Die erste große Biographie über Wolfgang Hilbig
Bis heute umgibt den 1941 geborenen und vor zehn Jahren gestorbenen Dichter Wolfgang Hilbig eine Aura des Rätsels. Hineingeboren in eine Umgebung aus Sprachlosigkeit, galt er spätestens seit seinem Roman »'Ich'« als einer der sprachmächtigsten Autoren der deutschen Literatur - und blieb doch ihr geheimnisvollster Außenseiter. Hilbig, der jahrelang als Heizer arbeitete, war in der DDR gezwungen, eine Doppelexistenz zu führen.
Für diese erste große Biographie hat der Literaturwissenschaftler Michael Opitz unbekannte Archivmaterialien und nie veröffentlichte Briefe und Tagebücher gesichtet sowie die Akten ausgewertet, die die Staatssicherheit der DDR über den »feindlich-negativen« Autor angelegt hat. Behutsam und einfühlsam zeichnet er den Weg eines faszinierenden Schriftstellers, der erst im Schreiben zu seinem wahren Leben fand.
Bis heute umgibt den 1941 geborenen und vor zehn Jahren gestorbenen Dichter Wolfgang Hilbig eine Aura des Rätsels. Hineingeboren in eine Umgebung aus Sprachlosigkeit, galt er spätestens seit seinem Roman »'Ich'« als einer der sprachmächtigsten Autoren der deutschen Literatur - und blieb doch ihr geheimnisvollster Außenseiter. Hilbig, der jahrelang als Heizer arbeitete, war in der DDR gezwungen, eine Doppelexistenz zu führen.
Für diese erste große Biographie hat der Literaturwissenschaftler Michael Opitz unbekannte Archivmaterialien und nie veröffentlichte Briefe und Tagebücher gesichtet sowie die Akten ausgewertet, die die Staatssicherheit der DDR über den »feindlich-negativen« Autor angelegt hat. Behutsam und einfühlsam zeichnet er den Weg eines faszinierenden Schriftstellers, der erst im Schreiben zu seinem wahren Leben fand.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2017Nimm die Schreibhand aus dem Nacken
„Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat,
was man durchleiden musste“: Michael Opitz erzählt das Leben des großen Dichters Wolfgang Hilbig
VON NICO BLEUTGE
Wenn die Wörter sich in Wolfgang Hilbigs Texten auf die Reise durch den Körper machen, haben sie eine lange Wanderung vor sich. Auf ihrem Weg müssen sie durch dunstige Atmosphären ziehen, durch uralte Wüsten und Gegenden des Verfalls. Bedeckt von Staub und Salz tauchen sie schließlich wieder auf, alt geworden und gebrechlich, „ausgetrocknet in einem Dauergeriesel von feinem Sand“. Doch nur in diesen fernen Sprachsteppen, nur in dieser brüchigen Materie fand Hilbig den Stoff, aus dem er seine Literatur gewann.
Wolfgang Hilbig war ein Sprach- und Schreibsüchtiger. Wenn er „die schwere / Schreibhand aus dem / Nacken“ nahm und zu notieren begann, so hat es Marcel Beyer einmal in einem Gedicht imaginiert, war er recht eigentlich bei sich. Als ob die Sprache ihm „ein frisch gestärkter / Kragen sei“, nutzte er jede Gelegenheit für die Arbeit an seinen Texten, machte den Küchentisch der Mutter ebenso zum Medium seiner Schreibexerzitien wie den Heizungskeller einer Fabrik.
Dabei entstanden Texte, die so eigen in ihrem Klang, in ihren Bildern und in der rhythmischen Gestalt ihrer Sätze sind, dass man sich beim Lesen fortwährend fragt, aus welchen Schichten der Erinnerung Hilbig seine sprachlichen Essenzen destilliert haben mag.
Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Michael Opitz hat sich für eine autobiografische Lesart entschieden: „Die Basis seines Werkes bildet Durchlebtes. Oft sind die Ähnlichkeiten zwischen der Biographie seiner Figuren und der des Autors so frappierend, dass es berechtigt erscheint, von autofiktionalen Texten zu sprechen.“
Das klingt ein wenig abstrakt, liegt als These aber nah, finden sich doch sowohl in den Erzählungen als auch in den Romanen häufig Szenen, die Hilbigs direktem Erlebnisreservoir zu entstammen scheinen, die wechselnden Wohnorte etwa oder die Atmosphäre vor den Glutöfen der Kesselhäuser, die er durch seine zeitweilige Arbeit als Heizer gut kannte.
Zahlreich sind auch die Äußerungen Hibigs, die in diese Richtung weisen: „Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat, was man durchleiden musste“, hat er einmal in einem Interview gesagt.
Gleich im Eingangskapitel seiner Biografie macht Opitz deutlich, mit welcher Technik er den Hilbigschen Lebensstoff angeht. Anhand von Zeitungsartikeln fächert er die Ereignisse auf, die am Tag von Hilbigs Geburt stattfanden, dem 31. August 1941. Von Hilbigs Heimatstadt Meuselwitz in Thüringen geht es an die Kriegsfront, vom Leitartikel in die Briefe von Bertolt Brecht oder Victor Klemperer. Es ist ein gleichsam synchronistisches Verfahren, das ein Zeit- und Lebensmoment mit anderen markanten Momenten kurzschließt, Querverbindungen und Widersprüche aufscheinen lässt. Und das klarmacht, wie Hilbigs Schreiben von Beginn an auf die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts ausgerichtet war: „Am 31. August 1941 kam es zu Massenerschießungen von Juden, wurden Häftlinge gefoltert, Gefangene erschossen, und Partisanen organisierten den militärischen Widerstand.“
Indem Opitz diese Idee auch auf den Autor anwendet, veranschaulicht er sehr schön, welche Wahrnehmungs-, Zeit- und Erinnerungsschichten Hilbig immer schon zusammendachte – und als Kondensate in seine Texte eingehen ließ. Und so führt Opitz den Leser zu den Anfängen der Biografie in der Nachkriegszeit, zeigt uns etwa den Großvater, einen patriarchalen Analphabeten, der gleichwohl Bezugspunkt für Hilbig war. Die Mutter Verkäuferin, der Vater aus dem Krieg nicht heimgekehrt – ein erstes Beispiel für die sozialen Festschreibungen und die elementaren Abwesenheiten, mit denen Hilbig zu kämpfen hatte und die in seiner Literatur eine so große Rolle spielen sollten.
Die mit Abstand wichtigsten Kapitel gelten Hilbigs Leben und Schreiben in der DDR. In seiner Jugend war er leidenschaftlicher Boxer und Turner, arbeitete zunächst als Bohrwerkdreher, bald kam die langjährige Tätigkeit als Heizer. Das Schreiben lief immer nebenher. Als Verfasser von „Arbeiterliteratur“ verstand er sich aber nie, im Gegenteil, nichts hasste er mehr, als auf diese Vorstellung reduziert zu werden. Ende 1980 wurde Hilbig, lange ersehnt, freiberuflicher Schriftsteller. Dem System gegenüber war er immer kritisch eingestellt, arbeitete auch in seinen Texten die gesellschaftlichen Widersprüche heraus – kein Wunder, dass die Stasi ihn schon früh überwachen ließ und zeitweise sogar im Gefängnis festsetzte. Sehr genau stellt Opitz dar, wie Hilbig lange Zeit im DDR-Literaturbetrieb sozusagen nicht vorkam, erst in der BRD veröffentlicht wurde und nach seiner Übersiedlung 1985 dort bald Anerkennung fand, Preise und Einladungen erhielt.
Bisher gab es schon vereinzelt kleinere Versuche zu Wolfgang Hilbigs Leben, etwa eine schöne Studie von Birgit Dahlke. Michael Opitz aber zielt auf die großen Zusammenhänge. Dazu ist er in die Archive gestiegen und hat sich im Nachlass die Tagebücher, die unveröffentlichten Texte und die Notizen angesehen, er ist nach Meuselwitz und Leipzig gereist und hat die Atmosphäre vor Ort auf sich wirken lassen, hat Gespräche mit den Partnerinnen und mit Freunden Hilbigs geführt, Hilbigs Stasiakten gesichtet und sich manchen Briefwechsel besorgt. So ist eine Biografie entstanden, die ebenso dicht in ihren Stoffen wie in ihren Gedanken ist, die tatsächlich Räume ausleuchtet, sie vor dem Leser aufspannt – und die stilistisch überzeugend geschrieben ist, in ihren Analysen klar und zugleich geschickt im Wechsel der Töne. Trotzdem gibt es zwei Argumentationslinien, durch die Opitz seine Darstellung immer wieder perspektivisch verengt. Da ist zum einen der Glaube, die autobiografische Deutung absolut setzen zu müssen. Obwohl er von einer „Kunst des Übersetzens“ spricht oder mehrfach andeutet, Hilbig habe versucht, „Erlebtes (...) mit fiktivem Material anzureichern“, schließt Opitz ein ums andere Mal Leben und Texte einsträngig kurz oder benutzt die Texte, umgekehrt, als Materialspeicher für die Lebenserzählung.
Das andere ist die Neigung, sich in den Textanalysen auf thematische Ideen, auf Motive und Selbstäußerungen Hilbigs zu konzentrieren. Opitz sagt Kluges zu Motiven wie Schlaf, Müdigkeit oder Asche, die Hilbigs Texte von Beginn an durchziehen. Auch arbeitet er gut heraus, wie wichtig dem Dichter die Erinnerung und die Spuren der Geschichte waren. Was aber oft fehlt, ist ein Blick auf das formale Eigenleben der Texte, auf Struktur, Rhythmus oder Klanggestalt, kurzum: auf das so entscheidende Wie des Schreibens.
Dabei laden Hilbigs Texte förmlich dazu ein, ihren zahlreichen Schichten nachzugehen. In den Erzählungen und Romanen mit ihrer ganz eigenen Satzführung, erst recht aber in den Gedichten ist jedes Wort mehrfach aufgeladen, und die „Ellipsen der Sätze“, wie Hilbig es einmal genannt hat, sind geschickt rhythmisiert. Jedes dieser Momente steht in einem genau austarierten Verhältnis zu den motivischen und stofflichen Schichten. Erst in ihrer Gesamtheit entfalten die Texte jene soghafte Wirkung, von der Opitz an mehreren Stellen spricht.
Aber sei’s drum. Auch wenn er die formalen Aspekte von Hilbigs Büchern vernachlässigt, hat der Biograf ein feines Gespür für die Komposition seines eigenen Buches. So legt er Fäden aus, die er andernorts wieder aufnimmt, oder spielt selbst mit Motiven, die von unterschiedlichen Seiten aus befragt werden. Dazu gehört Hilbigs Liebe zum Meer. Eine Liebe, gegen die sogar seine Alkoholsucht nicht ankonnte und die auch dann noch anhielt, als seine Krebserkrankung schon weit fortgeschritten war. Kurz vor seinem Tod im Sommer 2007 hat Wolfgang Hilbig das Meer noch einmal gesehen. Jenes Meer, das dieser große Dichter in seinen Texten so oft beschworen hat. In einem seiner späten Gedichte wird ihm das Meer zu einem Leuchten, das eine lange Überfahrt antritt – und das jedes Land vergessen macht: „das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.“
Michael Opitz: Wolfgang Hilbig. Eine Biographie.
S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2017. 663 Seiten, 28 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Lange Jahre war er Heizer,
das Schreiben
lief immer nebenher
Der Biograf hat mit Weggefährten
gesprochen, Hilbigs Stasi-Akten
und seinen Nachlass gesichtet
Schlaf, Müdigkeit und Sehnsucht nach dem Meer: Wolfgang Hilbig, 1941 in Meuselwitz geboren, starb im Juni 2007 in Berlin. Sein erster Gedichtband „Abwesenheit“ erschien 1979 bei S. Fischer. 1985 verließ er die DDR, 2002 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Foto: Michael Trippel / laif
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat,
was man durchleiden musste“: Michael Opitz erzählt das Leben des großen Dichters Wolfgang Hilbig
VON NICO BLEUTGE
Wenn die Wörter sich in Wolfgang Hilbigs Texten auf die Reise durch den Körper machen, haben sie eine lange Wanderung vor sich. Auf ihrem Weg müssen sie durch dunstige Atmosphären ziehen, durch uralte Wüsten und Gegenden des Verfalls. Bedeckt von Staub und Salz tauchen sie schließlich wieder auf, alt geworden und gebrechlich, „ausgetrocknet in einem Dauergeriesel von feinem Sand“. Doch nur in diesen fernen Sprachsteppen, nur in dieser brüchigen Materie fand Hilbig den Stoff, aus dem er seine Literatur gewann.
Wolfgang Hilbig war ein Sprach- und Schreibsüchtiger. Wenn er „die schwere / Schreibhand aus dem / Nacken“ nahm und zu notieren begann, so hat es Marcel Beyer einmal in einem Gedicht imaginiert, war er recht eigentlich bei sich. Als ob die Sprache ihm „ein frisch gestärkter / Kragen sei“, nutzte er jede Gelegenheit für die Arbeit an seinen Texten, machte den Küchentisch der Mutter ebenso zum Medium seiner Schreibexerzitien wie den Heizungskeller einer Fabrik.
Dabei entstanden Texte, die so eigen in ihrem Klang, in ihren Bildern und in der rhythmischen Gestalt ihrer Sätze sind, dass man sich beim Lesen fortwährend fragt, aus welchen Schichten der Erinnerung Hilbig seine sprachlichen Essenzen destilliert haben mag.
Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Michael Opitz hat sich für eine autobiografische Lesart entschieden: „Die Basis seines Werkes bildet Durchlebtes. Oft sind die Ähnlichkeiten zwischen der Biographie seiner Figuren und der des Autors so frappierend, dass es berechtigt erscheint, von autofiktionalen Texten zu sprechen.“
Das klingt ein wenig abstrakt, liegt als These aber nah, finden sich doch sowohl in den Erzählungen als auch in den Romanen häufig Szenen, die Hilbigs direktem Erlebnisreservoir zu entstammen scheinen, die wechselnden Wohnorte etwa oder die Atmosphäre vor den Glutöfen der Kesselhäuser, die er durch seine zeitweilige Arbeit als Heizer gut kannte.
Zahlreich sind auch die Äußerungen Hibigs, die in diese Richtung weisen: „Man kann nur von dem schreiben, was man selber ist, was man gerochen, gesehen, geschmeckt hat, was man durchleiden musste“, hat er einmal in einem Interview gesagt.
Gleich im Eingangskapitel seiner Biografie macht Opitz deutlich, mit welcher Technik er den Hilbigschen Lebensstoff angeht. Anhand von Zeitungsartikeln fächert er die Ereignisse auf, die am Tag von Hilbigs Geburt stattfanden, dem 31. August 1941. Von Hilbigs Heimatstadt Meuselwitz in Thüringen geht es an die Kriegsfront, vom Leitartikel in die Briefe von Bertolt Brecht oder Victor Klemperer. Es ist ein gleichsam synchronistisches Verfahren, das ein Zeit- und Lebensmoment mit anderen markanten Momenten kurzschließt, Querverbindungen und Widersprüche aufscheinen lässt. Und das klarmacht, wie Hilbigs Schreiben von Beginn an auf die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts ausgerichtet war: „Am 31. August 1941 kam es zu Massenerschießungen von Juden, wurden Häftlinge gefoltert, Gefangene erschossen, und Partisanen organisierten den militärischen Widerstand.“
Indem Opitz diese Idee auch auf den Autor anwendet, veranschaulicht er sehr schön, welche Wahrnehmungs-, Zeit- und Erinnerungsschichten Hilbig immer schon zusammendachte – und als Kondensate in seine Texte eingehen ließ. Und so führt Opitz den Leser zu den Anfängen der Biografie in der Nachkriegszeit, zeigt uns etwa den Großvater, einen patriarchalen Analphabeten, der gleichwohl Bezugspunkt für Hilbig war. Die Mutter Verkäuferin, der Vater aus dem Krieg nicht heimgekehrt – ein erstes Beispiel für die sozialen Festschreibungen und die elementaren Abwesenheiten, mit denen Hilbig zu kämpfen hatte und die in seiner Literatur eine so große Rolle spielen sollten.
Die mit Abstand wichtigsten Kapitel gelten Hilbigs Leben und Schreiben in der DDR. In seiner Jugend war er leidenschaftlicher Boxer und Turner, arbeitete zunächst als Bohrwerkdreher, bald kam die langjährige Tätigkeit als Heizer. Das Schreiben lief immer nebenher. Als Verfasser von „Arbeiterliteratur“ verstand er sich aber nie, im Gegenteil, nichts hasste er mehr, als auf diese Vorstellung reduziert zu werden. Ende 1980 wurde Hilbig, lange ersehnt, freiberuflicher Schriftsteller. Dem System gegenüber war er immer kritisch eingestellt, arbeitete auch in seinen Texten die gesellschaftlichen Widersprüche heraus – kein Wunder, dass die Stasi ihn schon früh überwachen ließ und zeitweise sogar im Gefängnis festsetzte. Sehr genau stellt Opitz dar, wie Hilbig lange Zeit im DDR-Literaturbetrieb sozusagen nicht vorkam, erst in der BRD veröffentlicht wurde und nach seiner Übersiedlung 1985 dort bald Anerkennung fand, Preise und Einladungen erhielt.
Bisher gab es schon vereinzelt kleinere Versuche zu Wolfgang Hilbigs Leben, etwa eine schöne Studie von Birgit Dahlke. Michael Opitz aber zielt auf die großen Zusammenhänge. Dazu ist er in die Archive gestiegen und hat sich im Nachlass die Tagebücher, die unveröffentlichten Texte und die Notizen angesehen, er ist nach Meuselwitz und Leipzig gereist und hat die Atmosphäre vor Ort auf sich wirken lassen, hat Gespräche mit den Partnerinnen und mit Freunden Hilbigs geführt, Hilbigs Stasiakten gesichtet und sich manchen Briefwechsel besorgt. So ist eine Biografie entstanden, die ebenso dicht in ihren Stoffen wie in ihren Gedanken ist, die tatsächlich Räume ausleuchtet, sie vor dem Leser aufspannt – und die stilistisch überzeugend geschrieben ist, in ihren Analysen klar und zugleich geschickt im Wechsel der Töne. Trotzdem gibt es zwei Argumentationslinien, durch die Opitz seine Darstellung immer wieder perspektivisch verengt. Da ist zum einen der Glaube, die autobiografische Deutung absolut setzen zu müssen. Obwohl er von einer „Kunst des Übersetzens“ spricht oder mehrfach andeutet, Hilbig habe versucht, „Erlebtes (...) mit fiktivem Material anzureichern“, schließt Opitz ein ums andere Mal Leben und Texte einsträngig kurz oder benutzt die Texte, umgekehrt, als Materialspeicher für die Lebenserzählung.
Das andere ist die Neigung, sich in den Textanalysen auf thematische Ideen, auf Motive und Selbstäußerungen Hilbigs zu konzentrieren. Opitz sagt Kluges zu Motiven wie Schlaf, Müdigkeit oder Asche, die Hilbigs Texte von Beginn an durchziehen. Auch arbeitet er gut heraus, wie wichtig dem Dichter die Erinnerung und die Spuren der Geschichte waren. Was aber oft fehlt, ist ein Blick auf das formale Eigenleben der Texte, auf Struktur, Rhythmus oder Klanggestalt, kurzum: auf das so entscheidende Wie des Schreibens.
Dabei laden Hilbigs Texte förmlich dazu ein, ihren zahlreichen Schichten nachzugehen. In den Erzählungen und Romanen mit ihrer ganz eigenen Satzführung, erst recht aber in den Gedichten ist jedes Wort mehrfach aufgeladen, und die „Ellipsen der Sätze“, wie Hilbig es einmal genannt hat, sind geschickt rhythmisiert. Jedes dieser Momente steht in einem genau austarierten Verhältnis zu den motivischen und stofflichen Schichten. Erst in ihrer Gesamtheit entfalten die Texte jene soghafte Wirkung, von der Opitz an mehreren Stellen spricht.
Aber sei’s drum. Auch wenn er die formalen Aspekte von Hilbigs Büchern vernachlässigt, hat der Biograf ein feines Gespür für die Komposition seines eigenen Buches. So legt er Fäden aus, die er andernorts wieder aufnimmt, oder spielt selbst mit Motiven, die von unterschiedlichen Seiten aus befragt werden. Dazu gehört Hilbigs Liebe zum Meer. Eine Liebe, gegen die sogar seine Alkoholsucht nicht ankonnte und die auch dann noch anhielt, als seine Krebserkrankung schon weit fortgeschritten war. Kurz vor seinem Tod im Sommer 2007 hat Wolfgang Hilbig das Meer noch einmal gesehen. Jenes Meer, das dieser große Dichter in seinen Texten so oft beschworen hat. In einem seiner späten Gedichte wird ihm das Meer zu einem Leuchten, das eine lange Überfahrt antritt – und das jedes Land vergessen macht: „das Meer: das nicht mehr Tag noch Nacht ist sondern Zeit.“
Michael Opitz: Wolfgang Hilbig. Eine Biographie.
S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2017. 663 Seiten, 28 Euro. E-Book 24,99 Euro.
Lange Jahre war er Heizer,
das Schreiben
lief immer nebenher
Der Biograf hat mit Weggefährten
gesprochen, Hilbigs Stasi-Akten
und seinen Nachlass gesichtet
Schlaf, Müdigkeit und Sehnsucht nach dem Meer: Wolfgang Hilbig, 1941 in Meuselwitz geboren, starb im Juni 2007 in Berlin. Sein erster Gedichtband „Abwesenheit“ erschien 1979 bei S. Fischer. 1985 verließ er die DDR, 2002 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Foto: Michael Trippel / laif
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2017Hilbig mit Doppelgänger
Frankfurter Premiere: Michael Opitz stellt seine Biographie vor
Wolfgang Hilbig hatte immer die Zeit gegen sich. Jürgen Hosemann, der das so genau wusste, diesmal auch. In der Ausstellungshalle 1a in der Sachsenhäuser Schulstraße blickte der Lektor des S. Fischer Verlags immer wieder nervös auf die Uhr. Sein Gesprächspartner Michael Opitz konnte einfach zu viel berichten über den Dichter, dessen Biographie er über 600 Seiten verfasst hatte. Und Sonja Vandenrath, Literaturreferentin der Stadt, hatte ihm nur die 70 Minuten zugestanden, die bei der kommunalen Reihe der "Frankfurter Premieren" üblich sind. Bislang hatte der Germanist und Biograph vor allem über seine Recherchen gesprochen und nur eine kurze Passage aus der Einleitung vorgetragen. "Lesen Sie!" rief der Lektor in seiner Zeitnot, "egal was." Das Publikum lachte.
Dabei war das Leben des thüringischen Schriftstellers zwischen Deutschland und Deutschland gar nicht zum Lachen. Das weiß keiner besser als Opitz. Noch bevor er im Nachlass des vor zehn Jahren verstorbenen Dichters gestöbert hatte, war er gemeinsam mit Hosemann nach Meuselwitz zu Hilbigs hochbetagter Mutter gereist. Von ihr wollte er erfahren, wo sich jener Bergwerksstollen befinde, in dem sie einst mit ihrem dreijährigen Sohn vor den alliierten Bombern Zuflucht gesucht hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. "Marianne hat ihren Sohn nicht gekannt", so Hosemann. "Und in den ersten Jahren auch nicht akzeptiert", ergänzte Opitz. Sie habe sein Schreiben abgelehnt, weil es nicht zur Arbeitertradition der Familie passte. Hilbig selbst habe sich seiner Familie "entfremdet" gefühlt.
"Warum schreibt Ihr mir nicht?", hatte schon der junge Hilbig im Alter von elf Jahren 1953 seiner Mutter und seinem cholerischen Großvater aus einem Ferienlager geschrieben. Dieser Brief gilt als sein ältestes schriftliches Zeugnis. Noch musste er auf einem Strohsack nächtigen. Im Jahr darauf bekamen die Kinder schon ein eigenes Bett mit einer wärmenden Decke. Wenige Monate vor seinem Tod erinnerte sich der krebskranke Autor in seinem letzten Gedicht "als sie noch jung waren die winde" an jene ferne Zeit und bedauert die "Winde/die alt geworden sind". Zwischen diesen beiden Zeugnissen seines Schaffens liegen die Jahre der späten Anerkennung, die 1979 begannen, als der S. Fischer Verlag die ersten Gedichte unter dem Titel "Abwesenheit" herausbrachte. Seitdem hatte Hilbig neben Gedichten auch Romane, Essays, Reden und Poetikvorlesungen veröffentlicht.
Der gelernte Bohrwerksdreher, der als Heizer in einer Fabrik zum Schriftsteller reifte, war ein Grenzgänger nicht nur zwischen Ost und West. Opitz hat sich natürlich auch in die neun Bände umfassenden Stasi-Akten über Hilbig vertieft. Der Dichter war der Staatssicherheit aufgefallen, als er in einem Brief die Nationale Volksarmee mit der Wehrmacht verglich. Und dann machte Opitz noch eine Entdeckung, die zu seinem Leidwesen bislang alle Kritiker seiner Biographie kaltgelassen hat: Hilbig hatte einen Doppelgänger, der Anfang der sechziger Jahre ein Loblied auf den Mauerbau in Berlin und andere Errungenschaften der DDR sang. "Das hätte E.T.A. Hoffmann gefreut", sagte der Literaturwissenschaftler: "Ein Doppelgänger, der alle Eigenschaften hatte, die Hilbig fehlten. Eine bessere Ausgabe seiner selbst."
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Premiere: Michael Opitz stellt seine Biographie vor
Wolfgang Hilbig hatte immer die Zeit gegen sich. Jürgen Hosemann, der das so genau wusste, diesmal auch. In der Ausstellungshalle 1a in der Sachsenhäuser Schulstraße blickte der Lektor des S. Fischer Verlags immer wieder nervös auf die Uhr. Sein Gesprächspartner Michael Opitz konnte einfach zu viel berichten über den Dichter, dessen Biographie er über 600 Seiten verfasst hatte. Und Sonja Vandenrath, Literaturreferentin der Stadt, hatte ihm nur die 70 Minuten zugestanden, die bei der kommunalen Reihe der "Frankfurter Premieren" üblich sind. Bislang hatte der Germanist und Biograph vor allem über seine Recherchen gesprochen und nur eine kurze Passage aus der Einleitung vorgetragen. "Lesen Sie!" rief der Lektor in seiner Zeitnot, "egal was." Das Publikum lachte.
Dabei war das Leben des thüringischen Schriftstellers zwischen Deutschland und Deutschland gar nicht zum Lachen. Das weiß keiner besser als Opitz. Noch bevor er im Nachlass des vor zehn Jahren verstorbenen Dichters gestöbert hatte, war er gemeinsam mit Hosemann nach Meuselwitz zu Hilbigs hochbetagter Mutter gereist. Von ihr wollte er erfahren, wo sich jener Bergwerksstollen befinde, in dem sie einst mit ihrem dreijährigen Sohn vor den alliierten Bombern Zuflucht gesucht hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. "Marianne hat ihren Sohn nicht gekannt", so Hosemann. "Und in den ersten Jahren auch nicht akzeptiert", ergänzte Opitz. Sie habe sein Schreiben abgelehnt, weil es nicht zur Arbeitertradition der Familie passte. Hilbig selbst habe sich seiner Familie "entfremdet" gefühlt.
"Warum schreibt Ihr mir nicht?", hatte schon der junge Hilbig im Alter von elf Jahren 1953 seiner Mutter und seinem cholerischen Großvater aus einem Ferienlager geschrieben. Dieser Brief gilt als sein ältestes schriftliches Zeugnis. Noch musste er auf einem Strohsack nächtigen. Im Jahr darauf bekamen die Kinder schon ein eigenes Bett mit einer wärmenden Decke. Wenige Monate vor seinem Tod erinnerte sich der krebskranke Autor in seinem letzten Gedicht "als sie noch jung waren die winde" an jene ferne Zeit und bedauert die "Winde/die alt geworden sind". Zwischen diesen beiden Zeugnissen seines Schaffens liegen die Jahre der späten Anerkennung, die 1979 begannen, als der S. Fischer Verlag die ersten Gedichte unter dem Titel "Abwesenheit" herausbrachte. Seitdem hatte Hilbig neben Gedichten auch Romane, Essays, Reden und Poetikvorlesungen veröffentlicht.
Der gelernte Bohrwerksdreher, der als Heizer in einer Fabrik zum Schriftsteller reifte, war ein Grenzgänger nicht nur zwischen Ost und West. Opitz hat sich natürlich auch in die neun Bände umfassenden Stasi-Akten über Hilbig vertieft. Der Dichter war der Staatssicherheit aufgefallen, als er in einem Brief die Nationale Volksarmee mit der Wehrmacht verglich. Und dann machte Opitz noch eine Entdeckung, die zu seinem Leidwesen bislang alle Kritiker seiner Biographie kaltgelassen hat: Hilbig hatte einen Doppelgänger, der Anfang der sechziger Jahre ein Loblied auf den Mauerbau in Berlin und andere Errungenschaften der DDR sang. "Das hätte E.T.A. Hoffmann gefreut", sagte der Literaturwissenschaftler: "Ein Doppelgänger, der alle Eigenschaften hatte, die Hilbig fehlten. Eine bessere Ausgabe seiner selbst."
CLAUDIA SCHÜLKE
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Dem Literaturwissenschaftler Michael Opitz ist es zu danken, dass man jetzt sehr viel genauer über dieses spannungsgeladene Leben Bescheid wissen darf. Dirk Pilz Frankfurter Rundschau 20171125