Der Neubeginn, neu gesehen: ein Panorama der Nachkriegszeit, von der Stunde Null bis zum Wirtschaftswunder
Schönheit und Schrecken in Schutt und Staub: Das Jahrzehnt vom Kriegsende bis zum Wirtschaftswunder bietet Bilder, die man so noch nie gesehen hatte. Kein Wunder, dass Kameras auf dem Schwarzmarkt so hoch gehandelt wurden. Bei seiner Recherche zu dem Buch «Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 -1955», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, stieß Harald Jähner in den Archiven auf einen wahren Schatz von Fotografien. In ihrer visuellen Kraft bilden sie ein Panorama der Zeit, in der Entsetzen und Lebensfreude eng beieinanderliegen: die Trümmerfrau als Ikone des Wiederaufbaus, Bürger beim Plündern und Städter beim Ackerbau, Tanz in Trümmern, Karneval in Ruinen. Und man sieht regelrecht, wie sich Ost und West auseinanderleben. In dem hier vorliegenden Band versammelt Jähner erstmals viele dieser Bilder und gibt ihnen ihre Geschichten zurück, erzählt sie neu. Die Mentalität und der Alltag der Zeit werden dabei auf besondere Weise erfahrbar:
In diesen Jahren wurden die Deutschen, was sie heute sind.
Schönheit und Schrecken in Schutt und Staub: Das Jahrzehnt vom Kriegsende bis zum Wirtschaftswunder bietet Bilder, die man so noch nie gesehen hatte. Kein Wunder, dass Kameras auf dem Schwarzmarkt so hoch gehandelt wurden. Bei seiner Recherche zu dem Buch «Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 -1955», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, stieß Harald Jähner in den Archiven auf einen wahren Schatz von Fotografien. In ihrer visuellen Kraft bilden sie ein Panorama der Zeit, in der Entsetzen und Lebensfreude eng beieinanderliegen: die Trümmerfrau als Ikone des Wiederaufbaus, Bürger beim Plündern und Städter beim Ackerbau, Tanz in Trümmern, Karneval in Ruinen. Und man sieht regelrecht, wie sich Ost und West auseinanderleben. In dem hier vorliegenden Band versammelt Jähner erstmals viele dieser Bilder und gibt ihnen ihre Geschichten zurück, erzählt sie neu. Die Mentalität und der Alltag der Zeit werden dabei auf besondere Weise erfahrbar:
In diesen Jahren wurden die Deutschen, was sie heute sind.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Harry Nutt freut sich, dass zu Harald Jähners Sachbuch über die Nachkriegszeit nun auch ein Bildband erschienen ist. In seinem Buch zeichnete der ehemalige Feuilletonchef der Berliner Zeitung ein Bild einer Nachkriegszeit, in der nicht nur Not herrschte, sondern auch Lebensmut und Vergnügen existierte, rekapituliert der Rezensent, und dies werde nun gelungen bebildert. So wird ihm beispielsweise deutlich, dass die Entstehung des "Typus Trümmerfrau" auch wesentlich mit seiner fotografischen Inszenierung zusammengehangen habe. Ein Band voller "eindrucksvoller" Illustrationen, der einem eindimensionalen Geschichtsverständnis entgegenwirkt, so Nutt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wer wissen möchte, wie sich der Neubeginn vielleicht angefühlt haben mag, der sollte unbedingt «Wolfszeit» lesen und anschauen ... Sehenswert und bewegend zugleich. Harald Jähner Märkische Oderzeitung 20201129
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019Im Land der emsigen Leichen
Die Nachgeborenen profitieren von der Gnade der frühen Verdrängung: Harald Jähner entwirft ein Panorama des deutschen Nachkriegsjahrzehnts.
Von Hannes Hintermeier
Stunde Null, Niemandszeit, Wolfszeit - was sich nach Kriegsende in Deutschland abspielte, ist mit vielen Schlagworten belegt und von der zeitgeschichtlichen Forschung minutiös untersucht worden. Vierzig Millionen Entwurzelte, die kreuz und quer durchs Land wollen oder müssen, fünfhundert Millionen Kubikmeter Schutt, eine Aufräumaufgabe für dreißig Jahre. Abermillionen von Weltkriegstoten, weitere Millionen in den Gefangenenlagern der Alliierten oder auf der Flucht.
Heute leben noch viele Zeitzeugen, noch ist es erst die Spanne eines Menschenlebens her. Harald Jähner, früherer Feuilleton-Chef der "Berliner Zeitung", ist selbst ein Nachgeborener, mit Jahrgang 1953 knapp am Achtundsechziger der ersten Stunde vorbeigeschrammt. Das Buch basiert auf einer Vielzahl von Lektürefunden, nicht auf der Erschließung neuer Quellen. Jähner hat ein clever komponiertes, gut geschriebenes Panorama der ersten zehn Nachkriegsjahre entworfen - und damit ein Buch vorgelegt, das ein Fenster zu einer Zeit öffnet, die sehr viel mehr mit uns Heutigen zu tun hat, als wir uns es vermutlich bewusst machen.
Was war nur mit diesen Deutschen los, lammfromm boten sie sich den Siegern als willige Aufräumer an, keineswegs als die bis zum Tode kämpfenden Nazi-Bestien, auf die sich vor allem die Amerikaner eingestellt hatten. Stattdessen: alle Opfer des Hitler-Regimes, als die sich viele nur fühlen konnten, weil sich in den letzten Kriegsmonaten der Terror endgültig gegen die Reste der Zivilbevölkerung richtete. Dass diese vorher mehrheitlich überzeugt mitgemacht hatte, war ihr entfallen. Anstand und Ordnung, dafür glaubten viele Deutsche immer noch hauptsächlich in der Welt wahrgenommen zu werden.
Schon 1947 fragte sich eine Autorin namens Erika Neuhäußer ernsthaft in der Zeitschrift "Der Standpunkt", warum Deutschland "der Prügelknabe" der Welt sei? War da was gewesen? War das so unvorstellbar, dass man nicht davon sprechen konnte? Jähner hat Sympathie für diese These. Erst die Zurückweisung der individuellen Schuld in Verbindung mit dem Überbordwerfen der Mentalität, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatte, habe den Boden für einen Neuanfang bereitet. Wie sich der zutrug, zeigt der Autor in zehn Kapiteln, die die ganze Bandbreite menschlicher Orientierungslosigkeit und seelischer Zerrüttung offenbaren.
Wer meint, heute in komplizierten Zeiten zu leben, liest hier, welche Komplexitätsgrade damals zu bewältigen waren. Jähner wählt ein Verfahren, das sich zunächst am Einzelschicksal abarbeitet, um dann das ganze Gemälde auszumalen. Das trägt zur Lesbarkeit erheblich bei, außerdem verfügt der Autor über eine bildkräftige Sprache, die nur ganz selten übers Ziel hinausschießt. Dass einer seiner Helden, der Schriftsteller Alfred Döblin, mit einer Bahre zum Zug gebracht wird, verwundert - ein Toter auf Zugfahrt?
Ordnung ist das halbe Leben, das gilt den Deutschen auch nach dem verlorenen Krieg als Maxime. Mit Fleiß und Akribie wurden wiederverwendbare Ziegel gestapelt, Mäntel und Büstenhalter eingesammelt, Lebensmittel rationiert, Wohnungen beschlagnahmt und umverteilt. Wenn man einem 1600-Seelen-Dorf tausend Zuzügler aufs Auge drückte, konnte das freilich nicht gut ausgehen. Überhaupt hätte man einen wie den Philosophen Karl Jaspers, der aus der Mode gekommen ist, wieder nötig, der schon 1946 befand, man müsse "deutsches Leben unter den Bedingungen der Wahrheit" gewinnen: "Das dogmatische Behaupten, das Anbrüllen, das trotzige Empörtsein, die Ehre, die bei jeder Gelegenheit gekränkt die Unterhaltung abbricht, all das darf es nicht mehr geben."
Aber all das gab es, und zwar in einer kaum einzudämmenden Heftigkeit. Jähner schildert, wie die sogenannte Volksgemeinschaft implodierte. Im Kampf gegen Flüchtlinge, Vertriebene, ehemalige Zwangsarbeiter, die noch eine Rechnung offenhatten, Displaced Persons, jüdische Rückkehrer aus dem Exil war jeder sich der Nächste, und der Wolf wurde zum Leittier des Zeitgefühls dieser Jahre. Die Region gewann wieder die Oberhand, man war Rheinländer, Westfale, Berliner, Franke oder Schwabe, auf keinen Fall wollte man mit "Deutschböhmen, Banater Schwaben, Schlesiern, Pommern und Bessarabiendeutschen etwas zu tun haben - alles ,Polacken'". Dabei hätten diese, so Jähner, das "Ferment der Entprovinzialisierung" mitgebracht - etwa katholische Sudetendeutsche, die den schwäbischen Pietisten lebenslustige Offenheit vorgelebt hätten; oder das rückständige Agrarland Bayern auf Vordermann gebracht hätten. Das ist ein wenig optimistisch gepinselt, damals fehlte nicht mehr viel zum Bürgerkrieg, das verschweigt auch Jähner nicht. Und Spuren dieses innerdeutschen Rassismus existieren bis heute.
Das Buch konzentriert sich auf Westdeutschland und auf Berlin, dabei tendenziell eher auf die Lage in den Städten als auf dem flachen Land, es erzählt von Kriegerwitwen, Heimkehrern, Versehrten und den Schwierigkeiten, Männer und Frauen wieder zusammenzubringen. Das "Land in Frauenhand" war nämlich auch ohne Männer gut organisiert gewesen; über die Frage, warum die Frauen die Macht innerhalb eines Jahrzehnts vielfach wieder abgaben, hätte man gern mehr gelesen. Erzählt wird von einer Gesellschaft, die ein "Halbräuberleben" führen musste, die stahl, plünderte, hamsterte, "fringste" und "trophäierte". Um Nahrung, Kohle, Kleidung zu ergattern. Den Schwarzmarkt deutet Jähner als Schule der Nation.
Weitere Kapitel handeln davon, wie der Sex nach Deutschland kam, etwa durch den Versandhandel Beate Uhses; von der gespensterhaften Geschichte Wolfsburgs, vom intellektuellen Neubeginn und seinen Klippen, von Grabenkämpfen in Malerei, Architektur, Design. So habe der Nierentisch zur "geistigen Gesundung" beigetragen. Dass es damit nicht so weit her war, zeigte Henri Nannens Attacke ("Hinaus aus Deutschland mit dem Schuft!") gegen den Autor Hans Habe, der sich beinahe wortgleich einer Schlagzeile bediente, mit der Karl Kraus Habes Vater, den korrupten Zeitungsverleger Imre Békessy, aus Wien zu vertreiben unternahm. Nannen offenbarte, dass das braune Gedankengut doch nicht so tot war.
Dass es für Deutschland gut ausging, macht Jähner - lange vor dem Grundgesetz - am Lastenausgleichsgesetz und an der Währungsreform fest, vor allem Letztere habe den "Zauber der Chancengleichheit" gebracht. Und die kollektive Verdrängung der Schuld habe zumindest für die Nachgeborenen etwas Gutes gehabt und sei deshalb als Leistung zu würdigen. Psychische Folgen dieser intergenerationellen Übertragung sind bis heute wirkmächtig, denn das Abrutschen ins "Paradies des Mittelmaßes", als das sich Deutschland in den Folgejahren des Wirtschaftswunders gab, bedeutet nicht, dass seelische Kriegsschäden heute aufgeräumt seien. Dass sich das Land der "emsigen Leichen" (Hannah Arendt) jetzt als Weltmeister in der Aufarbeitung von Geschichte sieht und verkauft, ist eine andere Geschichte, auf die Harald Jähner im Nachwort seines überzeugenden Buches verweist.
Harald Jähner: "Wolfszeit".
Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019. 480 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Nachgeborenen profitieren von der Gnade der frühen Verdrängung: Harald Jähner entwirft ein Panorama des deutschen Nachkriegsjahrzehnts.
Von Hannes Hintermeier
Stunde Null, Niemandszeit, Wolfszeit - was sich nach Kriegsende in Deutschland abspielte, ist mit vielen Schlagworten belegt und von der zeitgeschichtlichen Forschung minutiös untersucht worden. Vierzig Millionen Entwurzelte, die kreuz und quer durchs Land wollen oder müssen, fünfhundert Millionen Kubikmeter Schutt, eine Aufräumaufgabe für dreißig Jahre. Abermillionen von Weltkriegstoten, weitere Millionen in den Gefangenenlagern der Alliierten oder auf der Flucht.
Heute leben noch viele Zeitzeugen, noch ist es erst die Spanne eines Menschenlebens her. Harald Jähner, früherer Feuilleton-Chef der "Berliner Zeitung", ist selbst ein Nachgeborener, mit Jahrgang 1953 knapp am Achtundsechziger der ersten Stunde vorbeigeschrammt. Das Buch basiert auf einer Vielzahl von Lektürefunden, nicht auf der Erschließung neuer Quellen. Jähner hat ein clever komponiertes, gut geschriebenes Panorama der ersten zehn Nachkriegsjahre entworfen - und damit ein Buch vorgelegt, das ein Fenster zu einer Zeit öffnet, die sehr viel mehr mit uns Heutigen zu tun hat, als wir uns es vermutlich bewusst machen.
Was war nur mit diesen Deutschen los, lammfromm boten sie sich den Siegern als willige Aufräumer an, keineswegs als die bis zum Tode kämpfenden Nazi-Bestien, auf die sich vor allem die Amerikaner eingestellt hatten. Stattdessen: alle Opfer des Hitler-Regimes, als die sich viele nur fühlen konnten, weil sich in den letzten Kriegsmonaten der Terror endgültig gegen die Reste der Zivilbevölkerung richtete. Dass diese vorher mehrheitlich überzeugt mitgemacht hatte, war ihr entfallen. Anstand und Ordnung, dafür glaubten viele Deutsche immer noch hauptsächlich in der Welt wahrgenommen zu werden.
Schon 1947 fragte sich eine Autorin namens Erika Neuhäußer ernsthaft in der Zeitschrift "Der Standpunkt", warum Deutschland "der Prügelknabe" der Welt sei? War da was gewesen? War das so unvorstellbar, dass man nicht davon sprechen konnte? Jähner hat Sympathie für diese These. Erst die Zurückweisung der individuellen Schuld in Verbindung mit dem Überbordwerfen der Mentalität, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatte, habe den Boden für einen Neuanfang bereitet. Wie sich der zutrug, zeigt der Autor in zehn Kapiteln, die die ganze Bandbreite menschlicher Orientierungslosigkeit und seelischer Zerrüttung offenbaren.
Wer meint, heute in komplizierten Zeiten zu leben, liest hier, welche Komplexitätsgrade damals zu bewältigen waren. Jähner wählt ein Verfahren, das sich zunächst am Einzelschicksal abarbeitet, um dann das ganze Gemälde auszumalen. Das trägt zur Lesbarkeit erheblich bei, außerdem verfügt der Autor über eine bildkräftige Sprache, die nur ganz selten übers Ziel hinausschießt. Dass einer seiner Helden, der Schriftsteller Alfred Döblin, mit einer Bahre zum Zug gebracht wird, verwundert - ein Toter auf Zugfahrt?
Ordnung ist das halbe Leben, das gilt den Deutschen auch nach dem verlorenen Krieg als Maxime. Mit Fleiß und Akribie wurden wiederverwendbare Ziegel gestapelt, Mäntel und Büstenhalter eingesammelt, Lebensmittel rationiert, Wohnungen beschlagnahmt und umverteilt. Wenn man einem 1600-Seelen-Dorf tausend Zuzügler aufs Auge drückte, konnte das freilich nicht gut ausgehen. Überhaupt hätte man einen wie den Philosophen Karl Jaspers, der aus der Mode gekommen ist, wieder nötig, der schon 1946 befand, man müsse "deutsches Leben unter den Bedingungen der Wahrheit" gewinnen: "Das dogmatische Behaupten, das Anbrüllen, das trotzige Empörtsein, die Ehre, die bei jeder Gelegenheit gekränkt die Unterhaltung abbricht, all das darf es nicht mehr geben."
Aber all das gab es, und zwar in einer kaum einzudämmenden Heftigkeit. Jähner schildert, wie die sogenannte Volksgemeinschaft implodierte. Im Kampf gegen Flüchtlinge, Vertriebene, ehemalige Zwangsarbeiter, die noch eine Rechnung offenhatten, Displaced Persons, jüdische Rückkehrer aus dem Exil war jeder sich der Nächste, und der Wolf wurde zum Leittier des Zeitgefühls dieser Jahre. Die Region gewann wieder die Oberhand, man war Rheinländer, Westfale, Berliner, Franke oder Schwabe, auf keinen Fall wollte man mit "Deutschböhmen, Banater Schwaben, Schlesiern, Pommern und Bessarabiendeutschen etwas zu tun haben - alles ,Polacken'". Dabei hätten diese, so Jähner, das "Ferment der Entprovinzialisierung" mitgebracht - etwa katholische Sudetendeutsche, die den schwäbischen Pietisten lebenslustige Offenheit vorgelebt hätten; oder das rückständige Agrarland Bayern auf Vordermann gebracht hätten. Das ist ein wenig optimistisch gepinselt, damals fehlte nicht mehr viel zum Bürgerkrieg, das verschweigt auch Jähner nicht. Und Spuren dieses innerdeutschen Rassismus existieren bis heute.
Das Buch konzentriert sich auf Westdeutschland und auf Berlin, dabei tendenziell eher auf die Lage in den Städten als auf dem flachen Land, es erzählt von Kriegerwitwen, Heimkehrern, Versehrten und den Schwierigkeiten, Männer und Frauen wieder zusammenzubringen. Das "Land in Frauenhand" war nämlich auch ohne Männer gut organisiert gewesen; über die Frage, warum die Frauen die Macht innerhalb eines Jahrzehnts vielfach wieder abgaben, hätte man gern mehr gelesen. Erzählt wird von einer Gesellschaft, die ein "Halbräuberleben" führen musste, die stahl, plünderte, hamsterte, "fringste" und "trophäierte". Um Nahrung, Kohle, Kleidung zu ergattern. Den Schwarzmarkt deutet Jähner als Schule der Nation.
Weitere Kapitel handeln davon, wie der Sex nach Deutschland kam, etwa durch den Versandhandel Beate Uhses; von der gespensterhaften Geschichte Wolfsburgs, vom intellektuellen Neubeginn und seinen Klippen, von Grabenkämpfen in Malerei, Architektur, Design. So habe der Nierentisch zur "geistigen Gesundung" beigetragen. Dass es damit nicht so weit her war, zeigte Henri Nannens Attacke ("Hinaus aus Deutschland mit dem Schuft!") gegen den Autor Hans Habe, der sich beinahe wortgleich einer Schlagzeile bediente, mit der Karl Kraus Habes Vater, den korrupten Zeitungsverleger Imre Békessy, aus Wien zu vertreiben unternahm. Nannen offenbarte, dass das braune Gedankengut doch nicht so tot war.
Dass es für Deutschland gut ausging, macht Jähner - lange vor dem Grundgesetz - am Lastenausgleichsgesetz und an der Währungsreform fest, vor allem Letztere habe den "Zauber der Chancengleichheit" gebracht. Und die kollektive Verdrängung der Schuld habe zumindest für die Nachgeborenen etwas Gutes gehabt und sei deshalb als Leistung zu würdigen. Psychische Folgen dieser intergenerationellen Übertragung sind bis heute wirkmächtig, denn das Abrutschen ins "Paradies des Mittelmaßes", als das sich Deutschland in den Folgejahren des Wirtschaftswunders gab, bedeutet nicht, dass seelische Kriegsschäden heute aufgeräumt seien. Dass sich das Land der "emsigen Leichen" (Hannah Arendt) jetzt als Weltmeister in der Aufarbeitung von Geschichte sieht und verkauft, ist eine andere Geschichte, auf die Harald Jähner im Nachwort seines überzeugenden Buches verweist.
Harald Jähner: "Wolfszeit".
Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019. 480 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weißt du wie viel Sternbücher stehen? Schier unendlich viele. Manche strahlender als andere. Dies hier erleuchtet besonders schön. Erhard Schütz der Freitag 20201224