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Wolfgang Hilbig ist ein Autor der literarischen Moderne. Aber welcher? Literaturkritik und Literaturwissenschaft stellten ihn immer wieder in die Tradition der westlichen Moderne und leiteten seine Gedichte von Rimbaud und seine Prosa von Kafka her. Das trug ihm manchen Preis ein, aber auch manche Kritik, weil die Moderne in den 1980er und 90er Jahren längst unter Anachronismusverdacht stand. Zum Verständnis seiner Texte trug es ohnehin nur eingeschränkt bei. In dem Maße, in dem man sich nur unzureichend über die Einseitigkeit dieses Modernebegriffs im Klaren war, verstellte er einen Teil der…mehr

Produktbeschreibung
Wolfgang Hilbig ist ein Autor der literarischen Moderne. Aber welcher? Literaturkritik und Literaturwissenschaft stellten ihn immer wieder in die Tradition der westlichen Moderne und leiteten seine Gedichte von Rimbaud und seine Prosa von Kafka her. Das trug ihm manchen Preis ein, aber auch manche Kritik, weil die Moderne in den 1980er und 90er Jahren längst unter Anachronismusverdacht stand. Zum Verständnis seiner Texte trug es ohnehin nur eingeschränkt bei. In dem Maße, in dem man sich nur unzureichend über die Einseitigkeit dieses Modernebegriffs im Klaren war, verstellte er einen Teil der Moderne, die für Hilbig nicht weniger prägend war. Zu ihr gehört Welimir Chlebnikow ebenso wie der russische Formalismus. Die Beiträge des Bandes versuchen, einen ost-west-transzendenten Modernebegriff wiederzugewinnen, und konfrontieren ihn mit Hilbigs Texten.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Helmut Böttiger freut sich über zwei Tagungsbände zum Werk Wolfgang Hilbig. Erstaunt über die Faszination der französischen Germanistik für Hilbigs Gedichte, erfährt er Wissenswertes etwa über Hilbigs Beziehung zu Baudelaire (Françoise Lartillot) und eine "Poetik des Abgrunds" in seinen Texten (Nadia Lapchines). Ebenso erhellend erscheinen ihm Paralellisierungen von Peter Huchel und Hilbig (in einem Aufsatz von Maryse Jacobs) und die Bezüge, die Marie-Luise Bott zwische dem Autor und Conrad Ferdinand Meyer herstellt. Das gewagte Unternehmen, sich dem theoriefernen Hilbig auf diese Art und Weise zu nähern, meistern die Autoren laut Böttiger überzeugend. Dass die DDR mit Hilbig ihre eigene Moderne hatte, ahnt der Rezensent nach der Lektüre wohl.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2021

Der Schornsteinkehrer
Zwei Tagungsbände beschäftigen sich mit Wolfgang Hilbig als genialischem Beschreiber von Schutt, Asche und Dunkelheit
Wolfgang Hilbig, der 2007 im Alter von 65 Jahren starb, war der letzte große Einsame in der deutschen Literatur. Er schien aus anderen Epochen herüberzuragen, verkehrte mit den Dichtern der Romantik und sämtlichen Spielarten der Moderne auf Augenhöhe und bewegte sich doch unmissverständlich in den Braunkohlerevieren der DDR, in einer gleißenden, apokalyptisch anmutenden Gegenwart. Mit dem Habitus, der seit den Achtzigerjahren für einen Gegenwartsautor verpflichtend wurde, hatte er nicht das Geringste zu tun. Er war kein Mann für Mikrofone, Interviews mit ihm stellten Kulturjournalisten vor ungeahnte Anforderungen – obwohl er keinesfalls böswillig war, konnten sie ihm keine sofort verwertbaren Aussagen entlocken. Oft sagte er gar nichts, und manchmal kam es zu wenigen, kurzen Sätzen, die das genaue Gegenteil zu seinen höchst elaborierten und magisch wirkenden schriftlichen Äußerungen darstellten. Man konnte den scheinbar bodenständigen, ein freundliches Sächsisch intonierenden, sehr zurückhaltenden Mann kaum mit den wortgewaltigen, rauschhaften Texten zusammenbringen, die er geschrieben hatte.
Dieser Dichter lebte im Schreiben. Deshalb ist er bis heute, wie es zu seiner Zeit Majakowski über Chlebnikow sagte, ein von Insidern fast kultisch verehrter „Dichter für Produzenten“ geblieben. So unterschiedliche zeitgenössische Autoren wie Lutz Seiler, Ingo Schulze oder Clemens Meyer beziehen sich dezidiert auf ihn. Vorstellungen einer Sekundärliteratur waren ihm ebenso fremd wie akademische Begrifflichkeiten. Man kann die beiden umfangreichen Tagungsbände, die jetzt zu seinem Werk erscheinen, daher als durchaus gewagte Unternehmen ansehen. Nähert man sich den Texten von Hilbig von außen mit allzu genau vorgebildeten Theoriemodellen, werden sie unversehens von einer diffus erscheinenden, klebrigen Masse umgeben und unschädlich gemacht. Denn das war Hilbigs Spezialität: ungeheuer intensive, synästhetische Beschreibungen organischer Fäulnis-, Gär- und Verwesungsprozesse, allegorische schwarze Märchen voller Dekadenz und DDR.
In den Jahren 2016 und 2017 fanden in Berlin und Paris drei Tagungen zum Werk Hilbigs statt. Dass sich ausgerechnet die französische Germanistik so engagiert einem Autor wie Hilbig widmet, steht in einer langen Tradition. Das vermeintlich tiefe, die Rationalität übersteigende, dunkle Deutsche strahlt dort wegen seiner Fremdheit seit jeher einen besonderen Reiz aus. Bei Hilbig kommt noch hinzu, dass er sich stark von Rimbaud, von Baudelaire und der französischen Décadence des späten 19. Jahrhunderts beeinflusst zeigte. Oft beschreibt er suggestiv, wie er den kostbaren Lesestoff in meist vergilbten Exemplaren traumhaft in sich hineinschaufelt wie in seiner Tätigkeit als Heizer in einem Industriekombinat die Kohlen in die Öfen. Ein spezifisch französisches Faszinosum zeigt sich in Essays von Bénédicte Terrisse, Bernard Banoun oder Sylvie Arlaud. Françoise Lartillot widmet sich in gleich zwei Aufsätzen mit differenzierten Detailuntersuchungen der Beziehung Hilbigs zu Baudelaire, während der deutsche Hilbig-Kenner Stephan Pabst die Bedeutung der Sprachimaginationen Rimbauds für den in seinem thüringisch-sächsischen Grenzort Meuselwitz festsitzenden Autor aufzeigt.
Es gibt Aufsätze, die in zwingender oder auch weniger zwingender Weise die verschiedensten Annäherungen an diesen Solitär versuchen: sein Verhältnis zu Hofmannsthal etwa, zu Ezra Pound und T.S. Eliot, zu Walter Benjamin und zu Adornos berühmten Diktum über die Lyrik nach Auschwitz – Hilbig fällt im Gegensatz zu den meisten DDR-Autoren dadurch auf, dass der deutsche Massenmord an den Juden in seinen Texten immer präsent ist. Instruktiv ist Nadia Lapchines Untersuchung einer „Poetik des Abgrunds“ in Hilbigs Gedichtband „Bilder vom Erzählen“. Eine interessante Idee verfolgt auch Stefan Matuschek. Er geht den unterschiedlichen Romantik-Adaptionen bei Hilbig („Schaudern“) und Botho Strauß („Verhöhnen“) nach und arbeitet dabei charakteristische Ost-West-Differenzen heraus. Das ist sehr inspirierend. Ob aber seine Darstellung der Intentionen von Botho Strauß letztlich ganz stichhaltig ist, darüber könnte man diskutieren – gilt der Hohn von Botho Strauß vielleicht gar nicht der Romantik selbst als vielmehr seiner bundesdeutschen Gegenwart, welche die Fabeln der Romantik nicht mehr begreifen will?
Wenn es den Interpreten gelingt, Hilbigs spezielle Durchdringung von Kunst und Leben von innen heraus nachzuvollziehen, sind verblüffende, erhellende Momente möglich. Marie-Luise Bott geht in ihren beiden Vorträgen überraschenden Bezügen und Anspielungen nach. Wie sich Hilbig in zwei späten Gedichten mit dem unfreiwillig frühmodernen Schweizer Conrad Ferdinand Meyer auseinandersetzt und ihn in die eigene DDR-Situation hineintreibt, ist frappierend. Und ein Kabinettstückchen ist Botts Recherche zu Hilbigs bis dato unveröffentlichtem Text „Die ewige Stadt“, den er in einer frühen Wohnzimmerlesung im Prenzlauer Berg bei Gerd und Ulrike Poppe vortrug. Die Hauptstadt der DDR wird hier mit dem antiken Rom verbunden, und zugleich glimmen viele Motive aus Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“ aus dem Jahr 1908 auf. Der ins Katastrophische gewendete Begriff der Moderne bei Kubin und dessen osteuropäisch verdüsterte Visionen sind mit Hilbigs Bildern assoziativ eng verknüpft. Ähnlich fruchtbar ist Maryse Jacobs Parallellektüre von Peter Huchel und Hilbig. Gemeinsam ist beiden der Ausgangspunkt nicht bewirtschafteter Brachen mit Unkraut, Schutt und Asche sowie das generationsübergreifende Phänomen der „Ostmoderne“.
Der Titel „Wolfgang Hilbig und die (ganze) Moderne“, den die Herausgeber einem der beiden Bände gegeben haben, nimmt dieses Begriffsfeld in den Blick. Mit der Betonung einer „ganzen“ Moderne ist in erster Linie gemeint, dass Hilbig keineswegs auf die Rezeption der westlichen Moderne zu beschränken ist. Den Beweis treten Carola Hähnel-Mesnard, die Spuren Chlebnikows bei Hilbig untersucht, und Joanna Jabłkowska an, die eine osteuropäische Albtraumverbindung zu dem polnischen Autor Tadeusz Konwicki analysiert. Die Stoßrichtung des Konzepts der „ganzen Moderne“ geht jedoch vor allem dahin, die verbreitete These einer „nachgeholten Moderne“ in der DDR zu widerlegen. Unter den Bedingungen des osteuropäischen Sozialismus entstand in der DDR nämlich etwas durchaus Eigenständiges, wofür Hilbigs Wort von einer „zweiten Moderne“ steht – zutage treten Subjekte, die von vornherein fragwürdig sind und deshalb auf paradoxe Weise zu sich selbst kommen. Auf ähnliche Weise fängt die Beschäftigung mit Wolfgang Hilbig gerade erst an.
HELMUT BÖTTIGER
Er schaufelte die französische
Lyrik in sich hinein
wie die Kohle in die Öfen
Was in der DDR entstand,
nennt Hilbig die
„zweite Moderne“
Hilbig arbeitete zwar in keiner Erdölraffinerie, aber lang als Dreher und Heizer. Fabriken und Industriebrachen faszinierten ihn.
Foto: picture-alliance / dpa
Pabst, Stephan u.a. (Hg.): Wolfgang Hilbig und die (ganze) Moderne. Verbrecher Verlag, Berlin 2021. 335 Seiten, 24 Euro.
Banoun, Bernard u.a. (Hg): Wolfgang Hilbigs Lyrik. Eine Werkexpedition. Verbrecher Verlag, Berlin 2021.
479 Seiten, 26 Euro.
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