleischigen Hand, die das Papier aus der Kanzlei Heinrichs VIII. umklammert hält wie einen Dolch. Ganz anders dagegen More, auf der anderen Seite des Renaissancekamins: ein Feingeist, Historiker und Humanist, stilsicher, weltgewandt, Verfasser des philosophischen Klassikers "Utopia", Verteidiger der katholischen Kirche. Und Cromwells Opfer.
Die Nachwelt hat es wie der Hofmaler Hans Holbein gemacht: Sie hat dem einen Mann die Züge des Denkers und dem anderen die Grimasse des Schurken verpasst. In Shakespeares Königsdrama "Henry VIII" kommt Cromwell nur als Randfigur vor, aber in Robert Bolts populärem Nachkriegsstück "Ein Mann zu jeder Jahreszeit" (und in Fred Zinnemanns gleichnamiger Verfilmung von 1966) ist er der machiavellistische Böse schlechthin - und More die Verkörperung des Gewissens und der Humanität. Jüngere Darstellungen wie die epische BBC-Serie "Die Tudors" oder der Kostümfilm "Die Schwester der Königin" (mit Natalie Portman als Anne Boleyn und Scarlett Johansson als deren Schwester Mary) sind diesem Schema stur gefolgt.
Es ist also keine Überraschung, dass die Engländerin Hilary Mantel, deren bisheriges Werk - der autobiographische Roman "Ein Liebesexperiment", die Familiengeschichte "Regen über der Wüste" und andere - zum Teil auch auf Deutsch erschienen ist, sich darangemacht hat, Cromwell literarisch neu zu erfinden. Die Überraschung besteht darin, dass ihr das mit "Wölfe" gelungen ist. Denn die Schmutzspuren der Geschichte lassen sich vom Porträt des Schatzkanzlers ja nicht abwaschen: die Intrigen, die politischen Prozesse, die Auflösung der Klöster, die Hinrichtung Mores, der sich geweigert hatte, den von Cromwell durch das Parlament gepeitschten "Act of Succession" - der die Nachfolge der Kinder Anne Boleyns mit Heinrich VIII. regelte - zu beeiden.
All das kommt auch bei Hilary Mantel vor, aber es ist eingewoben in ein dichtes Gewebe einander bedingender Ereignisse, und konsequent gegen den Strich der historischen Überlieferung gebürstet. In den Geschichtsbüchern, die seine Feinde geschrieben haben, ersetzt Cromwell die milde Kanzlerschaft von Thomas More durch ein Regime der Folter und Gesinnungsschnüffelei. Bei Mantel dagegen hat er seine Methoden von More abgeschaut; er wendet sie nur geschickter an. Das Buch beginnt mit einer Kindheitsszene. Der junge Cromwell, fünfzehn Jahre alt, wird von seinem Vater, einem Schläger und Säufer, fast zu Tode geprügelt. "Blut aus der Wunde an seinem Kopf rinnt ihm über das Gesicht . . . Der Hof stinkt nach Bier und Blut. Unten am Flussufer schreit jemand. Nichts tut ihm weh, oder vielleicht tut ihm alles weh, denn es gibt keinen einzelnen Schmerz, den er genau benennen kann." Die Schläge treiben den Jungen dazu, das Elternhaus zu verlassen und sein Glück jenseits des Ärmelkanals zu suchen, wo der König von Frankreich Soldaten für seine Kriege gegen die Habsburger anwirbt. Dreißig Jahre und eine Handvoll Seiten später ist er zurück in London, um als Sekretär des Kardinals Wolsey, des Lordkanzlers Heinrichs VIII., das große Spiel um die Macht in England mitzuspielen.
Schon in diesem Anfang wird klar, worin die besondere Qualität von Mantels Roman liegt. Es ist eine Überblendung von objektiver und subjektiver Wahrnehmung, wie es sie im historischen Roman so noch nicht gegeben hat. Seit Walter Scott mit "Ivanhoe" das Genre vor zweihundert Jahren erfand, folgen seine Fiktionen, wenn man von Ausreißern wie Tolstois "Krieg und Frieden" absieht, dem immergleichen stereotypen Muster aus Beschreibung und Wechselrede, Schlachten- oder Boudoirgemälde und drehbuchmäßigem Dialog.
Bei Mantel kommt in diesen klassischen Aufbau eine neue erzählerische Dringlichkeit. Es ist, als blickten wir durch ein Kamera-Auge über Cromwells Schulter in den Raum, in dem er agiert, während eine zweite, weiter entfernte Kamera die größeren Konturen des Geschehens festhält. Doch die subjektive Kamera kann auch Gedanken lesen. Cromwells körperlicher Minderwertigkeitskomplex, seine Angst, zu grob, zu plump, zu verbrecherhaft zu wirken, bildet ein Leitmotiv des Romans. Ein anderer Grundakkord ist die Trauer des Erfolgreichen um die Verluste, die seinen Aufstieg begleiten: seine Frau und die beiden Töchter, die am Schweißfieber sterben, sein Förderer Wolsey, der vom Hofadel gestürzt wird, seine Geliebte in Antwerpen, die er nicht mehr wiedersieht. Man spürt, wie die Luft dünner wird um diesen Mann, wie seine Perspektiven sich verengen, bis ihm nur der Ausweg nach ganz oben bleibt, zum Ruhm und in den Tod. Ein Kunstgriff der Autorin besteht darin, dass sie ihre Hauptfigur, ohne ihr von der Seite zu weichen, immer wieder sacht aus dem Fokus der Erzählung rückt. Ganze Absätze lang spricht sie von Cromwell nur als "er", selbst dann, wenn er mit mehreren Personen im Gespräch ist. So muss der Leser der Suchbewegung von Mantels Prosa folgen, bis sein Blick mit dem Cromwells verschmilzt. Der Trick ist riskant, er setzt auf unsere Bereitschaft, uns auf das Spiel einzulassen. Aber er funktioniert.
Und doch bleibt der Mensch, von dem "Wölfe" auf 750 Seiten erzählt, ein perfektes Rätsel, perfekt auch in dem Sinn, dass er auf beunruhigende Weise allwissend und allesvermögend ist. "Er kann einen Vertrag aufsetzen", heißt es, "einen Falken abrichten, eine Karte zeichnen, eine Prügelei beenden, ein Haus einrichten oder Geschworene kaufen. Er liefert Ihnen ein Argument der alten Dichter und Philosophen, wenn Sie eins brauchen, von Platon zu Plautus und wieder zurück. Er macht Geld und gibt es aus. Er nimmt jegliche Wette an." Cromwells Gedächtnis ist legendär, es speichert jedes Schriftstück und jedes Gesicht, das ihm begegnet. Doch selbst das genügt ihm nicht. In Calais hört er von einem Italiener, der für den französischen König eine Gedächtnismaschine baut, ein "Theater des Wissens" mit unzähligen ineinander verschachtelten Schubladen. Er lässt den Erfinder suchen, schreibt Briefe, schickt Agenten los. Vergeblich.
So vergeblich wie Cromwells Bemühungen, seinem König zu verschaffen, was dieser sich am meisten wünscht: einen männlichen Erben. Damit Heinrich sich von seiner Ehefrau Katharina von Aragon scheiden lassen und seine Geliebte Anne Boleyn heiraten kann, provoziert Cromwell den Bruch mit dem Papst, enteignet den englischen Klerus und legt so den Grundstein zur Anglikanischen Kirche. Aber Anne gebiert zuerst ein Mädchen, danach erleidet sie eine Fehlgeburt. Niemand, selbst Cromwell nicht, kann ahnen, dass aus dem quengelnden, rothaarigen Baby der Dame Boleyn dereinst Elisabeth I. werden wird, die größte aller englischen Königinnen.
Der gewöhnliche historische Roman, wie ihn die Buchhandlungen zwischen "Krimi" und "Fantasy" anbieten, ist einerseits unsinnlich, andererseits ungenau: Er verhunzt sowohl die Geschichte als auch die Literatur. In "Wölfe" haben beide einen Festtag. Dieses Buch ist mit Farben, Gerüchen und Geräuschen so gesättigt, dass man es, etwa bei der Krönung Anne Boleyns, wie einen Augenzeugenbericht lesen kann. Zugleich folgt es penibel den historischen Ereignissen. Und ebenso, wie der gute Hausvater Cromwell jedes Aktenstück aufhebt, das in seine Hände gerät, lässt auch Hilary Mantel kein Detail ihrer Geschichte fallen.
Die rotseidenen Roben des erledigten Günstlings Wolsey füllen, in Streifen geschnitten, das Jackenfutter der adligen Karrieristen am Königshof, während die Engelsflügel von Cromwells totem Lieblingstöchterchen Grace auf den Speicher wandern, wo er sie in einer erschütternden Szene auspackt und ins Licht hält. Es ist eine Wolfsgesellschaft, in der die Liebe selten und das Gefressenwerden alltäglich sind. Die Wölfe selbst, heißt es einmal, seien mit den großen Wäldern aus England verschwunden. "Das Heulen, das du da hörst, das sind nur die Londoner."
Kann man dieses Heulen aushalten, 750 Seiten lang? Man kann. Man muss. Ihre Landsleute haben Hilary Mantel vergangenes Jahr den Booker-Preis verliehen, und wer das Buch liest, begreift, warum es von Anfang an als Favorit galt. Cromwell, der vielgehasste, hat das englische Königtum reformiert. Hilary Mantel, die viel Gepriesene, hat ein Teilreich der Literatur erneuert: den historischen Roman.
ANDREAS KILB
Hilary Mantel: "Wölfe". Roman. Aus dem Englischen von Christiane Trabant. DuMont, 768 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main