Was fasziniert die Menschen an den Wolken? Wollen sie uns etwas sagen? Göttliche Drohungen? Oder sind es rein thermische Gebilde? Wolken sind ständig in Bewegung: Das macht es schwer, sie in den Griff zu bekommen - und zugleich zu einem Sinnbild für das Gestaltlose, Ungreifbare, Begriffslose. Klaus Reichert nähert sich in seinem neuen Buch den Wolken von mehreren Seiten: der Bildenden Kunst, der Musik, der Dichtung. Durch Befragung der Meister wie u.a. Turner, Constable, Ruskin, Goethe, Ligeti, durch eigene Beobachtungen, Lektüren und Erinnerungen versucht er, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Entstanden ist ein faszinierender, zwischen Wissenschaft und Literatur changierender Text, der das Unmögliche unternimmt: das Nicht-Darstellbare darzustellen.
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Dem Wind überlassen
Klaus Reichert stellt sein Wolkenbuch im Frankfurter Literaturhaus vor
Das Chaos ist in der Wolke zu Hause. Jedenfalls für Leonardo da Vinci. Klaus Reichert beruft sich auf den italienischen Universalgelehrten und Künstler, wenn er den biblischen Schöpfungsmythos in der Wolke begründet sieht. "Alle Teile der Natur, die Mischung und unaufhörliche Permutation der Elemente, kommen in ihr zusammen", schreibt der Frankfurter Anglist, Übersetzer und Gelehrte in seinem jüngsten Buch, das vor kurzem unter dem Titel "Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen" im S. Fischer Verlag erschienen ist. "Wolkendienst" hatte der englische Schriftsteller und Maler John Ruskin einst das "skying" seines Kollegen William Turner genannt. Im Gespräch mit Anne Bohnenkamp-Renken, der Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts, stellte Reichert seine poetische Kulturgeschichte der Wolken und ihrer Deutung jetzt im Frankfurter Literaturhaus vor.
Die Trennung der Elemente vertrieb das Chaos, "doch in der Wolke kehrt die uranfängliche Ungeschiedenheit zurück", so liest sich die einstige und fortgesetzte Weltenschöpfung unter der Überschrift "Essays I - Chaos/Wolke". Viele solcher Kurzessays beleuchten in dem Buch einzelne Aspekte der Wolkenhermeneutik - unterbrochen von antiken Mythen, Prosagedichten, persönlichen "Elsässischen Tagebüchern", "Katastrophenwolken" im Gefolge der großen Vulkanausbrüche sowie Deutungen in Musik und Malerei. Die literarischen Gattungen wechseln einander ab wie die Wolkenformationen. Wo immer man das Buch aufschlägt, kann man sich einlesen. Kein Wunder, dass der Verlag auf ein Inhaltsverzeichnis verzichtet hat. Dafür hat er Bilder von Turner und Corregio aufgenommen, Partituren von Debussy und Franz Liszt.
Schon immer hatte es Reichert gereizt, das Unbeschreibliche doch zu beschreiben. Das belegt sein kurzer Text "Frühe Himmel" noch vor der Einleitung. Das Kind nahm den Himmel nur als Bedrohung wahr: Bomber und Tiefflieger kamen von oben. Im Sommer 1945 aber sah er am Rande einer Wiese zum ersten Mal die Wolken: "Friedliche Heerscharen." Noch am selben Abend schrieb er nieder, was er gesehen hatte, musste sich aber eingestehen: "Das sind nicht meine Wolken." Der Sommertag blieb in seinem Gedächtnis haften "als erstes Beispiel für die Unbeschreibbarkeit der Dinge, die das Geheimnis ihrer Schönheit nicht preisgeben". Reichert ließ sich nicht entmutigen und versuchte nun erst recht, dem Flüchtigen sprachlich Gestalt zu verleihen, des Schönen habhaft zu werden - wie Faust, als er nach Helena greift und von einer Wolke davongetragen wird.
Bohnenkamp-Renken jedoch widerstand der Versuchung, ihren eigenen Forschungsgegenstand hervorzuheben: Sie streifte nur Goethes Faszination durch die Wolken und überließ sich nach eigenen Worten lieber dem Wind und den Assoziationen des Verfassers. "Alle Menschen können etwas mit Wolken anfangen", weiß Reichert: von den Erfindern der biblischen Wolkensäule, die vor dem Volk Israel herzog, über die göttliche Wolkenbegattung der Nymphe Io bis hin zu dem Zwölfton-Komponisten Arnold Schönberg, der in seinem "Kriegswolkentagebuch" anhand von Wolken irrational orakelte. "Man weicht immer aus auf andere Vostellungsbereiche", sagte Bohnenkamp-Renken. Das konnte Reichert nur bestätigen: Am 21. Juli vorigen Jahres hatte er "eine Schar Stichlinge" am Himmel gesehen. "Unsere Sprache ist noch nicht so weit", hatte schon Dante bedauert, als er seine Jenseitsschau nicht zu beschreiben wusste. Reichert ist also in bester Gesellschaft.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus Reichert stellt sein Wolkenbuch im Frankfurter Literaturhaus vor
Das Chaos ist in der Wolke zu Hause. Jedenfalls für Leonardo da Vinci. Klaus Reichert beruft sich auf den italienischen Universalgelehrten und Künstler, wenn er den biblischen Schöpfungsmythos in der Wolke begründet sieht. "Alle Teile der Natur, die Mischung und unaufhörliche Permutation der Elemente, kommen in ihr zusammen", schreibt der Frankfurter Anglist, Übersetzer und Gelehrte in seinem jüngsten Buch, das vor kurzem unter dem Titel "Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen" im S. Fischer Verlag erschienen ist. "Wolkendienst" hatte der englische Schriftsteller und Maler John Ruskin einst das "skying" seines Kollegen William Turner genannt. Im Gespräch mit Anne Bohnenkamp-Renken, der Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts, stellte Reichert seine poetische Kulturgeschichte der Wolken und ihrer Deutung jetzt im Frankfurter Literaturhaus vor.
Die Trennung der Elemente vertrieb das Chaos, "doch in der Wolke kehrt die uranfängliche Ungeschiedenheit zurück", so liest sich die einstige und fortgesetzte Weltenschöpfung unter der Überschrift "Essays I - Chaos/Wolke". Viele solcher Kurzessays beleuchten in dem Buch einzelne Aspekte der Wolkenhermeneutik - unterbrochen von antiken Mythen, Prosagedichten, persönlichen "Elsässischen Tagebüchern", "Katastrophenwolken" im Gefolge der großen Vulkanausbrüche sowie Deutungen in Musik und Malerei. Die literarischen Gattungen wechseln einander ab wie die Wolkenformationen. Wo immer man das Buch aufschlägt, kann man sich einlesen. Kein Wunder, dass der Verlag auf ein Inhaltsverzeichnis verzichtet hat. Dafür hat er Bilder von Turner und Corregio aufgenommen, Partituren von Debussy und Franz Liszt.
Schon immer hatte es Reichert gereizt, das Unbeschreibliche doch zu beschreiben. Das belegt sein kurzer Text "Frühe Himmel" noch vor der Einleitung. Das Kind nahm den Himmel nur als Bedrohung wahr: Bomber und Tiefflieger kamen von oben. Im Sommer 1945 aber sah er am Rande einer Wiese zum ersten Mal die Wolken: "Friedliche Heerscharen." Noch am selben Abend schrieb er nieder, was er gesehen hatte, musste sich aber eingestehen: "Das sind nicht meine Wolken." Der Sommertag blieb in seinem Gedächtnis haften "als erstes Beispiel für die Unbeschreibbarkeit der Dinge, die das Geheimnis ihrer Schönheit nicht preisgeben". Reichert ließ sich nicht entmutigen und versuchte nun erst recht, dem Flüchtigen sprachlich Gestalt zu verleihen, des Schönen habhaft zu werden - wie Faust, als er nach Helena greift und von einer Wolke davongetragen wird.
Bohnenkamp-Renken jedoch widerstand der Versuchung, ihren eigenen Forschungsgegenstand hervorzuheben: Sie streifte nur Goethes Faszination durch die Wolken und überließ sich nach eigenen Worten lieber dem Wind und den Assoziationen des Verfassers. "Alle Menschen können etwas mit Wolken anfangen", weiß Reichert: von den Erfindern der biblischen Wolkensäule, die vor dem Volk Israel herzog, über die göttliche Wolkenbegattung der Nymphe Io bis hin zu dem Zwölfton-Komponisten Arnold Schönberg, der in seinem "Kriegswolkentagebuch" anhand von Wolken irrational orakelte. "Man weicht immer aus auf andere Vostellungsbereiche", sagte Bohnenkamp-Renken. Das konnte Reichert nur bestätigen: Am 21. Juli vorigen Jahres hatte er "eine Schar Stichlinge" am Himmel gesehen. "Unsere Sprache ist noch nicht so weit", hatte schon Dante bedauert, als er seine Jenseitsschau nicht zu beschreiben wusste. Reichert ist also in bester Gesellschaft.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2016Was zeigen die Himmel?
Vergängliche Figuren im steten Wechsel der Töne: Klaus Reichert spürt den Wolken quer durch Literatur, Kunst und eigene Wahrnehmungen nach.
Hart ist der erste Aufprall, mit dem der Leser in dieses Buch stürzt. Klaus Reichert, Jahrgang 1938, Anglist, ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, erläutert nämlich, warum er die Wolken erst so spät entdecken konnte. "Hast du nicht manchmal zum Himmel geblickt? Nein. Oder nur beklommen, wenn ein lauter werdendes Brummen über mir zu hören war." Es folgte ein anschwellender Bocksgesang ganz anderer Art, der sich "in einem rasenden, rasselnden Taumel austanzte und entlud". Später, als so Vieles ausgebrannt und verschmort war, kamen die Tiefflieger: "Sie sirrten sekundenschnell silbern heran, kaum das man sie hatte kommen hören, und schossen ihre Garben in den um uns aufspritzenden Schnee. Manchmal nur um Haaresbreite."
Diese Erinnerung hat lang auf ihre Formulierung warten müssen. Die Selbstzensur der deutschen Intelligenz, nicht Reicherts allein, verwehrte die Versprachlichung. Als der Krieg vorbei war, konnte der Knabe den Himmel als Himmel wahrnehmen, als er sich am Rand einer Wiese auf die Erde legte: "Und da sah ich sie über mir, zum ersten Mal wirklich und wie für mich bestimmt, die Wolken, wie sie in dicken silberweißen Haufen vor dem Blau dahinzogen, langsam, gemessen und lautlos."
Ovid hatte den Blick zum Himmel als den eigentlichen Sinn des aufrechten Gangs der Menschen behauptet. Nicht mehr Tier zu sein hieß, auf die Zeichen dort oben zu achten. Und dann ist ja das Wetter auch das uns nächste, auf Stimmungen direkt einwirkende "kosmische" Phänomen. 1911 hatte Willy Hellpach das Buch "Geopsyche" veröffentlicht, das sich gelehrt mit solchen Dingen befasste.
Klaus Reichert geht anders vor. Sein Parcours durch die Kunst- und Mythengeschichte der Wolken legt sich keinen Zwang in puncto systematischer Kohärenz auf; ein schöner Wechsel der Töne sorgt dafür, dass der Leser zwischen den Abschnitten springen und zu ihnen zurückkehren kann. "Figuren des Flüchtigen" lautet der Untertitel. Es scheint, als sei überhaupt unser Sinn für das schnell Vergängliche inzwischen gesteigert; nur deshalb - wegen eines "Flüchtigkeits-turns", würde man akademisch sagen - konnte dieses Buch so wunderbar gelingen. Aber auch deshalb, weil Reichert die Sprachen der Überlieferung - vom Hebräischen und Griechischen zu "all the christian dialects" - so vertraut sind, dass er scheinbar mühelos von der einen zur anderen springt.
Die großen Maler haben ihre Auftritte, Turner allen voran, unter den Musikern György Ligeti und Arnold Schönberg, der im Ersten Weltkrieg den Ausgang von Schlachten in den Wolkenformen las. Goethe natürlich mit seiner Hommage an Luke Howard, den Wolken-Systematisierer. Zugleich hat man in diesem Buch die schönste Erscheinung eines Spätstils. Was ist denn für die Produktivität des alten Menschen das Charakteristische? Dass Subjekt und Welt, Innen und Außen, nicht mehr wie in der Jugend hart konturiert gegeneinander stoßen, sondern in einem Höheren eingeschmolzen und legiert werden.
Und so hält es Reichert. Eigene Wolkentagebücher von überraschender Genauigkeit, über Jahrzehnte geführt, sind in die Diskussion der Mythen und der Bilder verwoben. Wenn man das Buch gelesen hat, beginnt man von einer Philosophie zu träumen, die all dies einmal einholen könnte: unsere Gemeinschaft mit der Welt. Goethe hat die Verbindungen, in seiner ganz auf die Phänomene bezogenen Sicht, sehr weit ausgelotet, von den Gesteinsformationen bis zur Wolkenlehre; und darüber hinaus bis zu den Planetensphären in der Figur der Makarie in den "Wanderjahren". Aber es müsste doch auch gedanklich zu leisten sein, ohne dabei in einem naiven (und falschen) Pantheismus zu versinken.
LORENZ JÄGER
Klaus Reichert: "Wolkendienst". Figuren des Flüchtigen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 248 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vergängliche Figuren im steten Wechsel der Töne: Klaus Reichert spürt den Wolken quer durch Literatur, Kunst und eigene Wahrnehmungen nach.
Hart ist der erste Aufprall, mit dem der Leser in dieses Buch stürzt. Klaus Reichert, Jahrgang 1938, Anglist, ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, erläutert nämlich, warum er die Wolken erst so spät entdecken konnte. "Hast du nicht manchmal zum Himmel geblickt? Nein. Oder nur beklommen, wenn ein lauter werdendes Brummen über mir zu hören war." Es folgte ein anschwellender Bocksgesang ganz anderer Art, der sich "in einem rasenden, rasselnden Taumel austanzte und entlud". Später, als so Vieles ausgebrannt und verschmort war, kamen die Tiefflieger: "Sie sirrten sekundenschnell silbern heran, kaum das man sie hatte kommen hören, und schossen ihre Garben in den um uns aufspritzenden Schnee. Manchmal nur um Haaresbreite."
Diese Erinnerung hat lang auf ihre Formulierung warten müssen. Die Selbstzensur der deutschen Intelligenz, nicht Reicherts allein, verwehrte die Versprachlichung. Als der Krieg vorbei war, konnte der Knabe den Himmel als Himmel wahrnehmen, als er sich am Rand einer Wiese auf die Erde legte: "Und da sah ich sie über mir, zum ersten Mal wirklich und wie für mich bestimmt, die Wolken, wie sie in dicken silberweißen Haufen vor dem Blau dahinzogen, langsam, gemessen und lautlos."
Ovid hatte den Blick zum Himmel als den eigentlichen Sinn des aufrechten Gangs der Menschen behauptet. Nicht mehr Tier zu sein hieß, auf die Zeichen dort oben zu achten. Und dann ist ja das Wetter auch das uns nächste, auf Stimmungen direkt einwirkende "kosmische" Phänomen. 1911 hatte Willy Hellpach das Buch "Geopsyche" veröffentlicht, das sich gelehrt mit solchen Dingen befasste.
Klaus Reichert geht anders vor. Sein Parcours durch die Kunst- und Mythengeschichte der Wolken legt sich keinen Zwang in puncto systematischer Kohärenz auf; ein schöner Wechsel der Töne sorgt dafür, dass der Leser zwischen den Abschnitten springen und zu ihnen zurückkehren kann. "Figuren des Flüchtigen" lautet der Untertitel. Es scheint, als sei überhaupt unser Sinn für das schnell Vergängliche inzwischen gesteigert; nur deshalb - wegen eines "Flüchtigkeits-turns", würde man akademisch sagen - konnte dieses Buch so wunderbar gelingen. Aber auch deshalb, weil Reichert die Sprachen der Überlieferung - vom Hebräischen und Griechischen zu "all the christian dialects" - so vertraut sind, dass er scheinbar mühelos von der einen zur anderen springt.
Die großen Maler haben ihre Auftritte, Turner allen voran, unter den Musikern György Ligeti und Arnold Schönberg, der im Ersten Weltkrieg den Ausgang von Schlachten in den Wolkenformen las. Goethe natürlich mit seiner Hommage an Luke Howard, den Wolken-Systematisierer. Zugleich hat man in diesem Buch die schönste Erscheinung eines Spätstils. Was ist denn für die Produktivität des alten Menschen das Charakteristische? Dass Subjekt und Welt, Innen und Außen, nicht mehr wie in der Jugend hart konturiert gegeneinander stoßen, sondern in einem Höheren eingeschmolzen und legiert werden.
Und so hält es Reichert. Eigene Wolkentagebücher von überraschender Genauigkeit, über Jahrzehnte geführt, sind in die Diskussion der Mythen und der Bilder verwoben. Wenn man das Buch gelesen hat, beginnt man von einer Philosophie zu träumen, die all dies einmal einholen könnte: unsere Gemeinschaft mit der Welt. Goethe hat die Verbindungen, in seiner ganz auf die Phänomene bezogenen Sicht, sehr weit ausgelotet, von den Gesteinsformationen bis zur Wolkenlehre; und darüber hinaus bis zu den Planetensphären in der Figur der Makarie in den "Wanderjahren". Aber es müsste doch auch gedanklich zu leisten sein, ohne dabei in einem naiven (und falschen) Pantheismus zu versinken.
LORENZ JÄGER
Klaus Reichert: "Wolkendienst". Figuren des Flüchtigen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 248 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Johan Schloemann nennt Klaus Reichert einen Reisenden und Sprachtüftler, das Gegenstück zu einem Fachidioten. Die Erwartungen, die er an Reicherts "Wolkentagebuch" hat, werden allerdings nicht ganz erfüllt. Zwar entdeckt der Rezensent viele interessante Tupfer zum Thema Wolken - Essays, Notizen, Zitate und Szenen aus Mythologie, Kunst, Musik und Literatur. Reicherts eigene Wolkenbeschreibungen findet Schloemann jedoch eher ermüdend, und die lockere Form des Buches weckt in ihm den Wunsch nach einer ordnenden Hand.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2017Der Geist will aufwärts
Kumulierende Schäfchen und unheimliche Wetterzeichen: Der Literaturwissenschaftler Klaus Reichert ist dem „Wolkendienst“
verfallen – so heißt sein jüngstes Buch, das für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert ist
VON JOHAN SCHLOEMANN
Wenn Kinder Wolken malen, dann kriegen sie, die Wolken, oft ein Gesicht. Es schaut meist recht nett, pustet sich in Bilderbüchern aber auch mal bedrohlich auf. Wolken können uns frühlingsfroh anlachen oder ganz rapide kosmische Urängste freisetzen. Wolken verkünden Freiheit, aber auch: kein Zuhause. Wenn Erwachsene länger hinstarren – oft passiert das im Zug, im Auto, in den Ferien –, dann wird ihnen gerne melancholisch, oder sie fühlen etwas Erhabenes. Und vielleicht schleudert ja doch gleich einer Blitze oder Gebote oder sonst was daraus.
Man weiß ja nie – das ist die Botschaft des Himmels und seiner unsteten Gestalten. „Die Vorstellung vom strafenden, rächenden Gott in den Wolken“, so schreibt Klaus Reichert, „steckt trotz aller Wissenschaft als etwas Unabgegoltenes noch in uns, wenn wir zum Himmel schauen.“
Klaus Reichert war Akademiepräsident und Literaturprofessor, vor allem aber ist er ein unermüdlicher, neugieriger Kulturmensch, ein Sprachtüftler, Hinschauer, Leser, Reisender und Gesprächspartner, so ziemlich das Gegenteil eines Fachidioten. Und Klaus Reichert ist dem „Wolkendienst“ verfallen. So heißt sein jüngstes Buch, das um den Preis der Leipziger Buchmesse konkurriert, der nächste Woche vergeben wird. „Wolkendienst“ , das ist die Übersetzung von „service of clouds“: Mit dieser Wendung charakterisierte der englische Kunstkritiker John Ruskin Mitte des 19. Jahrhunderts die moderne Landschaftsmalerei seiner Zeit, insbesondere seinen Landsmann J. M. W. Turner.
Klaus Reichert hat seit Langem ein Wolkentagebuch geführt, und er steht damit in einer besonderen Tradition. Nachdem man allerlei Wetterzeichen, Schäfchen und Götter in den Wolken gewähnt hatte, wurde in der Neuzeit auch der Himmel wieder dem wissenschaftlichen Blick unterworfen. Nach der Klassifizierung von Pflanzen und Tieren kam im Jahr 1803 der englische Apotheker und Meteorologe Luke Howard mit seiner „Theory of Clouds“ und formulierte die Wolken-Terminologie, die bis heute verwendet wird, mit den Grundtypen Cirrus, Cumulus, Stratus und Nimbus.
„Howards Ehrengedächtnis“ heißt ein Gedicht von Goethe, der sich intensiv mit der Wolkenlehre befasste. Aber auch die Maler waren davon beeinflusst, etwa J. C. Dahl, C. W. Eckersberg (Bild oben), C. G. Carus oder John Constable, der 1821/22 jeden Tag vom Hampstead Heath in London aus die Wolkenformen festhielt und diese Tätigkeit „Skying“ nannte. An diesen Künstlern zeigt sich der enge Zusammenhang von Romantik und Naturwissenschaft, auch wenn ein ganz besonderer Wolkenmeister, Caspar David Friedrich, von der neumodischen Klassifizierung nichts wissen wollte.
Viele solche Dinge findet man in Klaus Reicherts Buch überall hingetupft, aber er hat ganz entschieden keine konventionelle Kulturgeschichte geschrieben, noch nicht mal eine unkonventionelle. Stattdessen bekommt man ein sphärisches Gemisch aus Essays, Notizen, Zitaten, Tagebucheintragungen von daheim und auf Reisen, von eigener Wortkunst, synästhetischen Erlebnissen, Szenen aus Mythologie, Kunst, Literatur und nicht zuletzt Musik, denn die Tongemälde spätromantischer und moderner Komponisten sind oft nah am schwebenden Gestaltwandel des Himmels.
Der Autor findet, man müsse das Buch nicht von vorne bis hinten durchlesen, dies „widerspräche der Diskontinuität der Wolken“. Das hat den großen Vorteil, dass man seine doch recht ermüdenden eigenen Wolkenbeschreibungen ohne schlechtes Gewissen überspringen kann: „mit eiligem Cumulusgeschiebe in der Mittelzone“ – „ein Brucknersches Ensemble“ – „Auf Kassel zu lösen sich vor dem Einheitsgrauweiß einzeln geformte Haufen in reinem Weiß heraus“. Da sind die Wolken in der Kunst leider einfach interessanter als die wirklichen, ein Problem, das Reichert auch selber zu spüren scheint.
Die Form des Buches, die seinem Gegenstand nacheifert, hat aber auch Nachteile. Es fehlt die olympische, ordnende Hand, es fehlt auch eine Metapherngeschichte, vom „Wolkenkuckucksheim“ bei Aristophanes bis zur „Cloud“, der scheinbaren Ortlosigkeit unserer Daten. Aber es gibt viele wertvolle Funde und Gedanken, auch über das beliebte Erkennen von Figuren in den Wolken und das Risiko der Fixierung durch Sprache überhaupt. In Goethes Gedicht hieß es: „Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft, / Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft“ – und am Ende: „Die Rede geht herab, denn sie beschreibt, / Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt.“
Klaus Reichert: Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 248 Seiten, 26 Euro. E-Book 22,99 Euro.
„Nun regt sich kühn des eignen
Bildens Kraft, / Die Unbestimmtes
zu Bestimmtem schafft“
Der dänische Maler C. W. Eckersberg (1783 – 1853) war einer der intensiven Himmelsbeobachter: „Studie von Wolken über dem Meer“, 1826.
Foto: Statens Museum for Kunst, www.smk.dk, public domain
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kumulierende Schäfchen und unheimliche Wetterzeichen: Der Literaturwissenschaftler Klaus Reichert ist dem „Wolkendienst“
verfallen – so heißt sein jüngstes Buch, das für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert ist
VON JOHAN SCHLOEMANN
Wenn Kinder Wolken malen, dann kriegen sie, die Wolken, oft ein Gesicht. Es schaut meist recht nett, pustet sich in Bilderbüchern aber auch mal bedrohlich auf. Wolken können uns frühlingsfroh anlachen oder ganz rapide kosmische Urängste freisetzen. Wolken verkünden Freiheit, aber auch: kein Zuhause. Wenn Erwachsene länger hinstarren – oft passiert das im Zug, im Auto, in den Ferien –, dann wird ihnen gerne melancholisch, oder sie fühlen etwas Erhabenes. Und vielleicht schleudert ja doch gleich einer Blitze oder Gebote oder sonst was daraus.
Man weiß ja nie – das ist die Botschaft des Himmels und seiner unsteten Gestalten. „Die Vorstellung vom strafenden, rächenden Gott in den Wolken“, so schreibt Klaus Reichert, „steckt trotz aller Wissenschaft als etwas Unabgegoltenes noch in uns, wenn wir zum Himmel schauen.“
Klaus Reichert war Akademiepräsident und Literaturprofessor, vor allem aber ist er ein unermüdlicher, neugieriger Kulturmensch, ein Sprachtüftler, Hinschauer, Leser, Reisender und Gesprächspartner, so ziemlich das Gegenteil eines Fachidioten. Und Klaus Reichert ist dem „Wolkendienst“ verfallen. So heißt sein jüngstes Buch, das um den Preis der Leipziger Buchmesse konkurriert, der nächste Woche vergeben wird. „Wolkendienst“ , das ist die Übersetzung von „service of clouds“: Mit dieser Wendung charakterisierte der englische Kunstkritiker John Ruskin Mitte des 19. Jahrhunderts die moderne Landschaftsmalerei seiner Zeit, insbesondere seinen Landsmann J. M. W. Turner.
Klaus Reichert hat seit Langem ein Wolkentagebuch geführt, und er steht damit in einer besonderen Tradition. Nachdem man allerlei Wetterzeichen, Schäfchen und Götter in den Wolken gewähnt hatte, wurde in der Neuzeit auch der Himmel wieder dem wissenschaftlichen Blick unterworfen. Nach der Klassifizierung von Pflanzen und Tieren kam im Jahr 1803 der englische Apotheker und Meteorologe Luke Howard mit seiner „Theory of Clouds“ und formulierte die Wolken-Terminologie, die bis heute verwendet wird, mit den Grundtypen Cirrus, Cumulus, Stratus und Nimbus.
„Howards Ehrengedächtnis“ heißt ein Gedicht von Goethe, der sich intensiv mit der Wolkenlehre befasste. Aber auch die Maler waren davon beeinflusst, etwa J. C. Dahl, C. W. Eckersberg (Bild oben), C. G. Carus oder John Constable, der 1821/22 jeden Tag vom Hampstead Heath in London aus die Wolkenformen festhielt und diese Tätigkeit „Skying“ nannte. An diesen Künstlern zeigt sich der enge Zusammenhang von Romantik und Naturwissenschaft, auch wenn ein ganz besonderer Wolkenmeister, Caspar David Friedrich, von der neumodischen Klassifizierung nichts wissen wollte.
Viele solche Dinge findet man in Klaus Reicherts Buch überall hingetupft, aber er hat ganz entschieden keine konventionelle Kulturgeschichte geschrieben, noch nicht mal eine unkonventionelle. Stattdessen bekommt man ein sphärisches Gemisch aus Essays, Notizen, Zitaten, Tagebucheintragungen von daheim und auf Reisen, von eigener Wortkunst, synästhetischen Erlebnissen, Szenen aus Mythologie, Kunst, Literatur und nicht zuletzt Musik, denn die Tongemälde spätromantischer und moderner Komponisten sind oft nah am schwebenden Gestaltwandel des Himmels.
Der Autor findet, man müsse das Buch nicht von vorne bis hinten durchlesen, dies „widerspräche der Diskontinuität der Wolken“. Das hat den großen Vorteil, dass man seine doch recht ermüdenden eigenen Wolkenbeschreibungen ohne schlechtes Gewissen überspringen kann: „mit eiligem Cumulusgeschiebe in der Mittelzone“ – „ein Brucknersches Ensemble“ – „Auf Kassel zu lösen sich vor dem Einheitsgrauweiß einzeln geformte Haufen in reinem Weiß heraus“. Da sind die Wolken in der Kunst leider einfach interessanter als die wirklichen, ein Problem, das Reichert auch selber zu spüren scheint.
Die Form des Buches, die seinem Gegenstand nacheifert, hat aber auch Nachteile. Es fehlt die olympische, ordnende Hand, es fehlt auch eine Metapherngeschichte, vom „Wolkenkuckucksheim“ bei Aristophanes bis zur „Cloud“, der scheinbaren Ortlosigkeit unserer Daten. Aber es gibt viele wertvolle Funde und Gedanken, auch über das beliebte Erkennen von Figuren in den Wolken und das Risiko der Fixierung durch Sprache überhaupt. In Goethes Gedicht hieß es: „Nun regt sich kühn des eignen Bildens Kraft, / Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft“ – und am Ende: „Die Rede geht herab, denn sie beschreibt, / Der Geist will aufwärts, wo er ewig bleibt.“
Klaus Reichert: Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 248 Seiten, 26 Euro. E-Book 22,99 Euro.
„Nun regt sich kühn des eignen
Bildens Kraft, / Die Unbestimmtes
zu Bestimmtem schafft“
Der dänische Maler C. W. Eckersberg (1783 – 1853) war einer der intensiven Himmelsbeobachter: „Studie von Wolken über dem Meer“, 1826.
Foto: Statens Museum for Kunst, www.smk.dk, public domain
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ach, es ist einfach ein herrliches Buch. Florian Illies Die Zeit 20161124