"Gusel Jachina fesselt ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite." Neue Zürcher ZeitungIn der Weite der Steppe am Unterlauf der Wolga siedeln seit dem achtzehnten Jahrhundert Deutsche.1916 führt Jakob Bach in dem kleinen Dorf Gnadental ein einfaches Leben als Schulmeister, das geprägt ist von den Rhythmen der Natur. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er sich in Klara verliebt, eine Bauerntochter vom anderen Ufer der Wolga. Doch ihre Liebe kann sich den Ereignissen nicht entziehen, die die Revolution und die Gründung der Deutschen Republik an der Wolga mit sich bringen.Die Übersetzung wurde gefördert vom Institut for Literary Translation, Russland.
buecher-magazin.deNach ihrem grandiosen Debüt „Suleika öffnet die Augen“ legt Gusel Jachina nun mit einem anderen Teil ihrer Familiengeschichte nach und lässt sie beginnen im vorrevolutionären Russland am Ufer der Wolga. Hier lebt im Dorf Gnadental, das von einfachen, wacker ihr Land bestellenden Menschen bewohnt wird, der Lehrer Jakob Bach. Er gilt als Sonderling und gerät vollends ins soziale Abseits, als ihm eine Frau zuläuft: Der Lehrer hatte der jungen Klara, die einsam auf einem Hof am anderen Wolgaufer aufgewachsen ist, Privatunterricht gegeben und gewährt ihr nun Obdach, als sie ihrem Vater entflieht, da dieser mit dem gesamten Hausrat in die alte Heimat auswandert. Weil Klara keine Papiere besitzt, kann Bach sie nicht heiraten. Sie ziehen auf den verlassenen Hof von Klaras Vater und leben ein völlig abgeschiedenes Leben, während sich anderswo die Weltgeschichte austobt. Unter dramatischen Umständen kommt eine Tochter zur Welt, und Bach ist gezwungen, wieder mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, die sich in rasantem Tempo verändert hat?… Der dicke Roman umfasst einen Zeitraum von etwa 20 Jahren und damit die Schicksalsjahre der jungen Sowjetunion: hier gesehen – oder lediglich erahnt – aus der Perspektive eines Einsiedlers. Erzählt mit epischer Kraft und voller Fabulierlust.
Gusel Jachina erzählt das Schicksal der Wolgadeutschen mal als tragische, mal märchenhafte Familiengeschichte.
© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
Gusel Jachina erzählt das Schicksal der Wolgadeutschen mal als tragische, mal märchenhafte Familiengeschichte.
© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2019Unterrichte meine Tochter, aber sieh sie nicht an!
Aufwachsen in entsetzlichen Zeiten: Gusel Jachinas Roman "Wolgakinder"
Vor zwei Jahren erschien der Roman "Suleika öffnet die Augen" der Tatarin Gusel Jachina auch auf Deutsch (F.A.Z. v. 14. März 2017). Nun folgt mit "Wolgakinder" ein weiteres Werk, die Geschichte eines Dorfes an der unteren Wolga. Seine Einwohner stammen von deutschen Einwanderern ab, die einst die Zarin Katharina einlud, die Steppe zu kultivieren und kriegerische Tataren abzuwehren. Sie erhielten Vorrechte und blieben nicht nur ihrer Muttersprache, sondern auch ihren Bräuchen über die Jahrhunderte treu. Der gute Boden brachte Rekordernten. Selbst Lenin war beeindruckt von den Früchten ihres Fleißes und ihren schmucken bunten Häusern. Er gewährte ihnen einen Sonderstatus als quasi selbständige Republik, ein Vorbild für alle anderen sollten sie sein. Doch mit der Alleinherrschaft Stalins brachen alle Vorrechte weg. Jetzt wurden die meisten Wolgadeutschen enteignet, verfolgt, nach Sibirien deportiert und als Kollaborateure verurteilt. Hunderttausende starben, Millionen waren zuvor in der Hungersnot umgekommen, weil man ihnen das Getreide weggenommen hatte.
Die dramatischen Jahre des Umbruchs zur Kollektivwirtschaft und zur Vernichtung einer in Traditionen erstarrten Dorfgemeinschaft sind der Hintergrund für Gusel Jachinas Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe zwischen dem stotternden Schulmeister Bach und der Tochter eines Großbauern.
Den Schöngeist Bach hat es in das abgelegene kleine Dorf Gnadenthal verschlagen, wo er bis zu siebzig Kindern in einem einzigen Raum Lesen und Schreiben beibringt. Mit seiner armseligen Existenz hat er sich abgefunden. Mit seiner Verehrung für Goethe und andere Dichter bleibt er allein. Aber er ist ein leidenschaftlicher und manchmal glücklicher Beobachter von allem, was ihn umgibt, der großartigen Natur vor allem wie den zum Teil skurrilen Dorfbewohnern, die ihm fremd sind. Gusel Jachina beschreibt diese versunkene Welt, die der breite Strom teilt - auf der rechten Seite die wilde Steilküste, auf der linken die weite Steppe -, kenntnisreich und detailbesessen.
Bachs gleichförmiges Leben ändert sich unverhofft, als der Großbauer Grimm ihn geradezu zwingt, seine siebzehn Jahre alte Tochter Klara zu unterrichten. Auf dem im Wald versteckt liegenden Hof am anderen Ufer staunt der Schulmeister über den üppigen Reichtum und seinen kraftstrotzenden Besitzer. Die Tochter, über deren Mangel an Bildung er sich wundert, darf der Lehrer seltsamerweise nicht sehen. Auf Anordnung ihres Vaters muss sich Klara hinter einem Wandschirm verbergen. Sie wird trotzdem seine heimliche Liebe. Dann überfallen marodierende Horden Gnadenthal, sie töten Menschen, schlachten das Vieh ab und rauben fast alle Vorräte. Auch der abgelegene Hof der Grimms bleibt nicht verschont. Nachdem Bach nicht verhindern konnte, dass Klara vergewaltigt wird und Monate später bei der Geburt ihres Kindes stirbt, verstummt er.
Wer Melodramatisches liebt, kommt bei Gusel Jachina auf seine Kosten. Sie schwelgt in Metaphern und Bildern von entsetzlichen Greueltaten. Sie verfügt aber auch über zarte Töne, wenn sie Bachs anrührende Fürsorge für Klaras Tochter Anna beschreibt. Im verwüsteten Dorf führt nun ein buckliger Parteisekretär die Gesetze des Kolchos ein. Bach registriert den weiteren Verfall bei seiner Suche nach Nahrung. Immer weniger Häuser sind noch bewohnt. Als er für das Kind Milch stiehlt, wird er ertappt, verprügelt und der kommunistischen Instanz, dem Parteisekretär, vorgeführt.
Was ihn rettet, ist sein Wissen. Denn der Schulmeister soll alles, was er kennt an Sprichwörtern und Brauchtum, später auch an Märchen, aufschreiben. Der Genosse ist ein Sammler. Er bezahlt in Naturalien, bitter nötig, um den Dorfschulmeister und die kleine Anna am Leben zu erhalten. Ein zweites Kind , ein verwahrloster Junge, läuft ihm zu. Nun sind sie zu dritt, und Bach fühlt sich berufen, die beiden jungen Menschen auf ein Leben in der unruhigen Welt vorzubereiten.
Es sind immer wieder märchenhafte Fügungen und Zufälle, die Spannung aufbauen und die Handlung vorantreiben. Gusel Jachina mischt sie sorglos mit legendenhaften Elementen und historisch Verbrieftem. Ein sehr farbiges Sprachgewebe entsteht auf diese Weise, das sich mitunter zum tragischen Epos der Wolgadeutschen verdichtet.
MARIA FRISÉ
Gusel Jachina:
"Wolgakinder". Roman.
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 591 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufwachsen in entsetzlichen Zeiten: Gusel Jachinas Roman "Wolgakinder"
Vor zwei Jahren erschien der Roman "Suleika öffnet die Augen" der Tatarin Gusel Jachina auch auf Deutsch (F.A.Z. v. 14. März 2017). Nun folgt mit "Wolgakinder" ein weiteres Werk, die Geschichte eines Dorfes an der unteren Wolga. Seine Einwohner stammen von deutschen Einwanderern ab, die einst die Zarin Katharina einlud, die Steppe zu kultivieren und kriegerische Tataren abzuwehren. Sie erhielten Vorrechte und blieben nicht nur ihrer Muttersprache, sondern auch ihren Bräuchen über die Jahrhunderte treu. Der gute Boden brachte Rekordernten. Selbst Lenin war beeindruckt von den Früchten ihres Fleißes und ihren schmucken bunten Häusern. Er gewährte ihnen einen Sonderstatus als quasi selbständige Republik, ein Vorbild für alle anderen sollten sie sein. Doch mit der Alleinherrschaft Stalins brachen alle Vorrechte weg. Jetzt wurden die meisten Wolgadeutschen enteignet, verfolgt, nach Sibirien deportiert und als Kollaborateure verurteilt. Hunderttausende starben, Millionen waren zuvor in der Hungersnot umgekommen, weil man ihnen das Getreide weggenommen hatte.
Die dramatischen Jahre des Umbruchs zur Kollektivwirtschaft und zur Vernichtung einer in Traditionen erstarrten Dorfgemeinschaft sind der Hintergrund für Gusel Jachinas Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe zwischen dem stotternden Schulmeister Bach und der Tochter eines Großbauern.
Den Schöngeist Bach hat es in das abgelegene kleine Dorf Gnadenthal verschlagen, wo er bis zu siebzig Kindern in einem einzigen Raum Lesen und Schreiben beibringt. Mit seiner armseligen Existenz hat er sich abgefunden. Mit seiner Verehrung für Goethe und andere Dichter bleibt er allein. Aber er ist ein leidenschaftlicher und manchmal glücklicher Beobachter von allem, was ihn umgibt, der großartigen Natur vor allem wie den zum Teil skurrilen Dorfbewohnern, die ihm fremd sind. Gusel Jachina beschreibt diese versunkene Welt, die der breite Strom teilt - auf der rechten Seite die wilde Steilküste, auf der linken die weite Steppe -, kenntnisreich und detailbesessen.
Bachs gleichförmiges Leben ändert sich unverhofft, als der Großbauer Grimm ihn geradezu zwingt, seine siebzehn Jahre alte Tochter Klara zu unterrichten. Auf dem im Wald versteckt liegenden Hof am anderen Ufer staunt der Schulmeister über den üppigen Reichtum und seinen kraftstrotzenden Besitzer. Die Tochter, über deren Mangel an Bildung er sich wundert, darf der Lehrer seltsamerweise nicht sehen. Auf Anordnung ihres Vaters muss sich Klara hinter einem Wandschirm verbergen. Sie wird trotzdem seine heimliche Liebe. Dann überfallen marodierende Horden Gnadenthal, sie töten Menschen, schlachten das Vieh ab und rauben fast alle Vorräte. Auch der abgelegene Hof der Grimms bleibt nicht verschont. Nachdem Bach nicht verhindern konnte, dass Klara vergewaltigt wird und Monate später bei der Geburt ihres Kindes stirbt, verstummt er.
Wer Melodramatisches liebt, kommt bei Gusel Jachina auf seine Kosten. Sie schwelgt in Metaphern und Bildern von entsetzlichen Greueltaten. Sie verfügt aber auch über zarte Töne, wenn sie Bachs anrührende Fürsorge für Klaras Tochter Anna beschreibt. Im verwüsteten Dorf führt nun ein buckliger Parteisekretär die Gesetze des Kolchos ein. Bach registriert den weiteren Verfall bei seiner Suche nach Nahrung. Immer weniger Häuser sind noch bewohnt. Als er für das Kind Milch stiehlt, wird er ertappt, verprügelt und der kommunistischen Instanz, dem Parteisekretär, vorgeführt.
Was ihn rettet, ist sein Wissen. Denn der Schulmeister soll alles, was er kennt an Sprichwörtern und Brauchtum, später auch an Märchen, aufschreiben. Der Genosse ist ein Sammler. Er bezahlt in Naturalien, bitter nötig, um den Dorfschulmeister und die kleine Anna am Leben zu erhalten. Ein zweites Kind , ein verwahrloster Junge, läuft ihm zu. Nun sind sie zu dritt, und Bach fühlt sich berufen, die beiden jungen Menschen auf ein Leben in der unruhigen Welt vorzubereiten.
Es sind immer wieder märchenhafte Fügungen und Zufälle, die Spannung aufbauen und die Handlung vorantreiben. Gusel Jachina mischt sie sorglos mit legendenhaften Elementen und historisch Verbrieftem. Ein sehr farbiges Sprachgewebe entsteht auf diese Weise, das sich mitunter zum tragischen Epos der Wolgadeutschen verdichtet.
MARIA FRISÉ
Gusel Jachina:
"Wolgakinder". Roman.
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 591 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2020Im Kopf von
Josef Stalin
Gusel Jachinas Roman „Wolgakinder“
Etwa in der Mitte des Buches verschluckt sich der Text. Nicht der Roman selbst, Gusel Jachinas „Wolgakinder“, aber die Märchen ihres Helden Jakob Bach. Der Sozialismus hat Bachs Dorf im Griff, und erst lief es tatsächlich fantastisch: Rekordernte, Rekordgeburten, gigantische Wassermelonen. Tierzüchter und Traktoristen, Agronomen und Melkerinnen – ein einziges Strahlen. Und Jakob Bach, der einstige Lehrer von Gnadental an der Wolga, hatte voller Ehrfurcht erkennen müssen, dass er selbst diese Wunder wirkte, dass es seine sozialistisch frisierten Volksmärchen waren, die auf dem Dorfplatz angeschlagen wurden und, kein Zweifel, segensreiche Effekte hatten. Gnadental erblühte durch die Kraft seiner Fantasie.
Aber das Glück zog fort, und die Kollektivierung kam. Reiche Bauern wurden vertrieben, das Vieh ging ein. Bach tat sein Bestes, ließ in immer neuen Märchen Jungfrauen im Dutzend retten und Hühner silberne Eier legen, aber die Wörter verweigerten ihren Dienst und formten sich nicht mehr zum Text, sie blieben ein verzweifeltes Stammeln: „Glücklich sind die Tiere … Glücklich sind die Zwerge … Alle sind glücklich … Golden glänzen die Fluren … Golden … Golden … Golden.“
Die Verwandlung einer Jahrhunderttragödie in diese sprachliche Atrophie ist der einzige Ausbruch des Romans, und sie dauert nicht lang. Danach kehrt der Roman zurück zu seinem ruhig dahinfließenden Ton. Und Bach flüchtet sich auf seinen Hof am gegenüberliegenden Wolgaufer.
Es ist nicht nur die mythische Topografie – zwei Welten, getrennt durch einen Fluss –, sondern es sind auch die archetypischen Figuren, die Jachinas Roman etwas Parabelhaftes geben. Bach, ein dürrer, verhuschter Zögerling, wird kurz vor der Revolution von einem protzig reichen Gutsbesitzers einbestellt, um dessen wunderschöne Tochter Klara zu unterrichten. Klara sitzt hinter einem Wandschirm, aber die Erotik der Sprache verfehlt ihre Wirkung nicht. Als der Vater nach Deutschland zieht, flieht Klara zu Jakob und lebt fortan mit ihm auf dem väterlichen Hof. Aber die Idylle ist bei Gusel Jachina immer eine relative. Gemessen an den Verheerungen des Bürgerkrieges, die in Gnadental wie in einer fernen Galaxie vorbeiziehen, geht es den beiden passabel. Nur können sie keine Kinder bekommen, was Klara sehr quält.
In ihrem gefeierten Debütroman „Suleika öffnet die Augen“ erzählte Gusel Jachina von einer Tatarin im sibirischen Lager. Das Buch bezog seinen Reiz daraus, dass sich eine junge Frau gleich doppelt behauptete – gegen den Gulag und gegen die islamische Gesellschaft. „Wolgakinder“ ist ihr zweiter Roman und handelt ebenfalls vom kaum bekannten Schicksal einer Volksgruppe in Russland. Lenin liebte die Deutschen und schenkte ihnen die „Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“. Stalin misstraute ihnen und ließ sie am Vorabend des Zweiten Weltkrieges deportieren.
Die welthistorischen Wolken ziehen über einen noch engeren, begrenzteren Raum als in Jachinas erstem Roman. Es ist eine vormoderne Welt, die Jachina mit tausend Details und ethnologischem Eifer ausstattet. Der durchschnittliche Gnadentaler ist in Bachs Worten „ein unverbesserlicher Fatalist, fromm und abergläubisch“, dazu „allem Neuen, jedem Fortschritt und jedem Experiment abhold“. Wo sonst ließe sich der Aufprall der bolschewistischen Umwälzungen eindrucksvoller demonstrieren als an diesem „Ort am Rande der Gegenwart“? Klara wird von Marodeuren vergewaltigt und endlich schwanger, und dass sie den Gewaltakt als Geschenk annimmt, wirkt nicht so sehr grausam, sondern vielmehr wie eine Überlebensstrategie. Welches Verbrechen erfüllt sonst schon Wünsche? Sie stirbt bei der Geburt, und Jakob verstummt für immer, seine Tochter Annchen wächst in Kasper-Hauser-artiger Sprachlosigkeit auf. Als Bach sie später an einen jungen Streuner und an den Bolschewismus verliert, erlebt er zum zweiten Mal die Macht der Sprache.
Jachina beschreibt ein kleines exemplarisches Unglück in einer Welt, die „wahrhaft groß“ wurde, das ist ein interessanter Kontrast, und doch zündet die Idee nicht richtig. Das liegt nicht am Aufwand, denn „Wolgakinder“ hat knapp 600 Seiten und bietet allerhand interessante Nebenrollen. Hoffmann, der buckelige Parteifunktionär mit dem Engelsgesicht etwa, verkörpert schon physisch die verführerische, aber fatale Ideologie der neuen Zeit. Als die Gnadentaler in einer seltenen Aufwallung gegen all das gottlose Neue doch randalieren, stirbt Hoffmann stilecht den bolschewistischen Opfertod. Aber so märchenhaft die Figuren sind, so wenig empfindet man für ihr Schicksal. Ihr Leben mit seinen Butterfässern, Wurstfüllspritzen und Traktoren bleibt so unbeseelt wie eine besonders liebevoll ausgestattete Modelleisenbahn-Landschaft. Dass sich Jachina, die sonst auf jede Psychologisierung verzichtet, ausgerechnet in den Kopf Josef Stalins denkt, begreift man dann gar nicht mehr. Seitenlang geht Stalin beim Billard seine strategischen Chancen gegen Hitler durch und kommt am Ende zu erfreulichen Ergebnissen. Dies aber ist eine Metaphorik von solcher Schlichtheit, dass man die Szene selbst dann nicht glauben will, wenn sie sich wirklich so zugetragen hätte.
SONJA ZEKRI
Gusel Jachina: Wolgakinder. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 591 Seiten, 24 Euro.
Zwei Welten, getrennt
durch einen Fluss: Der Roman
hat etwas Parabelhaftes
Sowjetische Schicksale: die Autorin Gusel Jachina.
Foto: Bernd Gross
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Josef Stalin
Gusel Jachinas Roman „Wolgakinder“
Etwa in der Mitte des Buches verschluckt sich der Text. Nicht der Roman selbst, Gusel Jachinas „Wolgakinder“, aber die Märchen ihres Helden Jakob Bach. Der Sozialismus hat Bachs Dorf im Griff, und erst lief es tatsächlich fantastisch: Rekordernte, Rekordgeburten, gigantische Wassermelonen. Tierzüchter und Traktoristen, Agronomen und Melkerinnen – ein einziges Strahlen. Und Jakob Bach, der einstige Lehrer von Gnadental an der Wolga, hatte voller Ehrfurcht erkennen müssen, dass er selbst diese Wunder wirkte, dass es seine sozialistisch frisierten Volksmärchen waren, die auf dem Dorfplatz angeschlagen wurden und, kein Zweifel, segensreiche Effekte hatten. Gnadental erblühte durch die Kraft seiner Fantasie.
Aber das Glück zog fort, und die Kollektivierung kam. Reiche Bauern wurden vertrieben, das Vieh ging ein. Bach tat sein Bestes, ließ in immer neuen Märchen Jungfrauen im Dutzend retten und Hühner silberne Eier legen, aber die Wörter verweigerten ihren Dienst und formten sich nicht mehr zum Text, sie blieben ein verzweifeltes Stammeln: „Glücklich sind die Tiere … Glücklich sind die Zwerge … Alle sind glücklich … Golden glänzen die Fluren … Golden … Golden … Golden.“
Die Verwandlung einer Jahrhunderttragödie in diese sprachliche Atrophie ist der einzige Ausbruch des Romans, und sie dauert nicht lang. Danach kehrt der Roman zurück zu seinem ruhig dahinfließenden Ton. Und Bach flüchtet sich auf seinen Hof am gegenüberliegenden Wolgaufer.
Es ist nicht nur die mythische Topografie – zwei Welten, getrennt durch einen Fluss –, sondern es sind auch die archetypischen Figuren, die Jachinas Roman etwas Parabelhaftes geben. Bach, ein dürrer, verhuschter Zögerling, wird kurz vor der Revolution von einem protzig reichen Gutsbesitzers einbestellt, um dessen wunderschöne Tochter Klara zu unterrichten. Klara sitzt hinter einem Wandschirm, aber die Erotik der Sprache verfehlt ihre Wirkung nicht. Als der Vater nach Deutschland zieht, flieht Klara zu Jakob und lebt fortan mit ihm auf dem väterlichen Hof. Aber die Idylle ist bei Gusel Jachina immer eine relative. Gemessen an den Verheerungen des Bürgerkrieges, die in Gnadental wie in einer fernen Galaxie vorbeiziehen, geht es den beiden passabel. Nur können sie keine Kinder bekommen, was Klara sehr quält.
In ihrem gefeierten Debütroman „Suleika öffnet die Augen“ erzählte Gusel Jachina von einer Tatarin im sibirischen Lager. Das Buch bezog seinen Reiz daraus, dass sich eine junge Frau gleich doppelt behauptete – gegen den Gulag und gegen die islamische Gesellschaft. „Wolgakinder“ ist ihr zweiter Roman und handelt ebenfalls vom kaum bekannten Schicksal einer Volksgruppe in Russland. Lenin liebte die Deutschen und schenkte ihnen die „Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“. Stalin misstraute ihnen und ließ sie am Vorabend des Zweiten Weltkrieges deportieren.
Die welthistorischen Wolken ziehen über einen noch engeren, begrenzteren Raum als in Jachinas erstem Roman. Es ist eine vormoderne Welt, die Jachina mit tausend Details und ethnologischem Eifer ausstattet. Der durchschnittliche Gnadentaler ist in Bachs Worten „ein unverbesserlicher Fatalist, fromm und abergläubisch“, dazu „allem Neuen, jedem Fortschritt und jedem Experiment abhold“. Wo sonst ließe sich der Aufprall der bolschewistischen Umwälzungen eindrucksvoller demonstrieren als an diesem „Ort am Rande der Gegenwart“? Klara wird von Marodeuren vergewaltigt und endlich schwanger, und dass sie den Gewaltakt als Geschenk annimmt, wirkt nicht so sehr grausam, sondern vielmehr wie eine Überlebensstrategie. Welches Verbrechen erfüllt sonst schon Wünsche? Sie stirbt bei der Geburt, und Jakob verstummt für immer, seine Tochter Annchen wächst in Kasper-Hauser-artiger Sprachlosigkeit auf. Als Bach sie später an einen jungen Streuner und an den Bolschewismus verliert, erlebt er zum zweiten Mal die Macht der Sprache.
Jachina beschreibt ein kleines exemplarisches Unglück in einer Welt, die „wahrhaft groß“ wurde, das ist ein interessanter Kontrast, und doch zündet die Idee nicht richtig. Das liegt nicht am Aufwand, denn „Wolgakinder“ hat knapp 600 Seiten und bietet allerhand interessante Nebenrollen. Hoffmann, der buckelige Parteifunktionär mit dem Engelsgesicht etwa, verkörpert schon physisch die verführerische, aber fatale Ideologie der neuen Zeit. Als die Gnadentaler in einer seltenen Aufwallung gegen all das gottlose Neue doch randalieren, stirbt Hoffmann stilecht den bolschewistischen Opfertod. Aber so märchenhaft die Figuren sind, so wenig empfindet man für ihr Schicksal. Ihr Leben mit seinen Butterfässern, Wurstfüllspritzen und Traktoren bleibt so unbeseelt wie eine besonders liebevoll ausgestattete Modelleisenbahn-Landschaft. Dass sich Jachina, die sonst auf jede Psychologisierung verzichtet, ausgerechnet in den Kopf Josef Stalins denkt, begreift man dann gar nicht mehr. Seitenlang geht Stalin beim Billard seine strategischen Chancen gegen Hitler durch und kommt am Ende zu erfreulichen Ergebnissen. Dies aber ist eine Metaphorik von solcher Schlichtheit, dass man die Szene selbst dann nicht glauben will, wenn sie sich wirklich so zugetragen hätte.
SONJA ZEKRI
Gusel Jachina: Wolgakinder. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 591 Seiten, 24 Euro.
Zwei Welten, getrennt
durch einen Fluss: Der Roman
hat etwas Parabelhaftes
Sowjetische Schicksale: die Autorin Gusel Jachina.
Foto: Bernd Gross
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»Diese Autorin vermag das Lichte und das Düstere zu integrieren, weil es für sie gleichermaßen Vergangenheit ist. Man wird das Buch nicht beiseitelegen. Ein Epos voller Menschlichkeit.« Irmtraud Gutschke Neues Deutschland 20191010