Eine Darstellung von Marcel Reich-Ranickis Zeit in Polen anhand unbekannter Fotos und bisher unzugänglicher Dokumente
Marcel Reich-Ranicki in Polen - dramatische Ereignisse und wichtige Stationen von 1938 bis 1958 leben auf: Aus Zeitzeugenberichten, bisher unbekannten Fotos und verschollenen Dokumenten erhalten diese "weißen" Jahre Konturen: das Wechselspiel von Schatten und Licht einer Jahrhundertgestalt.
Jahre der Todesangst: Ausweisung nach Polen 1938, Warschauer Ghetto 1940, Flucht auf dem Weg zur Deportation 1943, Unterschlupf bis September 1944 ...
In höchster Not entkommen Marceli Reich und seine Frau Teofila; sie tauchen unter und können ein neues Leben beginnen. Er arbeitet ab Oktober 1944 für den polnischen Geheimdienst in Kattowitz, Berlin, London, Warschau. 1958 verlässt er seine erste Heimat Polen in Richtung Bundesrepublik, wo ihm eine unvergleichliche Karriere als Literaturkritiker gelingt. Seither nennt er sich Marcel Reich-Ranicki.
Mit "Wolke und Weide" ist dem Warschauer Journalisten Gerhard Gnauck ein einfühlsames Porträt geglückt: Facettenreich skizziert er eine Jahrhundertgestalt und erzählt von Polen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, einem Land, in dem sich die europäische Geschichte wie kaum an einem anderen Ort kristallisiert.
Auf Anregung Gerhard Gnaucks hin erhielt die Familie Gawin, bei denen Marcel Reich-Ranicki und seine Frau untertauchen konnten, die Auszeichnung "Gerechte unter den Völkern" und eine Rente der Bundesrepublik.
Marcel Reich-Ranicki in Polen - dramatische Ereignisse und wichtige Stationen von 1938 bis 1958 leben auf: Aus Zeitzeugenberichten, bisher unbekannten Fotos und verschollenen Dokumenten erhalten diese "weißen" Jahre Konturen: das Wechselspiel von Schatten und Licht einer Jahrhundertgestalt.
Jahre der Todesangst: Ausweisung nach Polen 1938, Warschauer Ghetto 1940, Flucht auf dem Weg zur Deportation 1943, Unterschlupf bis September 1944 ...
In höchster Not entkommen Marceli Reich und seine Frau Teofila; sie tauchen unter und können ein neues Leben beginnen. Er arbeitet ab Oktober 1944 für den polnischen Geheimdienst in Kattowitz, Berlin, London, Warschau. 1958 verlässt er seine erste Heimat Polen in Richtung Bundesrepublik, wo ihm eine unvergleichliche Karriere als Literaturkritiker gelingt. Seither nennt er sich Marcel Reich-Ranicki.
Mit "Wolke und Weide" ist dem Warschauer Journalisten Gerhard Gnauck ein einfühlsames Porträt geglückt: Facettenreich skizziert er eine Jahrhundertgestalt und erzählt von Polen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, einem Land, in dem sich die europäische Geschichte wie kaum an einem anderen Ort kristallisiert.
Auf Anregung Gerhard Gnaucks hin erhielt die Familie Gawin, bei denen Marcel Reich-Ranicki und seine Frau untertauchen konnten, die Auszeichnung "Gerechte unter den Völkern" und eine Rente der Bundesrepublik.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2009„Ich hatte doch gar keine solchen Möglichkeiten”
Gerhard Gnauck schreibt über Marcel Reich-Ranickis Jahre in Polen. Vorwürfe, dieser habe für den Sicherheitsdienst gearbeitet, bleiben vage und unbelegbar
Seitdem Marcel Reich-Ranicki sich in der Bundesrepublik vor mehr als vierzig Jahren einen Namen gemacht hatte, zirkulierte in intellektuellen Kreisen eine bange Vermutung: Dass es ihm gelang, sich und seine Frau Teofila aus dem Warschauer Ghetto zu retten, sei vielleicht nur möglich gewesen, weil er dafür eine Gegenleistung habe entrichten müssen. Die meisten Leute, die dies Gerücht weitertrugen, schämten sich ein bisschen, schon während sie davon erzählten. Es war, das erkannten sie, nicht ihre Sache, sich darüber Gedanken zu machen, warum ein jüdisches Ehepaar im Warschauer Ghetto der Deportation in ein KZ entrann. Später wurden neue Vorwürfe gegen Reich-Ranicki laut: 1994 machte der Journalist Tilman Jens in Deutschland publik, dass jener nach dem Krieg für den polnischen Sicherheitsdienst gearbeitet hatte. Die Presse reagierte rege, ein paar Tage lang. Dann lief eine neue Sau durchs Dorf.
Jetzt hat der Journalist Gerhard Gnauck da angeknüpft und über „Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre” geschrieben. Anders als Tilman Jens will Gnauck nicht eine Autoritätsperson vom Sockel stürzen, er respektiert den berühmten Kritiker. Gnauck, Polen-Korrespondent der Welt, ist der Enkel eines Polen, er liebt das Land seines Großvaters. Sein Buch ist auch als ein Versuch zu lesen, über Polen und Deutschland zugleich zu schreiben. Reich-Ranicki wählte er als Sujet, weil er findet: „Über diese Figur wollen wir alles wissen.”
Das meiste hat Reich-Ranicki in seiner Autobiographie „Mein Leben” und in einigen ausführlichen Gesprächen, aus denen Gnauck zitiert, schon erzählt. Gnauck interessiert sich darüber hinaus vor allem für die weniger ausgeleuchteten Episoden in der Vita des Mannes, der früher Marceli Reich hieß. Er interessiert sich, kurz gesagt, für alles, was Reich-Ranicki heute „unangenehm” sein könnte. Was also hat dieser zwischen 1939 und seinem Ausschluss aus der polnischen Kommunistischen Partei 1950 gemacht?
Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen wurde in Warschau ein „Judenrat” eingerichtet. Marceli Reich meldete sich. Er sagte, man habe ihn angenommen, weil er Deutsch sprach. Binnen kurzem machte man ihn zum Chef des „Übersetzungs- und Korrespondenzbüros”. 1942, als seine Frau Teofila deportiert zu werden drohte, nutzte er seine Bekanntschaft zu einem – wie er schrieb – „rabiaten Kommandanten”, der sie wieder auf freien Fuß setzen ließ. Die näheren Umstände hat Gerhard Gnauck nicht in Erfahrung bringen können. Anfang 1943 bestachen die Reichs einen Angehörigen der „jüdischen Polizei”, der ihnen die Flucht aus dem Ghetto ermöglichte. Dann hat eine großherzige polnische Familie sie in ihrem Haus versteckt.
Im Oktober 1944, als die Rote Armee Warschau erreicht hatte, bewarben Marceli und Teofila sich beim polnischen Sicherheitsministerium. Sie arbeiteten in der Postzensur. In den Archiven hat Gnauck Hinweise auf einen „Marceli Teich” entdeckt, der nahe Posen eingesetzt wurde. Außerdem fand er einen „Personalbefehl”, demzufolge ein gewisser Marceli Erlaubnis erhielt, seinen Nachnamen in Ominski zu ändern. Für Reich-Ranickis Angabe, er sei 1945 in Kattowitz eingesetzt worden, fand Gnauck keine Belege. „Die schriftlichen Quellen”, schreibt er, „sind spärlich.” Aus ihnen geht nicht hervor, wofür Marceli Reich – unter welchem Namen auch immer – 1945 in Oberschlesien zuständig war.
Im Januar 1946 wurde der Leutnant Marceli Reich nach Berlin entsandt. Er blieb dort bis April. Als Mitarbeiter der polnischen Mission sammelte er Hinweise auf gestohlenes polnisches Eigentum. Von Januar bis April 1946 hat ein Mann unter dem Decknamen „Platon” Berichte über Mitarbeiter der polnischen Mission nach Warschau geschickt: Da verkünde einer „linke Anschauungen”, ein anderer sei „faul, verantwortungslos” und ein „erbitterter Feind der Demokratie”. Gnauck hält für möglich, dass sich hinter „Platon” Marceli Reich verborgen habe. Belegbar ist es nicht.
Von Februar 1947 an war Marceli Reich zunächst Vizekonsul und später Konsul in London. Für den Posten sollte er sich einen polnischen Namen zulegen. Er wählte: Ranicki. In London oblag ihm unter anderem die Aufsicht über das Pass- und Visareferat. Zudem koordinierte er unter dem Decknamen „Albin” die Arbeit geheimer Mitarbeiter. 1949 sollte ein Pole in London liquidiert werden. Das Vorhaben scheiterte. Aus den Quellen ist nicht ersichtlich, dass Reich-Ranicki damit etwas zu tun hatte. Per Fax hat Gerhard Gnauck nachgefragt: „Beim ersten Mal bekam ich eine Antwort: ,Ich hatte doch gar keine solchen Möglichkeiten.‘ Beim zweiten Mal brauste er auf.”
Im Herbst 1949 wurde Reich-Ranicki aus London abberufen, 1950 aus der Partei ausgeschlossen. Seiner Abberufung ging die Einschätzung voraus: „Die Residentur leistet faktisch fast gar keine nachrichtendienstliche Arbeit.” Reich-Ranicki sagt, um seine Abberufung gebeten zu haben. Das glaubt Gnauck ihm nicht. Er hat ermittelt, dass in jener Zeit etliche Juden aus dem polnischen Sicherheitsdienst entlassen wurden. Mittlerweile hatte der Geist des Stalinismus sich auch in Polen breit gemacht. Aus den Akten geht hervor, dass Reich sich gegen die Anschuldigung wehrte, im Ghetto für die Gestapo gearbeitet zu haben. Diesen Vorwurf haben kommunistische Parteien des Ostblocks damals gern erhoben, wenn sie sich missliebiger Genossen entledigen wollten. Vergeblich bemühte Reich sich, wieder in die KP aufgenommen zu werden. 1958 kehrte er von einer Reise nach Frankfurt am Main nicht nach Polen zurück.
Gerhard Gnauck hat die Archive mit forensischer Akribie durchforstet. Was er fand, reicht jedoch für einen „Fall Reich-Ranicki” nicht hin. Selbst wenn Marceli Reich dies oder das von dem getan hätte, was Gnauck in den Bereich des Möglichen stellt, dann wäre daraus nur zu schließen, dass er ein guter Genosse war. Dass er jemandem schweren Schaden zugefügt hätte, ergibt sich aus Gnaucks Recherchen nicht einmal ansatzweise. Verständlich wird hingegen, warum Reich-Ranicki über die Details dieser Zeit nicht gern redet. Als er in der Bundesrepublik angekommen war, hätte er sich mit der Geschichte vom ehemals überzeugten Kommunisten Marceli Reich wenig Freunde gemacht. Also zieht Reich-Ranicki es vor, über diese Jahre nicht allzu ausführlich zu reden. Auch mit Gerhard Gnauck hat er nur zwei oder drei Gespräche geführt. Es gibt im übrigen kein Gesetz, demzufolge eine Person der Zeitgeschichte über ihr Leben auch und gerade dann öffentlich Rechenschaft ablegen muss, wenn sie sich nichts Nennenswertes hat zuschulden kommen lassen.
„Wolke und Weide” (der Titel geht auf ein jiddisches Gedicht zurück) ist gut geschrieben. Wäre die Detektivarbeit in den Archiven ergiebiger gewesen, hätte sie so etwas wie einen biographischen Thriller ergeben. Stattdessen wird der Leser von einer Sackgasse in die nächste geführt. Umso anregender ist dafür alles, was Gnauck von den Zuständen und der Stimmung in Polen während des Krieges und danach erzählt. Er hat mit vielen alten Leuten gesprochen, er kennt sich aus. Eines Tages, so ist zu hoffen, wird Gnauck ein Buch über die Polen und ihren Umgang mit ihrer Geschichte veröffentlichen. FRANZISKA AUGSTEIN
GERHARD GNAUCK: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre. Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 287 Seiten, 22,90 Euro.
Ausweis des polnischen Schriftstellerverbandes für Marceli Ranicki, Juni 1952. Abb.: Gerhard Gnauck
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Gerhard Gnauck schreibt über Marcel Reich-Ranickis Jahre in Polen. Vorwürfe, dieser habe für den Sicherheitsdienst gearbeitet, bleiben vage und unbelegbar
Seitdem Marcel Reich-Ranicki sich in der Bundesrepublik vor mehr als vierzig Jahren einen Namen gemacht hatte, zirkulierte in intellektuellen Kreisen eine bange Vermutung: Dass es ihm gelang, sich und seine Frau Teofila aus dem Warschauer Ghetto zu retten, sei vielleicht nur möglich gewesen, weil er dafür eine Gegenleistung habe entrichten müssen. Die meisten Leute, die dies Gerücht weitertrugen, schämten sich ein bisschen, schon während sie davon erzählten. Es war, das erkannten sie, nicht ihre Sache, sich darüber Gedanken zu machen, warum ein jüdisches Ehepaar im Warschauer Ghetto der Deportation in ein KZ entrann. Später wurden neue Vorwürfe gegen Reich-Ranicki laut: 1994 machte der Journalist Tilman Jens in Deutschland publik, dass jener nach dem Krieg für den polnischen Sicherheitsdienst gearbeitet hatte. Die Presse reagierte rege, ein paar Tage lang. Dann lief eine neue Sau durchs Dorf.
Jetzt hat der Journalist Gerhard Gnauck da angeknüpft und über „Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre” geschrieben. Anders als Tilman Jens will Gnauck nicht eine Autoritätsperson vom Sockel stürzen, er respektiert den berühmten Kritiker. Gnauck, Polen-Korrespondent der Welt, ist der Enkel eines Polen, er liebt das Land seines Großvaters. Sein Buch ist auch als ein Versuch zu lesen, über Polen und Deutschland zugleich zu schreiben. Reich-Ranicki wählte er als Sujet, weil er findet: „Über diese Figur wollen wir alles wissen.”
Das meiste hat Reich-Ranicki in seiner Autobiographie „Mein Leben” und in einigen ausführlichen Gesprächen, aus denen Gnauck zitiert, schon erzählt. Gnauck interessiert sich darüber hinaus vor allem für die weniger ausgeleuchteten Episoden in der Vita des Mannes, der früher Marceli Reich hieß. Er interessiert sich, kurz gesagt, für alles, was Reich-Ranicki heute „unangenehm” sein könnte. Was also hat dieser zwischen 1939 und seinem Ausschluss aus der polnischen Kommunistischen Partei 1950 gemacht?
Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen wurde in Warschau ein „Judenrat” eingerichtet. Marceli Reich meldete sich. Er sagte, man habe ihn angenommen, weil er Deutsch sprach. Binnen kurzem machte man ihn zum Chef des „Übersetzungs- und Korrespondenzbüros”. 1942, als seine Frau Teofila deportiert zu werden drohte, nutzte er seine Bekanntschaft zu einem – wie er schrieb – „rabiaten Kommandanten”, der sie wieder auf freien Fuß setzen ließ. Die näheren Umstände hat Gerhard Gnauck nicht in Erfahrung bringen können. Anfang 1943 bestachen die Reichs einen Angehörigen der „jüdischen Polizei”, der ihnen die Flucht aus dem Ghetto ermöglichte. Dann hat eine großherzige polnische Familie sie in ihrem Haus versteckt.
Im Oktober 1944, als die Rote Armee Warschau erreicht hatte, bewarben Marceli und Teofila sich beim polnischen Sicherheitsministerium. Sie arbeiteten in der Postzensur. In den Archiven hat Gnauck Hinweise auf einen „Marceli Teich” entdeckt, der nahe Posen eingesetzt wurde. Außerdem fand er einen „Personalbefehl”, demzufolge ein gewisser Marceli Erlaubnis erhielt, seinen Nachnamen in Ominski zu ändern. Für Reich-Ranickis Angabe, er sei 1945 in Kattowitz eingesetzt worden, fand Gnauck keine Belege. „Die schriftlichen Quellen”, schreibt er, „sind spärlich.” Aus ihnen geht nicht hervor, wofür Marceli Reich – unter welchem Namen auch immer – 1945 in Oberschlesien zuständig war.
Im Januar 1946 wurde der Leutnant Marceli Reich nach Berlin entsandt. Er blieb dort bis April. Als Mitarbeiter der polnischen Mission sammelte er Hinweise auf gestohlenes polnisches Eigentum. Von Januar bis April 1946 hat ein Mann unter dem Decknamen „Platon” Berichte über Mitarbeiter der polnischen Mission nach Warschau geschickt: Da verkünde einer „linke Anschauungen”, ein anderer sei „faul, verantwortungslos” und ein „erbitterter Feind der Demokratie”. Gnauck hält für möglich, dass sich hinter „Platon” Marceli Reich verborgen habe. Belegbar ist es nicht.
Von Februar 1947 an war Marceli Reich zunächst Vizekonsul und später Konsul in London. Für den Posten sollte er sich einen polnischen Namen zulegen. Er wählte: Ranicki. In London oblag ihm unter anderem die Aufsicht über das Pass- und Visareferat. Zudem koordinierte er unter dem Decknamen „Albin” die Arbeit geheimer Mitarbeiter. 1949 sollte ein Pole in London liquidiert werden. Das Vorhaben scheiterte. Aus den Quellen ist nicht ersichtlich, dass Reich-Ranicki damit etwas zu tun hatte. Per Fax hat Gerhard Gnauck nachgefragt: „Beim ersten Mal bekam ich eine Antwort: ,Ich hatte doch gar keine solchen Möglichkeiten.‘ Beim zweiten Mal brauste er auf.”
Im Herbst 1949 wurde Reich-Ranicki aus London abberufen, 1950 aus der Partei ausgeschlossen. Seiner Abberufung ging die Einschätzung voraus: „Die Residentur leistet faktisch fast gar keine nachrichtendienstliche Arbeit.” Reich-Ranicki sagt, um seine Abberufung gebeten zu haben. Das glaubt Gnauck ihm nicht. Er hat ermittelt, dass in jener Zeit etliche Juden aus dem polnischen Sicherheitsdienst entlassen wurden. Mittlerweile hatte der Geist des Stalinismus sich auch in Polen breit gemacht. Aus den Akten geht hervor, dass Reich sich gegen die Anschuldigung wehrte, im Ghetto für die Gestapo gearbeitet zu haben. Diesen Vorwurf haben kommunistische Parteien des Ostblocks damals gern erhoben, wenn sie sich missliebiger Genossen entledigen wollten. Vergeblich bemühte Reich sich, wieder in die KP aufgenommen zu werden. 1958 kehrte er von einer Reise nach Frankfurt am Main nicht nach Polen zurück.
Gerhard Gnauck hat die Archive mit forensischer Akribie durchforstet. Was er fand, reicht jedoch für einen „Fall Reich-Ranicki” nicht hin. Selbst wenn Marceli Reich dies oder das von dem getan hätte, was Gnauck in den Bereich des Möglichen stellt, dann wäre daraus nur zu schließen, dass er ein guter Genosse war. Dass er jemandem schweren Schaden zugefügt hätte, ergibt sich aus Gnaucks Recherchen nicht einmal ansatzweise. Verständlich wird hingegen, warum Reich-Ranicki über die Details dieser Zeit nicht gern redet. Als er in der Bundesrepublik angekommen war, hätte er sich mit der Geschichte vom ehemals überzeugten Kommunisten Marceli Reich wenig Freunde gemacht. Also zieht Reich-Ranicki es vor, über diese Jahre nicht allzu ausführlich zu reden. Auch mit Gerhard Gnauck hat er nur zwei oder drei Gespräche geführt. Es gibt im übrigen kein Gesetz, demzufolge eine Person der Zeitgeschichte über ihr Leben auch und gerade dann öffentlich Rechenschaft ablegen muss, wenn sie sich nichts Nennenswertes hat zuschulden kommen lassen.
„Wolke und Weide” (der Titel geht auf ein jiddisches Gedicht zurück) ist gut geschrieben. Wäre die Detektivarbeit in den Archiven ergiebiger gewesen, hätte sie so etwas wie einen biographischen Thriller ergeben. Stattdessen wird der Leser von einer Sackgasse in die nächste geführt. Umso anregender ist dafür alles, was Gnauck von den Zuständen und der Stimmung in Polen während des Krieges und danach erzählt. Er hat mit vielen alten Leuten gesprochen, er kennt sich aus. Eines Tages, so ist zu hoffen, wird Gnauck ein Buch über die Polen und ihren Umgang mit ihrer Geschichte veröffentlichen. FRANZISKA AUGSTEIN
GERHARD GNAUCK: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre. Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 287 Seiten, 22,90 Euro.
Ausweis des polnischen Schriftstellerverbandes für Marceli Ranicki, Juni 1952. Abb.: Gerhard Gnauck
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Das Leben keines Literaturkritikers dürfte mittlerweile so gut ausgeleuchtet sein wie Marcel Reich-Ranickis, und Karl Corino attestiert Gerhard Gnauck, sehr gründlich bei seinen Recherchen zu MRRs polnischen Jahren gewesen zu sein, bei denen es im Kern um die Mitarbeit für den polnischen Geheimdienst geht: Zwei Jahre lang hat MRR, der den Krieg zuerst im Warschauer Ghetto und später versteckt bei polnischen Bauern überlebte, in London für den Auslandsnachrichtendienst gearbeitet, zehn Jahre lang haben Gnaucks Recherchen in Anspruch genommen. Doch bei aller Gründlichkeit kann auch Gnauck nicht alle Hintergründe erhellen, wie Corino bedauert, etwa die Frage, warum MRR so plötzlich seine Arbeit in London beendete.
© Perlentaucher Medien GmbH
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