Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.1998Und ewig rauscht die Kontingenz
Widerspruch gegen Stephen Jay Goulds Deutung der Evolution des Lebens
Weniges stürzt Erforscher der Naturgeschichte in größere Verwirrung als das Auftauchen merkwürdiger und unerwarteter Kreaturen. Im achtzehnten Jahrhundert war es das Schnabeltier, das alle geläufigen Klassifikationen in Frage stellte, in unserem Jahrhundert sind es 520 Millionen Jahre alte Fossilien aus dem mittleren Kambrium mit so poetischen Namen wie Hallucigenia, Aysheaia oder Wiwaxia, die für so manche heftige und leider auch unschöne Diskussion verantwortlich sind. Diese Fossilien des kanadischen Burgess-Schiefers fristeten in den acht Jahrzehnten seit ihrer Entdeckung durch Charles Doolittle Walcott im Jahre 1909 ein friedliches Dasein in der hermetischen Welt der Paläontologen. 1989 wies Stephen Jay Gould in seinem Bestseller "Wonderful Life" (Zufall Mensch, Carl Hanser Verlag, München 1991) diesen Tieren jedoch die Rolle zu, die geläufige Vorstellung von der Entwicklung des Lebens in Frage zu stellen.
Gould sah die Geschichte des Lebens als vom Zufall bestimmt. Deterministische Signale wie evolutionärer Fortschritt und schrittweises Auffüllen ökologischer Nischen seien in dem Rauschen der Kontingenz kaum wahrzunehmen. Der Baum des Lebens verzweigte sich im Kambrium, so Gould, so stark wie nie wieder, und viele Zweige wurden nach einer kurzen Zeit gekappt, ohne irgendwelche Nachfahren zu hinterlassen. Auch der Mensch sei nichts anderes als ein außerordentlich unwahrscheinliches evolutives Ereignis im unermeßlichen Reich der Bedingtheit.
In diesem Ereignis sieht er allerdings die Quelle für Freiheit und moralisches Verantwortungsbewußtsein. Nach einigen Jahren relativer Ruhe und viel wissenschaftlicher Detailarbeit kehren die Burgess-Fossilien nun wieder ans Licht der Öffentlichkeit zurück. Simon Conway Morris, der seine wissenschaftliche Karriere den kambrischen Fossilien widmete und einer der "Helden" in Goulds Buch war, zeigt sich irritiert von den Schlußfolgerungen Goulds und legt seine Version des Evolutionsgeschehens dar (Simon Conway Morris, "The Crucible of Creation. The Burgess Shale and the Rise of Animals", Oxford University Press 1998).
Im Gegensatz zu Goulds Betonung des Zufalls erweist sich Conway Morris als Advokat der Notwendigkeit, und er sieht die "kambrische Explosion" nicht als Ereignis, das einer besonderen Eklärung bedürfte. Sein Schlagwort ist "Konvergenz", das heißt die Evolution von ähnlichen morphologischen und physiologischen Eigenschaften in nicht verwandten Organismen. Die ökologischen Bedingungen erlaubten immer nur eine begrenzte und ziemlich gut bekannte Anzahl von "Designs", von Bauplänen. Ein schnell schwimmender Meeresbewohner muß eben wie ein Delphin geformt sein, ein Raubtier oft wie ein Tiger aussehen, ob Säuge- oder Beuteltier. Selbst wenn man das Band des Lebens noch einmal im Kambrium starten würde, würde uns die Gegenwart mit ihren Lebewesen doch irgendwie bekannt vorkommen.
Conway Morris akzeptiert auch nicht Goulds Idee, daß im Kambrium die Evolution weniger eingeschränkt war, daß die Genetik mehr Spielraum bei der Entstehung von Formen ließ. In der vorkambrischen Zeit waren Lebewesen noch nicht komplex genug, um alle Nischen aufzufüllen. Die Vielfalt des Lebens war begrenzt durch einfache genetische Organisation der Baupläne. Mit der Burgess-Fauna manifestierte sich dann, so Conway Morris, zum ersten Mal eine genetische Architektur, die sich bis heute erhalten habe und die die Ökologie zum Motor der Diversifizierung machte. Räuber-Beute-Beziehungen gaben den Startschuß zum evolutionären Wettlauf, und seither haben sich die grundlegenden Mechanismen der Evolution nicht verändert.
Die Fossilienwelt des Burgess-Schiefers hat wenig von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Diese Tiere sind immer noch eine Leinwand, auf die sich fast alle zeitgenössischen Kontroversen in der Evolutionsbiologie projizieren lassen. Das Buch von Conway Morris hat in einer Vielzahl von Rezensionen unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Ein alter Mitstreiter Goulds, der Paläontologe Niles Eldredge, zeigt sich im Times Literary Supplement (23. Oktober 1998) überrascht darüber, daß man gleichzeitig dem Determinismus verfallene "Ultra-Darwinisten" wie Richard Dawkins und Daniel Dennett und auch Stephen Jay Gould kritisieren könne. Er präsentiert damit eine interessante eigene Version des Determinismus. Eine Kritik Goulds bedeutet also automatisch, daß man den Predigern eines universellen Adaptationismus folgt.
Richard Fortey vom Natural History Museum in London übt sich dagegen im London Review of Books (1. Oktober 1998) in einem milden Sarkasmus. Vor mehr als zehn Jahren verbreitete Conway Morris in der Fachliteratur noch die Botschaft, die Gould dann in seinem Bestseller popularisierte, doch nun verhalte er sich, als leide er unter selektivem Gedächtnisverlust. Fortey spekuliert, daß Conway Morris sich peinlich berührt fühle, daß viele seiner frühen und falschen Ideen zur morphologischen Rekonstruktion der Fossilien in den Seiten eines Bestsellers verewigt wurden und er nun den untauglichen Versuch unternehme, das Bild zurechtzurücken.
Die Arbeiten von Conway Morris verhelfen den Burgess-Fossilien zu dem ihnen zustehenden Platz im Reich der Organismen und nehmen ihnen endlich den Status des unerklärlich Fremden. Leider unterschlägt er dabei die gewundenen Pfade und Sackgassen, die er und andere Wissenschaftler betraten, bis sie endlich zu dem neuen Bild fanden. THOMAS WEBER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Widerspruch gegen Stephen Jay Goulds Deutung der Evolution des Lebens
Weniges stürzt Erforscher der Naturgeschichte in größere Verwirrung als das Auftauchen merkwürdiger und unerwarteter Kreaturen. Im achtzehnten Jahrhundert war es das Schnabeltier, das alle geläufigen Klassifikationen in Frage stellte, in unserem Jahrhundert sind es 520 Millionen Jahre alte Fossilien aus dem mittleren Kambrium mit so poetischen Namen wie Hallucigenia, Aysheaia oder Wiwaxia, die für so manche heftige und leider auch unschöne Diskussion verantwortlich sind. Diese Fossilien des kanadischen Burgess-Schiefers fristeten in den acht Jahrzehnten seit ihrer Entdeckung durch Charles Doolittle Walcott im Jahre 1909 ein friedliches Dasein in der hermetischen Welt der Paläontologen. 1989 wies Stephen Jay Gould in seinem Bestseller "Wonderful Life" (Zufall Mensch, Carl Hanser Verlag, München 1991) diesen Tieren jedoch die Rolle zu, die geläufige Vorstellung von der Entwicklung des Lebens in Frage zu stellen.
Gould sah die Geschichte des Lebens als vom Zufall bestimmt. Deterministische Signale wie evolutionärer Fortschritt und schrittweises Auffüllen ökologischer Nischen seien in dem Rauschen der Kontingenz kaum wahrzunehmen. Der Baum des Lebens verzweigte sich im Kambrium, so Gould, so stark wie nie wieder, und viele Zweige wurden nach einer kurzen Zeit gekappt, ohne irgendwelche Nachfahren zu hinterlassen. Auch der Mensch sei nichts anderes als ein außerordentlich unwahrscheinliches evolutives Ereignis im unermeßlichen Reich der Bedingtheit.
In diesem Ereignis sieht er allerdings die Quelle für Freiheit und moralisches Verantwortungsbewußtsein. Nach einigen Jahren relativer Ruhe und viel wissenschaftlicher Detailarbeit kehren die Burgess-Fossilien nun wieder ans Licht der Öffentlichkeit zurück. Simon Conway Morris, der seine wissenschaftliche Karriere den kambrischen Fossilien widmete und einer der "Helden" in Goulds Buch war, zeigt sich irritiert von den Schlußfolgerungen Goulds und legt seine Version des Evolutionsgeschehens dar (Simon Conway Morris, "The Crucible of Creation. The Burgess Shale and the Rise of Animals", Oxford University Press 1998).
Im Gegensatz zu Goulds Betonung des Zufalls erweist sich Conway Morris als Advokat der Notwendigkeit, und er sieht die "kambrische Explosion" nicht als Ereignis, das einer besonderen Eklärung bedürfte. Sein Schlagwort ist "Konvergenz", das heißt die Evolution von ähnlichen morphologischen und physiologischen Eigenschaften in nicht verwandten Organismen. Die ökologischen Bedingungen erlaubten immer nur eine begrenzte und ziemlich gut bekannte Anzahl von "Designs", von Bauplänen. Ein schnell schwimmender Meeresbewohner muß eben wie ein Delphin geformt sein, ein Raubtier oft wie ein Tiger aussehen, ob Säuge- oder Beuteltier. Selbst wenn man das Band des Lebens noch einmal im Kambrium starten würde, würde uns die Gegenwart mit ihren Lebewesen doch irgendwie bekannt vorkommen.
Conway Morris akzeptiert auch nicht Goulds Idee, daß im Kambrium die Evolution weniger eingeschränkt war, daß die Genetik mehr Spielraum bei der Entstehung von Formen ließ. In der vorkambrischen Zeit waren Lebewesen noch nicht komplex genug, um alle Nischen aufzufüllen. Die Vielfalt des Lebens war begrenzt durch einfache genetische Organisation der Baupläne. Mit der Burgess-Fauna manifestierte sich dann, so Conway Morris, zum ersten Mal eine genetische Architektur, die sich bis heute erhalten habe und die die Ökologie zum Motor der Diversifizierung machte. Räuber-Beute-Beziehungen gaben den Startschuß zum evolutionären Wettlauf, und seither haben sich die grundlegenden Mechanismen der Evolution nicht verändert.
Die Fossilienwelt des Burgess-Schiefers hat wenig von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Diese Tiere sind immer noch eine Leinwand, auf die sich fast alle zeitgenössischen Kontroversen in der Evolutionsbiologie projizieren lassen. Das Buch von Conway Morris hat in einer Vielzahl von Rezensionen unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Ein alter Mitstreiter Goulds, der Paläontologe Niles Eldredge, zeigt sich im Times Literary Supplement (23. Oktober 1998) überrascht darüber, daß man gleichzeitig dem Determinismus verfallene "Ultra-Darwinisten" wie Richard Dawkins und Daniel Dennett und auch Stephen Jay Gould kritisieren könne. Er präsentiert damit eine interessante eigene Version des Determinismus. Eine Kritik Goulds bedeutet also automatisch, daß man den Predigern eines universellen Adaptationismus folgt.
Richard Fortey vom Natural History Museum in London übt sich dagegen im London Review of Books (1. Oktober 1998) in einem milden Sarkasmus. Vor mehr als zehn Jahren verbreitete Conway Morris in der Fachliteratur noch die Botschaft, die Gould dann in seinem Bestseller popularisierte, doch nun verhalte er sich, als leide er unter selektivem Gedächtnisverlust. Fortey spekuliert, daß Conway Morris sich peinlich berührt fühle, daß viele seiner frühen und falschen Ideen zur morphologischen Rekonstruktion der Fossilien in den Seiten eines Bestsellers verewigt wurden und er nun den untauglichen Versuch unternehme, das Bild zurechtzurücken.
Die Arbeiten von Conway Morris verhelfen den Burgess-Fossilien zu dem ihnen zustehenden Platz im Reich der Organismen und nehmen ihnen endlich den Status des unerklärlich Fremden. Leider unterschlägt er dabei die gewundenen Pfade und Sackgassen, die er und andere Wissenschaftler betraten, bis sie endlich zu dem neuen Bild fanden. THOMAS WEBER
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A masterpiece of analysis and imagination...It centres on a sensational discovery in the field of palaeontology - the existence, in the Burgess Shale... of 530-million-year-old fossils unique in age, preservation and diversity...With skill and passion, Gould takes this mute collection of fossils and makes them speak to us. The result challenges some of our most cherished self-perceptions and urges a fundamental re-assessment of our place in the history of life on earth Sunday Times