Wie kommt es, dass man von Dresden als dem »Elbflorenz« spricht? Und warum wird der Name »Venedig des Nordens« gleich von mehreren Städten - Amsterdam, Brügge, Hamburg, St. Petersburg bis hin zu Stockholm - für sich in Anspruch genommen? Und wo wollte man nicht überall Rom finden? Ob in Konstantinopel, dem sogenannten »Nova Roma« mit seinen sieben Hügeln oder in Moskau, das als »das dritte Rom« gilt? Spannend wird es dann, wenn Städte, die sich auf andere Städte berufen, selbst zu neuen Vorbildern avancieren, wie im Falle von Paris. Ist diese Zitierfähigkeit und -freudigkeit von Städten heute auch noch aktuell? Zu all diesen Fragen nimmt uns der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt in diesem lehr- und aufschlussreichen Band mit. Mit seinem anschaulichen wie prägnanten Schreibstil spürt er den Ursprüngen, Legenden und Vorbildern von Städten nach, von Athen bis Jerusalem. Er lehrt seine Leser Städte lesen wie ein Buch.
WOLFGANG PEHNT (_1931, Kassel), Architekturhistoriker und -kritiker, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an den Universiäten Marburg, München und Frankfurt a. M. Von 1957 bis 1963 war er Lektor im Verlag Gerd Hatje, Stuttgart. 1963 bis 1995 Redakteur und Abteilungsleiter am Deutschlandfunk. 1995 bis 2009 lehrte er Architekturgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Auszeichnungen für Kritik und Theorie erhielt er u. a. vom Verband Deutscher Architekten- und Ingenieurverein, Bund Deutscher Architekten sowie von der Erich-Schelling-Stiftung.
WOLFGANG PEHNT (_1931, Kassel), Architekturhistoriker und -kritiker, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an den Universiäten Marburg, München und Frankfurt a. M. Von 1957 bis 1963 war er Lektor im Verlag Gerd Hatje, Stuttgart. 1963 bis 1995 Redakteur und Abteilungsleiter am Deutschlandfunk. 1995 bis 2009 lehrte er Architekturgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Auszeichnungen für Kritik und Theorie erhielt er u. a. vom Verband Deutscher Architekten- und Ingenieurverein, Bund Deutscher Architekten sowie von der Erich-Schelling-Stiftung.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der hier rezensierende Architekt Robert Kaltenbrunner lernt vom Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt, die Stadt zu lesen, ihre Idee, die sich in Wappen und Münzen, Silhouetten, Portalen, kurz: in Bild und Stein manifestiert. Eigenwillig und profund scheint Kaltenbrunner, wie der Autor sich St. Petersburg, Berlin, Chicago, Moskau, Brügge etc. zuwendet, Zeit und Raum durchquert und Vorbilder, Nachahmer, Rekontextualisierungen ausmacht. Wieso Dresden als Elbflorenz durchgeht, Chicago als Paris, Moskau als Rom, erläutert der Autor laut Rezensent anhand von Planern und Ideen, leider weniger via Zerfall und Scheitern, meint Kaltenbrunner. Herausgekommen ist ein "veritables Fachbuch", das den Legenden der Städte nachgeht, weniger ihren "lebensweltlichen Aspekten", so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2021Sieben Hügel waren ein guter Anfang
Doch der Hamburger Markusplatz blieb ein Projekt: Wolfgang Pehnt zeigt materialreich und eindrucksvoll, wie westliche Städte sich an Vorbildern ausrichteten.
Je höher ihre Zukunftshoffnungen zielten, desto tiefer griffen Städte in den Fundus der Geschichte. Der Überbietungswettbewerb begann mit dem neuen Jerusalem der Bibel, dann folgten das zweite Athen in Alexandria, das zweite Rom in Byzanz, das dritte Rom in Moskau, das Venedig des Nordens in St. Petersburg, Elbflorenz in Dresden bis hin zum Paris by the Lake in Chicago. Stets haben sich westliche Städte auf andere Städte berufen, einander Plätze und Paläste abgeschaut und sowohl Gründungslegenden als auch Planungsentscheidungen übernommen. Diese Ideengeschichte des abendländischen Städtebaus hat der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt in "Städtebau des Erinnerns" jetzt mustergültig vorgeführt.
Ausdrücklich betont der Autor, dass Städte in erster Linie Gebilde sind, die auf materiellen, wirtschaftlichen, strategischen und politischen Grundlagen aufbauen. Dann aber greift er zwölf Prototypen heraus, die über ihren praktischen Nutzen hinaus in ihren baulichen, bildlichen und literarischen Darstellungen so selbstbewusst und überzeugend auftraten, dass andere es ihnen gleichtun wollten.
Gemeinsam war diesen Stadtvorbildern, dass sie meist weibliche Allegorien und Stadtgöttinnen besaßen - von Athene, Roma-Minerva, Venezia, Antverpia, Hammonia bis hin zu Berolina - und über einen gemeinsamen Fundus an Stadtmauern, Grundrissmustern, Brücken, Toren, Foren, Tempeln, Theatern und Thermen verfügten. Pehnt präsentiert aber kein urbanistisches Memory-Spiel, das Faksimiles mit Wiedererkennungseffekt sortiert. Davor schützt ihn die Nachahmungstheorie des Bonner Architekturhistorikers Günter Bandmann, der in der vorneuzeitlichen Baukunst ein grundsätzlich anderes Verständnis von Original und Kopie beschrieb. Demnach reichte die Wiederholung einiger Maßverhältnisse oder Bauglieder, um die gewusste, nicht bloß gesehene Identität der Bedeutung zu sichern. Darum spielt es laut Pehnt keine Rolle, dass etwa das Jerusalem der Apokalypse zwölf Tore hatte, das reale Jerusalem aber nur vier und die Bezugnahmen von Mailand mit sieben und Florenz mit fünfzehn Toren dennoch als gleichwertig galten. Auch die Heiliggrab-Kopien von Bologna bis Paderborn wiesen nur rudimentär die Konstellation von Auferstehungsrotunde und Konstantinsbasilika wie in Jerusalem auf und waren dennoch gültige Bedeutungsträger des Heilsgeschehens. Folglich konnte auch der zerstörte, nur imaginär tradierte Tempel Salomos in zahlreichen Barockklöstern bis hin zum gigantischen Escorial-Palast bei Madrid fortleben.
So sieht Pehnt im Grundriss und den öffentlichen Räumen Athens kaum Planungsvorbilder. Doch die einstige kulturelle Hegemonie des Stadtstaates erzeugte eine "Suggestion der Musterhaftigkeit", welche die Bildungselite von Kaiser Hadrian bis zu den bayerischen und preußischen Königen begeisterte. Sie führte im "Greek Revival" nach 1800 dazu, dass vom "Isar-Athen" in München bis zum "Athen des Nordens" in Edinburgh überall Propyläen- und Parthenon-Nachbauten entstanden. Sogar der römische Kapitolshügel wurde von britischen Frühromantikern mit dem Akropolis-Felsen gleichgesetzt.
Im Gegensatz zu den Wunschbildern Jerusalem und Athen beschreibt Pehnt das antike Rom als greifbare Wirklichkeit, die selbst dann noch maßgebliche Norm war, als die Stadt im Mittelalter weniger Einwohner als Venedig hatte. Anspruch auf die sieben Gründungshügel, die sich selbst in Rom nur schwer ausmachen lassen, erhob nahezu jede ehrgeizige Pilgerstadt.
Spuren Venedigs selbst noch in Washington?
Selbst das Städtewunder Konstantinopel brachte es später auf sieben Hügel mit sieben Hauptmoscheen. Zuvor erlebte das ehemalige Byzantium von 330 an unter oströmischer Herrschaft eine radikale Romanisierung. Mit Hingabe beschreibt Pehnt, wie Konstantin seine Senatoren mit Nachbauten ihrer römischen Paläste an den Bosporus lockte und authentische Obelisken, Quadrigen, Kaiserstandbilder und sogar die kapitolinische Wölfin aus der alten heidnischen in die neue christliche Hauptstadt, als "secunda Roma", herbeischaffen ließ. Ähnlich versuchte Karl der Große in seiner Kaiserpfalz Aachen mit Kirchennachbauten sowie demontierten Kunstwerken und Spolien aus Konstantinopel, Ravenna und Rom die "translatio imperii" zu bewerkstelligen.
Dem Bildgedächtnis der Neuzeit jedoch reichte solche symbolhaft-ideelle Teilhabe am Charisma von Ursprungsorten nicht mehr aus. Es kam, wie Pehnt mit Bandmann erläutert, zu Nachbildungen, die dem Auge unmittelbar einleuchten mussten, so dass die ästhetische Bedeutung die symbolische und historische ersetzte: "Das Gesehenwerden ist der entscheidende Moment im Prozess der Säkularisation." Nun entbrannte der Wettlauf der Stadt-Doubles.
So hielten es die europaweit gefürchteten Raubritter des Seeimperiums Venedig weder mit Rom noch mit der Kirche. 1204 eroberten und beraubten sie auf brutale Weise Konstantinopel, betrieben hochprofitablen Luxus- und Sklavenhandel, perfektionierten hinter der republikanischen Fassade ihren Polizeistaat und entwickelten sich, als der Handel versiegte, zu Europas größtem Fest- und Freudenhaus, das im fünfzehnten Jahrhundert zwölftausend Prostituierte - sechs Prozent der Bevölkerung - zählte.
Pehnts Bewunderung für Venedig und die Kunstblüte in den Adelspalästen und Scuole-Bruderschaften lässt ihn in der weiteren Stadtgeschichte unablässig Venedig-Bezüge entdecken. Bei Amsterdam, Kiel, Stockholm, St. Petersburg und Hamburg liegt das angesichts der Pfahlgründungen und Kanäle nahe, zumal in Hamburg der Architekt Gottfried Semper nach dem Brand 1842 tatsächlich Rathausmarkt und Binnenalster zu einem neuen Markusplatz mit Viktoriensäulen und Dogen-Rathaus umbauen wollte. Aber dass Pehnt auch in Washington, dem "Rom am Potomac", Venedig wiedererkennt und sogar am Bosporus den Geist des Canal Grande spürt, erscheint etwas überzogen.
Und schließlich übernimmt Paris das Kommando
Überzeugender zeigt der Autor, wie Paris nach 1800 die Führungsrolle Roms als weltweites urbanistisches Vorbild übernahm. Doch als städtebauliche Landmarken dienten nun keine Sakralarchitekturen mehr, sondern Staats- und Kulturbauten. Auch die Architektenausbildung und Theorieproduktion verlagerte sich von Italien nach Frankreich. Vollends neu war die Idee, den innerstädtischen Flusslauf nicht mehr als Kloake zu verstecken, sondern alle Sichtbeziehungen über die Seine zu führen und sie mit prachtvollen Kaianlagen und Uferbebauungen zu schmücken, was andere Städte oft kopiert, aber nie erreicht haben.
Der Pariser Stadtverschönerung eiferten die Erbauer des 1871 abgebrannten neuen Chicago nach und formten ihr Stadtzentrum am Michigan-See vom Grundriss bis zum Straßenmobiliar nach den Symmetrien der Beaux-Arts-Schule. Berlin hingegen brauchte selbst mit dem Aufstieg Preußens zur Großmacht die Berufung auf Rom. So spiegelt der Fächergrundriss der Friedrichstadt den Dreistrahl der Piazza del Popolo, die Fassade des Stadtschlosses altrömische Staatsarchitektur und die Hedwigskathedrale das Pantheon.
Auch wenn Wien, London und Moskau im Buch leider fehlen, bleibt ein Vorzug dieser urbanistischen Blütenlese, dass der Autor nicht allein über reiche Material- und Quellenkenntnis verfügt, sondern nur über Städte schreibt, die er selbst gesehen hat. Sein Buch ist nicht bloß für ein Fachpublikum interessant, und würde der Verlag in kommenden Auflagen noch versuppte Bilder und Karten reparieren, würde dieses Städtelob auch optisch überzeugen.
MICHAEL MÖNNINGER
Wolfgang Pehnt:
"Städtebau des Erinnerns". Mythen und Zitate
westlicher Städte.
Hatje Cantz Verlag,
Berlin 2021. 240 S., Abb., geb., 44,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doch der Hamburger Markusplatz blieb ein Projekt: Wolfgang Pehnt zeigt materialreich und eindrucksvoll, wie westliche Städte sich an Vorbildern ausrichteten.
Je höher ihre Zukunftshoffnungen zielten, desto tiefer griffen Städte in den Fundus der Geschichte. Der Überbietungswettbewerb begann mit dem neuen Jerusalem der Bibel, dann folgten das zweite Athen in Alexandria, das zweite Rom in Byzanz, das dritte Rom in Moskau, das Venedig des Nordens in St. Petersburg, Elbflorenz in Dresden bis hin zum Paris by the Lake in Chicago. Stets haben sich westliche Städte auf andere Städte berufen, einander Plätze und Paläste abgeschaut und sowohl Gründungslegenden als auch Planungsentscheidungen übernommen. Diese Ideengeschichte des abendländischen Städtebaus hat der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt in "Städtebau des Erinnerns" jetzt mustergültig vorgeführt.
Ausdrücklich betont der Autor, dass Städte in erster Linie Gebilde sind, die auf materiellen, wirtschaftlichen, strategischen und politischen Grundlagen aufbauen. Dann aber greift er zwölf Prototypen heraus, die über ihren praktischen Nutzen hinaus in ihren baulichen, bildlichen und literarischen Darstellungen so selbstbewusst und überzeugend auftraten, dass andere es ihnen gleichtun wollten.
Gemeinsam war diesen Stadtvorbildern, dass sie meist weibliche Allegorien und Stadtgöttinnen besaßen - von Athene, Roma-Minerva, Venezia, Antverpia, Hammonia bis hin zu Berolina - und über einen gemeinsamen Fundus an Stadtmauern, Grundrissmustern, Brücken, Toren, Foren, Tempeln, Theatern und Thermen verfügten. Pehnt präsentiert aber kein urbanistisches Memory-Spiel, das Faksimiles mit Wiedererkennungseffekt sortiert. Davor schützt ihn die Nachahmungstheorie des Bonner Architekturhistorikers Günter Bandmann, der in der vorneuzeitlichen Baukunst ein grundsätzlich anderes Verständnis von Original und Kopie beschrieb. Demnach reichte die Wiederholung einiger Maßverhältnisse oder Bauglieder, um die gewusste, nicht bloß gesehene Identität der Bedeutung zu sichern. Darum spielt es laut Pehnt keine Rolle, dass etwa das Jerusalem der Apokalypse zwölf Tore hatte, das reale Jerusalem aber nur vier und die Bezugnahmen von Mailand mit sieben und Florenz mit fünfzehn Toren dennoch als gleichwertig galten. Auch die Heiliggrab-Kopien von Bologna bis Paderborn wiesen nur rudimentär die Konstellation von Auferstehungsrotunde und Konstantinsbasilika wie in Jerusalem auf und waren dennoch gültige Bedeutungsträger des Heilsgeschehens. Folglich konnte auch der zerstörte, nur imaginär tradierte Tempel Salomos in zahlreichen Barockklöstern bis hin zum gigantischen Escorial-Palast bei Madrid fortleben.
So sieht Pehnt im Grundriss und den öffentlichen Räumen Athens kaum Planungsvorbilder. Doch die einstige kulturelle Hegemonie des Stadtstaates erzeugte eine "Suggestion der Musterhaftigkeit", welche die Bildungselite von Kaiser Hadrian bis zu den bayerischen und preußischen Königen begeisterte. Sie führte im "Greek Revival" nach 1800 dazu, dass vom "Isar-Athen" in München bis zum "Athen des Nordens" in Edinburgh überall Propyläen- und Parthenon-Nachbauten entstanden. Sogar der römische Kapitolshügel wurde von britischen Frühromantikern mit dem Akropolis-Felsen gleichgesetzt.
Im Gegensatz zu den Wunschbildern Jerusalem und Athen beschreibt Pehnt das antike Rom als greifbare Wirklichkeit, die selbst dann noch maßgebliche Norm war, als die Stadt im Mittelalter weniger Einwohner als Venedig hatte. Anspruch auf die sieben Gründungshügel, die sich selbst in Rom nur schwer ausmachen lassen, erhob nahezu jede ehrgeizige Pilgerstadt.
Spuren Venedigs selbst noch in Washington?
Selbst das Städtewunder Konstantinopel brachte es später auf sieben Hügel mit sieben Hauptmoscheen. Zuvor erlebte das ehemalige Byzantium von 330 an unter oströmischer Herrschaft eine radikale Romanisierung. Mit Hingabe beschreibt Pehnt, wie Konstantin seine Senatoren mit Nachbauten ihrer römischen Paläste an den Bosporus lockte und authentische Obelisken, Quadrigen, Kaiserstandbilder und sogar die kapitolinische Wölfin aus der alten heidnischen in die neue christliche Hauptstadt, als "secunda Roma", herbeischaffen ließ. Ähnlich versuchte Karl der Große in seiner Kaiserpfalz Aachen mit Kirchennachbauten sowie demontierten Kunstwerken und Spolien aus Konstantinopel, Ravenna und Rom die "translatio imperii" zu bewerkstelligen.
Dem Bildgedächtnis der Neuzeit jedoch reichte solche symbolhaft-ideelle Teilhabe am Charisma von Ursprungsorten nicht mehr aus. Es kam, wie Pehnt mit Bandmann erläutert, zu Nachbildungen, die dem Auge unmittelbar einleuchten mussten, so dass die ästhetische Bedeutung die symbolische und historische ersetzte: "Das Gesehenwerden ist der entscheidende Moment im Prozess der Säkularisation." Nun entbrannte der Wettlauf der Stadt-Doubles.
So hielten es die europaweit gefürchteten Raubritter des Seeimperiums Venedig weder mit Rom noch mit der Kirche. 1204 eroberten und beraubten sie auf brutale Weise Konstantinopel, betrieben hochprofitablen Luxus- und Sklavenhandel, perfektionierten hinter der republikanischen Fassade ihren Polizeistaat und entwickelten sich, als der Handel versiegte, zu Europas größtem Fest- und Freudenhaus, das im fünfzehnten Jahrhundert zwölftausend Prostituierte - sechs Prozent der Bevölkerung - zählte.
Pehnts Bewunderung für Venedig und die Kunstblüte in den Adelspalästen und Scuole-Bruderschaften lässt ihn in der weiteren Stadtgeschichte unablässig Venedig-Bezüge entdecken. Bei Amsterdam, Kiel, Stockholm, St. Petersburg und Hamburg liegt das angesichts der Pfahlgründungen und Kanäle nahe, zumal in Hamburg der Architekt Gottfried Semper nach dem Brand 1842 tatsächlich Rathausmarkt und Binnenalster zu einem neuen Markusplatz mit Viktoriensäulen und Dogen-Rathaus umbauen wollte. Aber dass Pehnt auch in Washington, dem "Rom am Potomac", Venedig wiedererkennt und sogar am Bosporus den Geist des Canal Grande spürt, erscheint etwas überzogen.
Und schließlich übernimmt Paris das Kommando
Überzeugender zeigt der Autor, wie Paris nach 1800 die Führungsrolle Roms als weltweites urbanistisches Vorbild übernahm. Doch als städtebauliche Landmarken dienten nun keine Sakralarchitekturen mehr, sondern Staats- und Kulturbauten. Auch die Architektenausbildung und Theorieproduktion verlagerte sich von Italien nach Frankreich. Vollends neu war die Idee, den innerstädtischen Flusslauf nicht mehr als Kloake zu verstecken, sondern alle Sichtbeziehungen über die Seine zu führen und sie mit prachtvollen Kaianlagen und Uferbebauungen zu schmücken, was andere Städte oft kopiert, aber nie erreicht haben.
Der Pariser Stadtverschönerung eiferten die Erbauer des 1871 abgebrannten neuen Chicago nach und formten ihr Stadtzentrum am Michigan-See vom Grundriss bis zum Straßenmobiliar nach den Symmetrien der Beaux-Arts-Schule. Berlin hingegen brauchte selbst mit dem Aufstieg Preußens zur Großmacht die Berufung auf Rom. So spiegelt der Fächergrundriss der Friedrichstadt den Dreistrahl der Piazza del Popolo, die Fassade des Stadtschlosses altrömische Staatsarchitektur und die Hedwigskathedrale das Pantheon.
Auch wenn Wien, London und Moskau im Buch leider fehlen, bleibt ein Vorzug dieser urbanistischen Blütenlese, dass der Autor nicht allein über reiche Material- und Quellenkenntnis verfügt, sondern nur über Städte schreibt, die er selbst gesehen hat. Sein Buch ist nicht bloß für ein Fachpublikum interessant, und würde der Verlag in kommenden Auflagen noch versuppte Bilder und Karten reparieren, würde dieses Städtelob auch optisch überzeugen.
MICHAEL MÖNNINGER
Wolfgang Pehnt:
"Städtebau des Erinnerns". Mythen und Zitate
westlicher Städte.
Hatje Cantz Verlag,
Berlin 2021. 240 S., Abb., geb., 44,- [Euro].
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