Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2008Wollust ward dem Wurm gegeben
Simon Blackburn verteidigt die schönste Todsünde
Fast möchte man von einer guten alten Zeit der Sexualmoral reden: Wie war es damals schön, als Hippokrates die Fleischeslust lediglich für die Kahlköpfigkeit verantwortlich machte. Die beim Koitus heftig erhitzten Körpersäfte, so dachte der griechische Arzt, würden die Haarwurzeln verbrennen (was von der wahren Ursache, die mit dem Sexualhormon Testosteron zu tun hat, nicht so weit entfernt ist). Später waren die vermeintlichen Folgeschäden der Wollust weniger possierlich. Krankheit und Schwächung erscheinen noch als beiläufige Verschleißeffekte, verglichen mit dem Leporello jener moralisch-sittlichen Schäden der Lust, den christliche Asketen auflisteten, Schmutzigkeit, Befleckung, Entartung, Verderbtheit... All das ist nicht neu und immer noch aktuell: In den USA verkümmert der Sexualkundeunterricht, während der Staat die Keuschheitspropaganda des „Silver-Ring-Thing” bezuschusst, obwohl das Programm nachweislich Angst und Fehlverhalten fördert.
In diese politische Stoßrichtung zielt das Brevier, das der englische Philosoph Simon Blackburn der Wollust gewidmet hat. Sein Buch, das auf einem New Yorker Vortrag fußt, ist ein klares Plädoyer für „die schönste Todsünde”. Blackburn gelingt zum einen ein Essay, der den Namen verdient, ein anschaulicher, prägnanter, amüsanter, auch persönlich gefärbter kulturgeschichtlicher Streifzug. Allerdings geht es dem Autor nicht um die mittlerweile x-te Geschichte der Sexualität. Blackburn bleibt, unbeirrt von der wuchernden historischen Sexualitätsforschung, streng an seinem Thema, an der Beschreibung und vor allem Verteidigung der Sache selbst: Der orts-, zeit- und ziellosen Lust, des wilden Zwillings der braven Liebe, des Verlangens das sich stillt in der spontanen Nummer im dunklen Flur, im wortlosen Abenteuer, zu dem sich zwei Blicke verabreden.
In solcher Lust will der Mensch nichts als sich verlieren und versinken – während die mögliche Zeugung von Kindern und selbst der Orgasmus Begleiterscheinungen sind, schöne und wichtige freilich. Diese anarchische Lust, so Blackburn, ist gleichwohl ein hohes Gut im Sinne David Humes. Der hatte als Tugend jede „geistige Eigenschaft” definiert, die ihrem Träger selbst oder „anderen nützlich oder angenehm” ist. Die Wollust, die im besten Fall gleichzeitig zweien nützt und sie erfreut, ist demnach sogar tugendhaft im mehrfachen Sinn.
Gemeinsames Musizieren
Dennoch hat sie einen schlechten Ruf. In Blackburns grob skizzierter Ge-schichte lassen sich zwei Traditionen ausmachen: Die Lust galt oft (bei Platon, eingeschränkt sogar bei Thomas von Aquin) eben nicht als das Übel an sich, sondern nur als mögliche Gefahr für den Menschen, tendiert sie doch zu Kontrollverlust und Entselbstung. Letztlich, so die Lehre, macht es aber die Dosis, nur Übermaß schadet. Dem steht als zweite Tradition eine religiöse Ideologie der radikalen Fleischesverdammung gegenüber, die das Wesen des Menschen ändern will – was noch immer zum Schlechteren geführt hat. Wenig überraschend ist die Ähnlichkeit frühchristlicher Sekten und des Silver-Ring-Thing; mehr erstaunt schon, dass auch die wissenschaftliche Erklärung der Evolutionsbiologie, die Wollust als nur genetischen Determinismus zur Fortpflanzung ansieht, in diese Tradition passt: Sie alle eint ein restriktives, die menschliche Freiheit einschränkendes Formeldenken.
Die Wollust, so Blackburn, weiß aber von den Genen genauso wenig wie sie an schreiende Säuglinge und die Mühen der Kindeserziehung denkt. Sie kann gar nicht wissen und denken, sie will nur sein und aufgehen. Darin aber vermag sie ein respektables soziales Muster zu entfalten, wie es Thomas Hobbes beschrieben hat. Er stellt das erotische Vergnügen als schönen, wechselseitigen Genuss dar, „wie gemeinsames Musizieren, wie eine harmonische Symphonie aus Freude und entsprechender Reaktion”.
Man darf die musikalische Metaphorik als Beleg nehmen, dass die Lust den Worten letzten Endes nur beschränkt zugänglich ist. Jeder autoritäre Erklärungs- und Reglementierungsversuch von Philosophie, Wissenschaft oder Religion muss an ihr scheitern. Die wahre Sprache der Lust umzingelt, deutet an, aber sie bleibt gewissermaßen vor der Schlafzimmertüre stehen. Dort hat sie genug zu tun, denn die Wollust will ja auch geschützt werden - wann ist der Mensch schwächer als in ihr?
In all dem glänzt Blackburn. Ohne Scham und Schlüpfrigkeit, ohne sich der Wonne ihrer Beschreibung hinzugeben, nennt er die Dinge beim Namen. Einen besseren Anwalt hat die Lust schwerlich. Nur ist es eben diese Grundrichtung, die das Buch wie einen leicht schrägen Schuss wirken lässt. Der europäische Leser versteht Blackburns Argumente sehr gut und weiß auch um die Gegenseite, den amerikanischen Neopuritanismus. Aber der Sittenkonflikt, der hier erahnbar ist, hat doch exotischen Züge, er berührt in etwa wie die Kritik des Julianus von Eclanum wider die Lustfeindlichkeit des Hl. Augustinus. Am Ende hat man einen vergnüglichen, klugen, gewinnbringenden Essay gelesen – allerdings über Dinge, über die man Bescheid wusste. Immerhin, die deutsche „Wahre Liebe wartet”-Bewegung hatte 2006 angeblich 10 000 Anhänger. WILHELM TRAPP
SIMON BLACKBURN: Wollust. Die schönste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 142 S., 10,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Simon Blackburn verteidigt die schönste Todsünde
Fast möchte man von einer guten alten Zeit der Sexualmoral reden: Wie war es damals schön, als Hippokrates die Fleischeslust lediglich für die Kahlköpfigkeit verantwortlich machte. Die beim Koitus heftig erhitzten Körpersäfte, so dachte der griechische Arzt, würden die Haarwurzeln verbrennen (was von der wahren Ursache, die mit dem Sexualhormon Testosteron zu tun hat, nicht so weit entfernt ist). Später waren die vermeintlichen Folgeschäden der Wollust weniger possierlich. Krankheit und Schwächung erscheinen noch als beiläufige Verschleißeffekte, verglichen mit dem Leporello jener moralisch-sittlichen Schäden der Lust, den christliche Asketen auflisteten, Schmutzigkeit, Befleckung, Entartung, Verderbtheit... All das ist nicht neu und immer noch aktuell: In den USA verkümmert der Sexualkundeunterricht, während der Staat die Keuschheitspropaganda des „Silver-Ring-Thing” bezuschusst, obwohl das Programm nachweislich Angst und Fehlverhalten fördert.
In diese politische Stoßrichtung zielt das Brevier, das der englische Philosoph Simon Blackburn der Wollust gewidmet hat. Sein Buch, das auf einem New Yorker Vortrag fußt, ist ein klares Plädoyer für „die schönste Todsünde”. Blackburn gelingt zum einen ein Essay, der den Namen verdient, ein anschaulicher, prägnanter, amüsanter, auch persönlich gefärbter kulturgeschichtlicher Streifzug. Allerdings geht es dem Autor nicht um die mittlerweile x-te Geschichte der Sexualität. Blackburn bleibt, unbeirrt von der wuchernden historischen Sexualitätsforschung, streng an seinem Thema, an der Beschreibung und vor allem Verteidigung der Sache selbst: Der orts-, zeit- und ziellosen Lust, des wilden Zwillings der braven Liebe, des Verlangens das sich stillt in der spontanen Nummer im dunklen Flur, im wortlosen Abenteuer, zu dem sich zwei Blicke verabreden.
In solcher Lust will der Mensch nichts als sich verlieren und versinken – während die mögliche Zeugung von Kindern und selbst der Orgasmus Begleiterscheinungen sind, schöne und wichtige freilich. Diese anarchische Lust, so Blackburn, ist gleichwohl ein hohes Gut im Sinne David Humes. Der hatte als Tugend jede „geistige Eigenschaft” definiert, die ihrem Träger selbst oder „anderen nützlich oder angenehm” ist. Die Wollust, die im besten Fall gleichzeitig zweien nützt und sie erfreut, ist demnach sogar tugendhaft im mehrfachen Sinn.
Gemeinsames Musizieren
Dennoch hat sie einen schlechten Ruf. In Blackburns grob skizzierter Ge-schichte lassen sich zwei Traditionen ausmachen: Die Lust galt oft (bei Platon, eingeschränkt sogar bei Thomas von Aquin) eben nicht als das Übel an sich, sondern nur als mögliche Gefahr für den Menschen, tendiert sie doch zu Kontrollverlust und Entselbstung. Letztlich, so die Lehre, macht es aber die Dosis, nur Übermaß schadet. Dem steht als zweite Tradition eine religiöse Ideologie der radikalen Fleischesverdammung gegenüber, die das Wesen des Menschen ändern will – was noch immer zum Schlechteren geführt hat. Wenig überraschend ist die Ähnlichkeit frühchristlicher Sekten und des Silver-Ring-Thing; mehr erstaunt schon, dass auch die wissenschaftliche Erklärung der Evolutionsbiologie, die Wollust als nur genetischen Determinismus zur Fortpflanzung ansieht, in diese Tradition passt: Sie alle eint ein restriktives, die menschliche Freiheit einschränkendes Formeldenken.
Die Wollust, so Blackburn, weiß aber von den Genen genauso wenig wie sie an schreiende Säuglinge und die Mühen der Kindeserziehung denkt. Sie kann gar nicht wissen und denken, sie will nur sein und aufgehen. Darin aber vermag sie ein respektables soziales Muster zu entfalten, wie es Thomas Hobbes beschrieben hat. Er stellt das erotische Vergnügen als schönen, wechselseitigen Genuss dar, „wie gemeinsames Musizieren, wie eine harmonische Symphonie aus Freude und entsprechender Reaktion”.
Man darf die musikalische Metaphorik als Beleg nehmen, dass die Lust den Worten letzten Endes nur beschränkt zugänglich ist. Jeder autoritäre Erklärungs- und Reglementierungsversuch von Philosophie, Wissenschaft oder Religion muss an ihr scheitern. Die wahre Sprache der Lust umzingelt, deutet an, aber sie bleibt gewissermaßen vor der Schlafzimmertüre stehen. Dort hat sie genug zu tun, denn die Wollust will ja auch geschützt werden - wann ist der Mensch schwächer als in ihr?
In all dem glänzt Blackburn. Ohne Scham und Schlüpfrigkeit, ohne sich der Wonne ihrer Beschreibung hinzugeben, nennt er die Dinge beim Namen. Einen besseren Anwalt hat die Lust schwerlich. Nur ist es eben diese Grundrichtung, die das Buch wie einen leicht schrägen Schuss wirken lässt. Der europäische Leser versteht Blackburns Argumente sehr gut und weiß auch um die Gegenseite, den amerikanischen Neopuritanismus. Aber der Sittenkonflikt, der hier erahnbar ist, hat doch exotischen Züge, er berührt in etwa wie die Kritik des Julianus von Eclanum wider die Lustfeindlichkeit des Hl. Augustinus. Am Ende hat man einen vergnüglichen, klugen, gewinnbringenden Essay gelesen – allerdings über Dinge, über die man Bescheid wusste. Immerhin, die deutsche „Wahre Liebe wartet”-Bewegung hatte 2006 angeblich 10 000 Anhänger. WILHELM TRAPP
SIMON BLACKBURN: Wollust. Die schönste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 142 S., 10,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2008Körper kann man nicht begehren
Simon Blackburn will freien Sex in geschützten Schlafzimmern. Dass er dabei mit Augustinus ins Gehege kommt, heizt die Wollust des Autors nur noch mehr an.
Sie sei, so der deutsche Untertitel, "die schönste Todsünde". Neben dem Schönen gibt es bekanntlich das Wahre und das Gute. Aber die Wahrheit zu suchen, ist, wenn es sie denn überhaupt gibt, mühsam. Und das Gute zu tun, kostet oft Überwindung. Das Schöne dagegen, das vielleicht besser das Angenehme hieße, weil es nicht so sehr um das Objekt, sondern um unser Gefühl geht, das Schöne dagegen gibt unserm Leben ein Ziel, das wir ganz ohne philosophische Bildung oder sittliche Erziehung rein um seiner selbst willen verfolgen.
Und wenn wir annehmen, dass der Mensch nicht unsterbliche Seele, sondern dieses je einzelne körperliche Wesen ist, das zugleich der Gemeinschaft mit anderen Menschen bedarf, muss tatsächlich die Wollust, "das intensive, frenetische Verlangen nach den Wonnen sexueller Aktivität", das Schönste sein. Alle Menschen streben von Natur aus nach Sex, so könnte man den obersten Grundsatz der Anthropologie formulieren, die der Verlag bei seinen Lesern in augenzwinkerndem Einverständnis unterstellt. Freilich bleibt es Sünde. Das Wort ist natürlich ironisch gemeint. Aber gerade seine ironische Verwendung bekundet ein vages Schuldbewusstsein oder zumindest eine Sorge vor dem Urteil der anderen, die nicht meine maximierte Lust, sondern meine Worte und Taten loben.
Ein solches schlechtes Gewissen will Simon Blackburn den Lesern mit seinem unterhaltsamen und gebildeten Bändchen ausreden. Die Wollust habe eine schlechte Presse, gelte als schwarzes Schaf neben ihren Geschwistern Liebe und Freundschaft. Doch solche Ausgrenzung räche sich. Die Sexualisierung unserer Kommerzkultur bilde in Wahrheit die Kehrseite unserer Prüderie. Darum sei nicht nur ein Plädoyer für die Wollust bedeutsam, sondern es gelte, die Ursprünge unserer Haltung aufzudecken. In der Tradition von Foucault und Nietzsche wird eine Genealogie der abendländischen Verachtung sinnlicher Lust im Gegensatz zur Verehrung der verjüngenden und lebensspendenden Kräfte der Wollust im Osten gegeben. Wobei dem Leser die gründlichen philosophie- wie kunstgeschichtlichen Kenntnisse des Autor zugutekommen.
Der Buhmann ist Augustinus. Mit seinen "schauerlichen Ansichten", seinem "Sex-Komplex", seiner "monströsen Theologie der Erbsünde" habe er das ganze Abendland mit "Lustfeindlichkeit" infiziert. Man muss dazu sagen, dass Blackburn überhaupt bei seiner Lust zu persönlichen Invektiven wenig Selbstbeherrschung walten lässt. Freud habe "in seiner erhabenen Eitelkeit" sich keine gleichberechtigte weibliche Lust vorstellen können. Sartres "perverse" Theorie einer Angst vor dem Blick des Anderen könne nur mit seinem Aussehen erklärt werden. Und bei Kants Theorie der Ehe sei es nur gut, "dass er es selbst nie ausprobiert hat". Aber zugleich weiß Blackburn sehr gut, dass bei Augustinus platonische, manichäische, paulinische Momente zusammenkommen und dass die spätantike Gesellschaft Ohren für die Botschaft gehabt haben muss. Insbesondere wird der Stoizismus als Übergangsgestalt genannt. Seine Haltung sei es, die beiden platonischen Pferde "praktisch verhungern zu lassen".
Von spätantiken Männerkreisen ist es für Blackburn nur ein kleiner Schritt zu postmodernen Frauengruppen und ihrer Kritik von Prostitution und Pornographie, deren Aufgabe doch im Kern nichts anderes sei, als Theater zu spielen und die Einbildung zu erregen. Nichts natürlicher, als sich einen Partner vorzustellen, der Dinge so bereitwillig und so enthusiastisch tut, wie es den eignen Neigungen entspricht. Solange niemandem ein Schaden daraus erwächst, sei das alles Privatsache. Das ist zweifellos richtig, aber auch ein wenig heuchlerisch, denn das verteidigte Private hat hier bereits eine normierte Gestalt. Schließlich ist das Buch geschrieben in aufklärerischer Absicht, um uns nämlich von lustfeindlichen Vorurteilen zu befreien.
Was Blackburn will, ist eine Kompartmentalisierung des Lebens. Freien Sex in geschützten Schlafzimmern. Dagegen lässt sich Augustinus schlecht verteidigen. Wobei man zugeben sollte, dass diese Freiheit sich erst in der Anonymität der Großstadt ohne schwerwiegende soziale Störung realisieren lässt. Aber geht es nicht an der eigentlichen Neuerung des Augustinus völlig vorbei? Nicht das Natürliche zu tun sei schlecht, sondern das Geistige auf eine natürliche Weise. Auch als körperliche sind wir geistige Wesen. Es ist ja völlig richtig, dass der Gedanke der Sünde aus dem Gedanken der Selbstkontrolle hervorkommt, aber nicht wie auf einem Gefälle, sondern als Konsequenz, dass der Mensch in allen seinem Tun derselbe bleibt und - mindestens sich selbst gegenüber - rechenschaftspflichtig ist.
En passant schreibt Blackburn, dass es für den Wunsch nach Sex unterschiedlichste Gründe gebe. Das ist dann für ihn etwas Uneigentliches. Aber auch in seinen Beschreibungen gelingender Sexualität hat man durchweg den Eindruck, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht: "Wir necken Menschen, um sie unwillkürlich erröten zu machen, und wir genießen es, wenn sie durch unsere Präsenz unwillkürlich erregt werden." Der Wunsch, begehrt zu werden, sei der Wunsch, "für besser gehalten zu werden, als man in Wirklichkeit ist"; "für einen Augenblick zumindest sind wir, was zu sein wir uns einbilden". Wir nehmen im sexuellen Spiel "infantile Formen" an, aber so, dass wir uns trotzdem völlig sicher fühlen. In sadomasochistischen Spielen "äußert sich der Wunsch nach Sicherheit und Vertrauen".
Was hat das alles mit Wollust als dem "enthusiastischen Begehren des Körpers nach sexueller Aktivität um ihrer selbst willen" zu tun? Wir wollen Macht genießen oder uns erniedrigen, bewundert oder umsorgt werden. Trotz seiner Abneigung gegen Sartre meint auch Blackburn, dass Sexualität das Geheime sucht, weil es einfach zu peinlich sei, in albernen Spielen oder abstrusen Posen beobachtet zu werden. Aber warum sollte es uns peinlich sein, wenn es doch keine Sünde mehr ist? Nein, es ist uns peinlich, weil wir vor anderen nicht und nicht einmal vor uns selbst zugeben wollen, dass unsere tiefsten Wünsche und Ängste uns als einen ganz anderen zeigen, als wir vorgeben zu sein. Weit entfernt, die Lust als das Schönste zu betreiben, bleiben wir Sünder zumindest in dem Sinne, dass wir das Geistige als Natürliches behandeln und uns darin über uns selbst täuschen. Das Natürliche als Natürliches behandeln zu können setzt den paradiesischen Zustand der Liebe voraus.
GUSTAV FALKE
Simon Blackburn: "Wollust". Die schönste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Wagenbach Verlag, Berlin 2008. 144 S., 20 Abb., br., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Simon Blackburn will freien Sex in geschützten Schlafzimmern. Dass er dabei mit Augustinus ins Gehege kommt, heizt die Wollust des Autors nur noch mehr an.
Sie sei, so der deutsche Untertitel, "die schönste Todsünde". Neben dem Schönen gibt es bekanntlich das Wahre und das Gute. Aber die Wahrheit zu suchen, ist, wenn es sie denn überhaupt gibt, mühsam. Und das Gute zu tun, kostet oft Überwindung. Das Schöne dagegen, das vielleicht besser das Angenehme hieße, weil es nicht so sehr um das Objekt, sondern um unser Gefühl geht, das Schöne dagegen gibt unserm Leben ein Ziel, das wir ganz ohne philosophische Bildung oder sittliche Erziehung rein um seiner selbst willen verfolgen.
Und wenn wir annehmen, dass der Mensch nicht unsterbliche Seele, sondern dieses je einzelne körperliche Wesen ist, das zugleich der Gemeinschaft mit anderen Menschen bedarf, muss tatsächlich die Wollust, "das intensive, frenetische Verlangen nach den Wonnen sexueller Aktivität", das Schönste sein. Alle Menschen streben von Natur aus nach Sex, so könnte man den obersten Grundsatz der Anthropologie formulieren, die der Verlag bei seinen Lesern in augenzwinkerndem Einverständnis unterstellt. Freilich bleibt es Sünde. Das Wort ist natürlich ironisch gemeint. Aber gerade seine ironische Verwendung bekundet ein vages Schuldbewusstsein oder zumindest eine Sorge vor dem Urteil der anderen, die nicht meine maximierte Lust, sondern meine Worte und Taten loben.
Ein solches schlechtes Gewissen will Simon Blackburn den Lesern mit seinem unterhaltsamen und gebildeten Bändchen ausreden. Die Wollust habe eine schlechte Presse, gelte als schwarzes Schaf neben ihren Geschwistern Liebe und Freundschaft. Doch solche Ausgrenzung räche sich. Die Sexualisierung unserer Kommerzkultur bilde in Wahrheit die Kehrseite unserer Prüderie. Darum sei nicht nur ein Plädoyer für die Wollust bedeutsam, sondern es gelte, die Ursprünge unserer Haltung aufzudecken. In der Tradition von Foucault und Nietzsche wird eine Genealogie der abendländischen Verachtung sinnlicher Lust im Gegensatz zur Verehrung der verjüngenden und lebensspendenden Kräfte der Wollust im Osten gegeben. Wobei dem Leser die gründlichen philosophie- wie kunstgeschichtlichen Kenntnisse des Autor zugutekommen.
Der Buhmann ist Augustinus. Mit seinen "schauerlichen Ansichten", seinem "Sex-Komplex", seiner "monströsen Theologie der Erbsünde" habe er das ganze Abendland mit "Lustfeindlichkeit" infiziert. Man muss dazu sagen, dass Blackburn überhaupt bei seiner Lust zu persönlichen Invektiven wenig Selbstbeherrschung walten lässt. Freud habe "in seiner erhabenen Eitelkeit" sich keine gleichberechtigte weibliche Lust vorstellen können. Sartres "perverse" Theorie einer Angst vor dem Blick des Anderen könne nur mit seinem Aussehen erklärt werden. Und bei Kants Theorie der Ehe sei es nur gut, "dass er es selbst nie ausprobiert hat". Aber zugleich weiß Blackburn sehr gut, dass bei Augustinus platonische, manichäische, paulinische Momente zusammenkommen und dass die spätantike Gesellschaft Ohren für die Botschaft gehabt haben muss. Insbesondere wird der Stoizismus als Übergangsgestalt genannt. Seine Haltung sei es, die beiden platonischen Pferde "praktisch verhungern zu lassen".
Von spätantiken Männerkreisen ist es für Blackburn nur ein kleiner Schritt zu postmodernen Frauengruppen und ihrer Kritik von Prostitution und Pornographie, deren Aufgabe doch im Kern nichts anderes sei, als Theater zu spielen und die Einbildung zu erregen. Nichts natürlicher, als sich einen Partner vorzustellen, der Dinge so bereitwillig und so enthusiastisch tut, wie es den eignen Neigungen entspricht. Solange niemandem ein Schaden daraus erwächst, sei das alles Privatsache. Das ist zweifellos richtig, aber auch ein wenig heuchlerisch, denn das verteidigte Private hat hier bereits eine normierte Gestalt. Schließlich ist das Buch geschrieben in aufklärerischer Absicht, um uns nämlich von lustfeindlichen Vorurteilen zu befreien.
Was Blackburn will, ist eine Kompartmentalisierung des Lebens. Freien Sex in geschützten Schlafzimmern. Dagegen lässt sich Augustinus schlecht verteidigen. Wobei man zugeben sollte, dass diese Freiheit sich erst in der Anonymität der Großstadt ohne schwerwiegende soziale Störung realisieren lässt. Aber geht es nicht an der eigentlichen Neuerung des Augustinus völlig vorbei? Nicht das Natürliche zu tun sei schlecht, sondern das Geistige auf eine natürliche Weise. Auch als körperliche sind wir geistige Wesen. Es ist ja völlig richtig, dass der Gedanke der Sünde aus dem Gedanken der Selbstkontrolle hervorkommt, aber nicht wie auf einem Gefälle, sondern als Konsequenz, dass der Mensch in allen seinem Tun derselbe bleibt und - mindestens sich selbst gegenüber - rechenschaftspflichtig ist.
En passant schreibt Blackburn, dass es für den Wunsch nach Sex unterschiedlichste Gründe gebe. Das ist dann für ihn etwas Uneigentliches. Aber auch in seinen Beschreibungen gelingender Sexualität hat man durchweg den Eindruck, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht: "Wir necken Menschen, um sie unwillkürlich erröten zu machen, und wir genießen es, wenn sie durch unsere Präsenz unwillkürlich erregt werden." Der Wunsch, begehrt zu werden, sei der Wunsch, "für besser gehalten zu werden, als man in Wirklichkeit ist"; "für einen Augenblick zumindest sind wir, was zu sein wir uns einbilden". Wir nehmen im sexuellen Spiel "infantile Formen" an, aber so, dass wir uns trotzdem völlig sicher fühlen. In sadomasochistischen Spielen "äußert sich der Wunsch nach Sicherheit und Vertrauen".
Was hat das alles mit Wollust als dem "enthusiastischen Begehren des Körpers nach sexueller Aktivität um ihrer selbst willen" zu tun? Wir wollen Macht genießen oder uns erniedrigen, bewundert oder umsorgt werden. Trotz seiner Abneigung gegen Sartre meint auch Blackburn, dass Sexualität das Geheime sucht, weil es einfach zu peinlich sei, in albernen Spielen oder abstrusen Posen beobachtet zu werden. Aber warum sollte es uns peinlich sein, wenn es doch keine Sünde mehr ist? Nein, es ist uns peinlich, weil wir vor anderen nicht und nicht einmal vor uns selbst zugeben wollen, dass unsere tiefsten Wünsche und Ängste uns als einen ganz anderen zeigen, als wir vorgeben zu sein. Weit entfernt, die Lust als das Schönste zu betreiben, bleiben wir Sünder zumindest in dem Sinne, dass wir das Geistige als Natürliches behandeln und uns darin über uns selbst täuschen. Das Natürliche als Natürliches behandeln zu können setzt den paradiesischen Zustand der Liebe voraus.
GUSTAV FALKE
Simon Blackburn: "Wollust". Die schönste Todsünde. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Wagenbach Verlag, Berlin 2008. 144 S., 20 Abb., br., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Augenzwinkern, mit dem Simon Blackburn in seinem Buch Sex als oberstes menschliches Bedürfnis und zugleich als Sünde ausgibt, ist Rezensent Gustav Falke nicht entgangen. Falke folgt dem Autor bei seinem Versuch, uns mit Hilfe philosophie- und kunstgeschichtlicher Exkurse das schlechte Gewissen auszureden. Spätantike Männerbünde wie auch postmoderne Frauengruppen würde Falke allerdings gerne in Schutz nehmen vor den Schuldzuweisungsversuchen des Autors. Nicht zuletzt auch angesichts von Blackburns Beschreibungen gelingender Sexualität wird der Rezensent den Verdacht nicht los, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht als um die Sündhaftigkeit von Wollust, nämlich um die geheimen Bedürfnisse dahinter - Macht oder Sicherheit zum Beispiel. Falke jedenfalls ahnt: Das Natürliche, nicht das Geistige, als Natürliches zu behandeln, wäre die Aufgabe; und die Liebe wäre eine Voraussetzung dafür.
© Perlentaucher Medien GmbH
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