"Gusel Jachina fesselt ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite." Neue Zürcher ZeitungIn der Weite der Steppe am Unterlauf der Wolga siedeln seit dem achtzehnten Jahrhundert Deutsche.1916 führt Jakob Bach in dem kleinen Dorf Gnadental ein einfaches Leben als Schulmeister, das geprägt ist von den Rhythmen der Natur. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er sich in Klara verliebt, eine Bauerntochter vom anderen Ufer der Wolga. Doch ihre Liebe kann sich den Ereignissen nicht entziehen, die die Revolution und die Gründung der Deutschen Republik an der Wolga mit sich bringen.Die Übersetzung wurde gefördert vom Institut for Literary Translation, Russland.
Gusel Jachina erzählt das Schicksal der Wolgadeutschen mal als tragische, mal märchenhafte Familiengeschichte.
© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
Aufwachsen in entsetzlichen Zeiten: Gusel Jachinas Roman "Wolgakinder"
Vor zwei Jahren erschien der Roman "Suleika öffnet die Augen" der Tatarin Gusel Jachina auch auf Deutsch (F.A.Z. v. 14. März 2017). Nun folgt mit "Wolgakinder" ein weiteres Werk, die Geschichte eines Dorfes an der unteren Wolga. Seine Einwohner stammen von deutschen Einwanderern ab, die einst die Zarin Katharina einlud, die Steppe zu kultivieren und kriegerische Tataren abzuwehren. Sie erhielten Vorrechte und blieben nicht nur ihrer Muttersprache, sondern auch ihren Bräuchen über die Jahrhunderte treu. Der gute Boden brachte Rekordernten. Selbst Lenin war beeindruckt von den Früchten ihres Fleißes und ihren schmucken bunten Häusern. Er gewährte ihnen einen Sonderstatus als quasi selbständige Republik, ein Vorbild für alle anderen sollten sie sein. Doch mit der Alleinherrschaft Stalins brachen alle Vorrechte weg. Jetzt wurden die meisten Wolgadeutschen enteignet, verfolgt, nach Sibirien deportiert und als Kollaborateure verurteilt. Hunderttausende starben, Millionen waren zuvor in der Hungersnot umgekommen, weil man ihnen das Getreide weggenommen hatte.
Die dramatischen Jahre des Umbruchs zur Kollektivwirtschaft und zur Vernichtung einer in Traditionen erstarrten Dorfgemeinschaft sind der Hintergrund für Gusel Jachinas Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe zwischen dem stotternden Schulmeister Bach und der Tochter eines Großbauern.
Den Schöngeist Bach hat es in das abgelegene kleine Dorf Gnadenthal verschlagen, wo er bis zu siebzig Kindern in einem einzigen Raum Lesen und Schreiben beibringt. Mit seiner armseligen Existenz hat er sich abgefunden. Mit seiner Verehrung für Goethe und andere Dichter bleibt er allein. Aber er ist ein leidenschaftlicher und manchmal glücklicher Beobachter von allem, was ihn umgibt, der großartigen Natur vor allem wie den zum Teil skurrilen Dorfbewohnern, die ihm fremd sind. Gusel Jachina beschreibt diese versunkene Welt, die der breite Strom teilt - auf der rechten Seite die wilde Steilküste, auf der linken die weite Steppe -, kenntnisreich und detailbesessen.
Bachs gleichförmiges Leben ändert sich unverhofft, als der Großbauer Grimm ihn geradezu zwingt, seine siebzehn Jahre alte Tochter Klara zu unterrichten. Auf dem im Wald versteckt liegenden Hof am anderen Ufer staunt der Schulmeister über den üppigen Reichtum und seinen kraftstrotzenden Besitzer. Die Tochter, über deren Mangel an Bildung er sich wundert, darf der Lehrer seltsamerweise nicht sehen. Auf Anordnung ihres Vaters muss sich Klara hinter einem Wandschirm verbergen. Sie wird trotzdem seine heimliche Liebe. Dann überfallen marodierende Horden Gnadenthal, sie töten Menschen, schlachten das Vieh ab und rauben fast alle Vorräte. Auch der abgelegene Hof der Grimms bleibt nicht verschont. Nachdem Bach nicht verhindern konnte, dass Klara vergewaltigt wird und Monate später bei der Geburt ihres Kindes stirbt, verstummt er.
Wer Melodramatisches liebt, kommt bei Gusel Jachina auf seine Kosten. Sie schwelgt in Metaphern und Bildern von entsetzlichen Greueltaten. Sie verfügt aber auch über zarte Töne, wenn sie Bachs anrührende Fürsorge für Klaras Tochter Anna beschreibt. Im verwüsteten Dorf führt nun ein buckliger Parteisekretär die Gesetze des Kolchos ein. Bach registriert den weiteren Verfall bei seiner Suche nach Nahrung. Immer weniger Häuser sind noch bewohnt. Als er für das Kind Milch stiehlt, wird er ertappt, verprügelt und der kommunistischen Instanz, dem Parteisekretär, vorgeführt.
Was ihn rettet, ist sein Wissen. Denn der Schulmeister soll alles, was er kennt an Sprichwörtern und Brauchtum, später auch an Märchen, aufschreiben. Der Genosse ist ein Sammler. Er bezahlt in Naturalien, bitter nötig, um den Dorfschulmeister und die kleine Anna am Leben zu erhalten. Ein zweites Kind , ein verwahrloster Junge, läuft ihm zu. Nun sind sie zu dritt, und Bach fühlt sich berufen, die beiden jungen Menschen auf ein Leben in der unruhigen Welt vorzubereiten.
Es sind immer wieder märchenhafte Fügungen und Zufälle, die Spannung aufbauen und die Handlung vorantreiben. Gusel Jachina mischt sie sorglos mit legendenhaften Elementen und historisch Verbrieftem. Ein sehr farbiges Sprachgewebe entsteht auf diese Weise, das sich mitunter zum tragischen Epos der Wolgadeutschen verdichtet.
MARIA FRISÉ
Gusel Jachina:
"Wolgakinder". Roman.
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 591 S., geb., 24,- [Euro].
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»Diese Autorin vermag das Lichte und das Düstere zu integrieren, weil es für sie gleichermaßen Vergangenheit ist. Man wird das Buch nicht beiseitelegen. Ein Epos voller Menschlichkeit.« Irmtraud Gutschke Neues Deutschland 20191010