Von Ovid bis Freud, von Canetti bis Deleuze/Guattari - Achim Geisenhanslüke setzt sich mit den seit der Antike überlieferten Figuren der Wolfsmänner auseinander und entwickelt eine Theoriegeschichte dieser sagenumwobenen Mischwesen. Die Analyse wird durch den ständigen Einbezug literarischer Texte u.a. von Schiller, Goethe, Stifter, Storm, Canetti, Hesse, London und Kipling sowie filmischer Überlieferungen ergänzt.Der Band ist für Literaturwissenschaftler ebenso interessant wie für Medien- und Filmwissenschaftler, darüber hinaus aber auch für ein breiteres Publikum lesenswert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2018Der unheimliche
Spiegel
Achim Geisenhanslüke zeigt, wie
nützlich der böse Wolf ist
Zurück in Europas Mitte, hat es der Wolf mittlerweile sogar in den Vertrag der großen Koalition geschafft. Die Sicherheit des Menschen habe im Umgang mit dem Wolf oberste Priorität, heißt es dort, auch eine eventuelle „Bestandsreduktion“ sei herbeizuführen. Da ist sie wieder, die alte Feindschaft, die hierzulande vor mehr als hundert Jahren zur Ausrottung des Wolfes geführt hatte. Einen Kenner wie Achim Geisenhanslüke wird der ewige Zwist zwischen Mensch und Wolf kaum wundern. Der Wolf passt nach landläufiger Meinung nicht in unsere Zivilisation, und nicht nur deshalb, weil er Schafe reißt.
Dass die Bestie, als die er gewöhnlich gilt, ohnehin nie so richtig verschwunden gewesen sei, ist hingegen die Fährte, auf die Geisenhanslüke die Leser seines Büchleins „Wolfsmänner“ ansetzt. Wortwörtlich gemeint ist das nicht, der Verfasser ist weder Biologe noch Landschaftsökologe, sondern Literaturwissenschaftler. Er stellt den unterschiedlichen Repräsentationen des Wolfes in verschiedenen abendländischen Texten nach. Meist sind es literarische Texte, aber auch philosophische, kulturkritische, psychoanalytische.
Mag der nicht nur Schafe und Ziegen reißende, sondern auch den Menschen unablässig bedrohende Wolf ein Phantom sein, er hat sich als kulturelles Vorurteil verfestigt. Geisenhanslüke geht auch Filmen nach, die das Bild vom bösen Wolf entworfen haben. An erster Stelle stehen aber Märchen und Fabeln, neben wenig bekannten Erzählungen von Schiller, Brentano, Storm und Stifter, ein erhellender Seitenblick fällt auf Goethes „Götz von Berlichingen“.
Zwar wurden die realen Wölfe schon im 18. und 19. Jahrhundert zu „Randfiguren“, gleichwohl übernahmen sie „eine bedeutsame Funktion.“ Sie rückten „in die Nähe des Pathologischen, Anormalen“, als Repräsentanten all dessen, was verboten, kriminell oder soziales Außenseitertum war. Der Wolf symbolisierte, was die Zivilisation des Menschen ausschloss, aber nicht verschwand, sondern in unterschiedlichsten symbolischen Gestalten wiederkehrte.
Der Wolf ist das Andere des Menschen, zugleich aber auch sein Bruder. Er ist, wie Geisenhanslüke resümiert, „der Mensch als ein Wesen, das sich in dem spiegelt, was er aus seinem Bewusstsein verbannt hat.“ Eben darin, in diesem spiegelbildlichen Nahverhältnis liegt der Grund für die Existenz solch unheimlicher Mischwesen wie der mythologischen Werwölfe, die im Horrorfilm bis heute ihr blutiges Unwesen treiben dürfen.
Auch wenn Geisenhanslüke weitere Wolfsfiguren, etwa Hesses „Steppenwolf“ oder den von Wölfen aufgezogenen Mogli in Kiplings „Dschungelbuch“ erwähnt, belässt er es nicht bei einer literarischen Motivgeschichte. Es geht ihm um eine anthropologisch fundierte Kulturtheorie. Immer konstituiert sich politische Gemeinschaft durch Ausschluss des Wilden, Nackten, Ungezügelten, Gefräßigen, Triebhaften, und zugleich existiert all dies als inneres Wolfsgesicht fort. An den Werwölfen, den hybriden Schwellenwesen zwischen Mensch und Tier, Recht und Natur, Natur und Kultur, zeigt Geisenhanslüke diesen zwiespältigen Prozess auf.
Er will die anthropologische Grundstruktur von Macht freilegen, die kulturgeschichtlich tief verwurzelten Phantasmen, auf deren Negation sie sich stützt. Dazu zählen Kannibalismus wie auch Nekrophilie, die ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte stehen und in langlebigen Mythen bis heute aufbewahrt sind. Was am Menschen einst tierisch war, kehrt im kulturellen Bild vom monströsen Wolf wieder. Mit Elias Canetti und dessen Anthropologie stellt sich Geisenhanslüke gegen Sigmund Freuds berühmte psychoanalytische Kur des „Wolfsmannes“.
Weitere Gewährsleute sind der italienische Philosoph Giorgio Agamben, dem er die Denkfigur des Wolfs als ausgestoßenes Schwellenwesen entlehnt. So weit wie die beiden Franzosen Gilles Deleuze und Félix Guattari möchte der Verfasser hingegen nicht gehen. Dem Wolf mehr Raum zu geben, bedeute nicht, selbst zum Wolf werden zu müssen, das schon reichlich in die Jahre gekommene nietzscheanische Spiel mit dem Feuer des Antizivilisatorischen mag Geisenhanslüke nicht treiben. Ihm genügt die Balance „zwischen Angst und Faszination“, um letztlich ganz aufklärerisch ein kulturelles Phantasma zu dekonstruieren, ohne „dessen suggestiver Kraft zu verfallen.“ Dem Literaturwissenschaftler, der an der Frankfurter Goethe-Universität lehrt, gelingt das über weite Strecken überzeugend, in jedem Fall anregend.
Den Wolf zum geheimen Zentrum einer anthropologischen Kulturtheorie zu erklären, das ist gewitzt und originell und darüber hinaus plausibel. Wenn es hier und da etwas kryptisch zugeht, dann liegt das an dem geringen Umfang des Büchleins, das mehr Essay als systematische Untersuchung ist. Manches bleibt disparat und wird nur angerissen. Kürze ist gut. Aber dieses Buch hätte gerne ausführlicher sein dürfen.
THOMAS MEDICUS
Achim Geisenhanslüke: Wolfsmänner. Zur Geschichte einer schwierigen Figur. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. 118 S., 14,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Spiegel
Achim Geisenhanslüke zeigt, wie
nützlich der böse Wolf ist
Zurück in Europas Mitte, hat es der Wolf mittlerweile sogar in den Vertrag der großen Koalition geschafft. Die Sicherheit des Menschen habe im Umgang mit dem Wolf oberste Priorität, heißt es dort, auch eine eventuelle „Bestandsreduktion“ sei herbeizuführen. Da ist sie wieder, die alte Feindschaft, die hierzulande vor mehr als hundert Jahren zur Ausrottung des Wolfes geführt hatte. Einen Kenner wie Achim Geisenhanslüke wird der ewige Zwist zwischen Mensch und Wolf kaum wundern. Der Wolf passt nach landläufiger Meinung nicht in unsere Zivilisation, und nicht nur deshalb, weil er Schafe reißt.
Dass die Bestie, als die er gewöhnlich gilt, ohnehin nie so richtig verschwunden gewesen sei, ist hingegen die Fährte, auf die Geisenhanslüke die Leser seines Büchleins „Wolfsmänner“ ansetzt. Wortwörtlich gemeint ist das nicht, der Verfasser ist weder Biologe noch Landschaftsökologe, sondern Literaturwissenschaftler. Er stellt den unterschiedlichen Repräsentationen des Wolfes in verschiedenen abendländischen Texten nach. Meist sind es literarische Texte, aber auch philosophische, kulturkritische, psychoanalytische.
Mag der nicht nur Schafe und Ziegen reißende, sondern auch den Menschen unablässig bedrohende Wolf ein Phantom sein, er hat sich als kulturelles Vorurteil verfestigt. Geisenhanslüke geht auch Filmen nach, die das Bild vom bösen Wolf entworfen haben. An erster Stelle stehen aber Märchen und Fabeln, neben wenig bekannten Erzählungen von Schiller, Brentano, Storm und Stifter, ein erhellender Seitenblick fällt auf Goethes „Götz von Berlichingen“.
Zwar wurden die realen Wölfe schon im 18. und 19. Jahrhundert zu „Randfiguren“, gleichwohl übernahmen sie „eine bedeutsame Funktion.“ Sie rückten „in die Nähe des Pathologischen, Anormalen“, als Repräsentanten all dessen, was verboten, kriminell oder soziales Außenseitertum war. Der Wolf symbolisierte, was die Zivilisation des Menschen ausschloss, aber nicht verschwand, sondern in unterschiedlichsten symbolischen Gestalten wiederkehrte.
Der Wolf ist das Andere des Menschen, zugleich aber auch sein Bruder. Er ist, wie Geisenhanslüke resümiert, „der Mensch als ein Wesen, das sich in dem spiegelt, was er aus seinem Bewusstsein verbannt hat.“ Eben darin, in diesem spiegelbildlichen Nahverhältnis liegt der Grund für die Existenz solch unheimlicher Mischwesen wie der mythologischen Werwölfe, die im Horrorfilm bis heute ihr blutiges Unwesen treiben dürfen.
Auch wenn Geisenhanslüke weitere Wolfsfiguren, etwa Hesses „Steppenwolf“ oder den von Wölfen aufgezogenen Mogli in Kiplings „Dschungelbuch“ erwähnt, belässt er es nicht bei einer literarischen Motivgeschichte. Es geht ihm um eine anthropologisch fundierte Kulturtheorie. Immer konstituiert sich politische Gemeinschaft durch Ausschluss des Wilden, Nackten, Ungezügelten, Gefräßigen, Triebhaften, und zugleich existiert all dies als inneres Wolfsgesicht fort. An den Werwölfen, den hybriden Schwellenwesen zwischen Mensch und Tier, Recht und Natur, Natur und Kultur, zeigt Geisenhanslüke diesen zwiespältigen Prozess auf.
Er will die anthropologische Grundstruktur von Macht freilegen, die kulturgeschichtlich tief verwurzelten Phantasmen, auf deren Negation sie sich stützt. Dazu zählen Kannibalismus wie auch Nekrophilie, die ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte stehen und in langlebigen Mythen bis heute aufbewahrt sind. Was am Menschen einst tierisch war, kehrt im kulturellen Bild vom monströsen Wolf wieder. Mit Elias Canetti und dessen Anthropologie stellt sich Geisenhanslüke gegen Sigmund Freuds berühmte psychoanalytische Kur des „Wolfsmannes“.
Weitere Gewährsleute sind der italienische Philosoph Giorgio Agamben, dem er die Denkfigur des Wolfs als ausgestoßenes Schwellenwesen entlehnt. So weit wie die beiden Franzosen Gilles Deleuze und Félix Guattari möchte der Verfasser hingegen nicht gehen. Dem Wolf mehr Raum zu geben, bedeute nicht, selbst zum Wolf werden zu müssen, das schon reichlich in die Jahre gekommene nietzscheanische Spiel mit dem Feuer des Antizivilisatorischen mag Geisenhanslüke nicht treiben. Ihm genügt die Balance „zwischen Angst und Faszination“, um letztlich ganz aufklärerisch ein kulturelles Phantasma zu dekonstruieren, ohne „dessen suggestiver Kraft zu verfallen.“ Dem Literaturwissenschaftler, der an der Frankfurter Goethe-Universität lehrt, gelingt das über weite Strecken überzeugend, in jedem Fall anregend.
Den Wolf zum geheimen Zentrum einer anthropologischen Kulturtheorie zu erklären, das ist gewitzt und originell und darüber hinaus plausibel. Wenn es hier und da etwas kryptisch zugeht, dann liegt das an dem geringen Umfang des Büchleins, das mehr Essay als systematische Untersuchung ist. Manches bleibt disparat und wird nur angerissen. Kürze ist gut. Aber dieses Buch hätte gerne ausführlicher sein dürfen.
THOMAS MEDICUS
Achim Geisenhanslüke: Wolfsmänner. Zur Geschichte einer schwierigen Figur. Transcript Verlag, Bielefeld 2018. 118 S., 14,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thomas Medicus hätte sich ein dickeres Buch gewünscht von Achim Geisenhanslüke, der den Wolf zum Schlüsselelement seiner Kulturtheorie macht, wie Medicus erklärt. Laut Rezensent hätte das dem Leser der Essayform geschuldete kryptische Momente erspart. Darüber hinaus scheint ihm die Spurensuche des Literaturwissenschaftlers in literarischen, philosophischen, kulturkritischen und psychoanalytischen Texten spannend genug zu sein für eine ausführlichere Behandlung. Repräsentationen des Wolfes entdeckt der Autor laut Medicus bei Storm und Stifter, Schiller und Goethe sowie in Filmen. Über kulturtheoretische Überlegungen zum Ausschluss des Anderen kommt der Autor zu einer "anthropologischen Grundstruktur von Macht" und zu einer aufklärerischen Dekonstruktion eines "kulturellen Phantasmas", schließt Medicus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die kleine Studie ist kurzweilig geschrieben und ein gelungenes Beispiel für eine interpretative Haltung, die im Einklang mit Ideen der Psychoanalyse steht.« Benedikt Salfeld, Psyche, 73 (2019) »Lesenswert ist Geisenhanslükes Studie vor allem, weil sie einen neuen Blick auf bekannte Autoren und Texte eröffnet, die man nicht zwingend mit Wölfen in Verbindung gebracht hätte.« Christian Palm, Tierstudien, 14 (2018) »Den Wolf zum geheimen Zentrum einer anthropologischen Kulturtheorie zu erklären, das ist gewitzt und originell und darüber hinaus plausibel.« Thomas Medicus, Süddeutsche Zeitung, 02.09.2018 Besprochen in: http://www.scienzz.de, 06.06.2018, Josef Tutsch Quarber Merkur, 119 (2019), Franz Rottensteiner Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 115/1 (2019), Meret Fehlmann