Amar hat es sich nicht ausgesucht, einziger Sohn und Stolz der Familie zu sein. Wenn er gegen seine muslimischen Eltern rebelliert, ist es seine ältere Schwester Hadia, die ihn schützt. Bis sie sich fragt: wovor eigentlich? Vor den Möglichkeiten, die sie nicht hat? Nach einem Streit mit dem Vater läuft Amar von zu Hause weg. Und Hadia nimmt nach und nach seinen Platz ein. Drei Jahre später heiratet sie einen Mann ihrer eigenen Wahl: für die Familie die Chance, sich neu zu erfinden. Doch dann kehrt Amar zurück.
Das Bemerkenswerte an Mirzas Roman: sie betont nicht die Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und muslimischen Kultur, sondern zeigt anhand vieler scheinbar unbedeutender Alltagsbeispiele die Gemeinsamkeiten. Britta Spichiger SRF 2 20190808
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Fasziniert hat Rezensentin Birgit Koß diesen amerikanischen Familienroman gelesen, in dem die Autorin laut ihr ihre eigene Familiensituation als Tochter muslimischer, indisch-stämmiger Migranten verarbeitet hat. Anhand dreier Geschwister, deren Eltern und Freunden fächert die Autorin der Kritikerin zufolge das Aufwachsen mit vielfältigen Prägungen auf, durch das die Geschwister ihren Weg suchen. Selten genug bekomme man einen so tiefen Einblick in die psychologischen Auswirkungen einer so komplexen kulturellen Situation, lobt die begeisterte Kritikerin das Debüt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.06.2019Auf Urdu klingt alles trauriger
Die junge amerikanische Autorin Fatima Farheen Mirza sucht noch ihren Ton, ihr Debütroman ist trotzdem schon ein Bestseller
Dass sich die Rollenverteilung in der Familie auf das eigene Leben auswirkt, gehört zu den fundamentalen Glaubensbekenntnissen des Alltagswissens. Es braucht gar nicht zu stimmen, als Zuschreibung ist es auf jeden Fall wirkungsvoll. Alles klar, Einzelkind, lautet eine beliebte Diagnose. Die 1991 geborene Kalifornierin Fatima Farheen Mirza ist die älteste Schwester von drei jüngeren Brüdern. Die Familienkonstellation ihres Debütromans hat sie dennoch ein wenig anders angelegt.
„Worauf wir hoffen“ wurde letztes Jahr von Sarah Jessica Parker als erstes Buch ihres Imprints bei Hogarth in New York präsentiert und kam auf die Bestseller-Liste der New York Times. „A place for us“, wie der Roman im Original heißt, ist eine liebevolle Familienaufstellung. Die Eltern stammen aus Südindien, die drei Kinder wachsen in einer kalifornischen Kleinstadt auf. Die Hochzeit der ältesten Tochter ist der effektvolle Startschuss des Romans. Sie lässt die Konflikte und Dynamiken der Familie erahnen, ohne schon allzu viel zu verraten.
Die Handlung wird nicht chronologisch erzählt. Sie setzt sich wie ein Mosaik aus Zeitsprüngen und wechselnden Perspektiven zusammen. Die Autorin, die ihren Roman mit achtzehn Jahren begann, hat am berühmten Iowa Writers‘ Workshop studiert. Sie beherrscht ihr Handwerk und die Kunst der Einfühlung. Erstaunlich, wie differenziert sie die Konflikte der Eltern beschreibt, wenn sie den Islam und die Kultur ihres Herkunftslands einsetzen, um ihre Kinder durch den amerikanischen Alltag zu manövrieren.
„Wie kann man wissen, welche Momente einen Menschen prägen?“, ist einer der Schlüsselsätze des Romans. Er fällt ungefähr in der Mitte, in einem Gespräch zwischen Hadia und Huda, den beiden Schwestern, die sich überlegen, an welchem Punkt es für Amar, den kleinen Bruder, und damit für die ganze Familie schiefgelaufen ist.
Als einziger Sohn und jüngstes Kind hatte er immer einen Sonderstatus. Die Mädchen waren Vater-Töchter, er war der Mutter näher. Schon seine Geburt war kompliziert, in der Grundschule war er ständig im Krankenzimmer, am liebsten wäre er jeden Morgen schon am Schultor umge-kehrt. Er war das sensibelste Kind der Familie, sehr nachdenklich, alles wirkte lange in ihm nach. Irgendwann wird sich herausstellen, dass es ausgerechnet die religiösen Geschichten waren, die ihn nachhaltig verstörten. Etwa die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern, die sich nicht nur in der Bibel, sondern auch im Koran findet, und erst recht die Vorstellung der Hölle. Von den Eltern getrennt zu werden und sie womöglich nie mehr wieder zu finden – oder im Himmel nicht von ihnen erkannt zu werden –, bereitete ihm höchste Pein.
„Worauf wir hoffen“ ist auch ein Roman über die Probleme der zweiten Generation einer eingewanderten Familie. Die Familie verkehrt in der muslimischen Gemeinde, ihr Schicksal ist eng mit dem einer anderen muslimischen Familie verknüpft, den vermögenden Alis, und schließlich wird sich Amar gegen den Islam stellen, weil er seinen Glauben verloren hat. Der Rassismus und die Vorurteile, unter denen die Familie nach den Anschlägen vom 11. September leidet, setzen ihm am meisten zu. In der Schule wird er gemobbt und verprügelt.
Die Sorgfalt, mit der die Debütantin die unkalkulierbaren Momente beschreibt, in denen sich Lebensläufe entscheiden, nimmt für ihren Roman ein. Schlüsselszenen gibt es in jeder Familie und Biografie. Meistens stellen sie sich für jedes Familienmitglied anders dar. Genau daraus schlägt Fatima Farheen Mirza literarisches Kapital. Indem sie ihren Roman aus verschiedenen Perspektiven erzählt, gibt es keine objektive Geschichte, nur die Nöte des Einzelnen, die sich unter Umständen unheilvoll auf die anderen auswirken.
Hadia, die älteste Schwester, ist Amars engste Vertraute. Aber sie ist auch seine größte Konkurrentin. Denn sie ist ehrgeizig, pragmatisch und will sich auf keinen Fall mit einer arrangierten Ehe abfinden. Sie weiß, dass sie dem vorgezeichneten Lebensentwurf nur entkommt, wenn sie gut in der Schule ist und ein Fach studiert, dem die Eltern ihre Zustimmung nicht verweigern können. Also strengt sie sich an und studiert Medizin. Die Uhr des früh verstorbenen Großvaters, die der Vater als einzige Erinnerung hütet, wird zum Symbol der Geschwisterkonkurrenz. Für Hadia ist klar, dass der Bruder sie bekommen wird, ganz egal, wie sehr sie sich anstrengt. Für Amar ist die Tatsache, dass Hadia sie schließlich doch bekommt, ein weiterer Grund, sich ausgeschlossen zu fühlen.
Es geht um Eifersucht und Verrat unter Geschwistern, um die prägende Erfah-rung der ersten Liebe und auch um das Unheil, das Eltern anrichten können, wenn sie in das Leben ihrer heranwachsenden Kinder eingreifen. Als Amar endlich Ehrgeiz entwickelt, unterbindet seine Mutter den Kontakt zur Tochter der befreundeten Familie, indem sie deren Mutter von den heimlichen Treffen der beiden Jugendlichen erzählt. Dabei hat sich Amar nur angestrengt, um eines Tages ein würdiger Heiratskandidat für Amira zu sein.
„Worauf wir hoffen“ reicht zeitlich über die Hochzeit Hadias mit Tarik hinaus, dem Ehemann, den sie sich selbst ausgesucht hat. Der Roman kontrastiert die gleichberechtigte Elternschaft der jüngeren Generation mit der Elternrolle, der sich Laila und Rafik noch verpflichtet fühlten. Die Innenwelt Rafiks, des Vaters, lernen wir erst richtig kennen, als er zu Untersuchungen im Krankenhaus seiner Tochter liegt. Bis zum Schluss hofft er auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes, der offenbar noch rechtzeitig seine Drogenkarriere beendet hat.
Die „geheime Welt“ der Empfindungen bleibt für Hadia mit Urdu verbunden, der Familiensprache, die sie mit Tarik vermisst. In ihr klinge alles „trauriger“, heißt es einmal. Fatima Farheen Mirza ist ohne Zweifel ein großes Talent. Den eigenen Ton hat sie noch nicht gefunden. „Worauf wir hoffen“ ist ein Familienroman von sympathischer Ausgewogenheit. Ein wenig haftet ihm noch der Flaum des Jugendromans an.
MEIKE FESSMANN
Fatima Farheen Mirza: Worauf wir hoffen. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Hübner. dtv, München 2019. 480 Seiten, 24 Euro.
„Wie kann man wissen,
welche Momente
einen Menschen prägen?“
Absolventin des renommierten Iowa Writers’ Workhop: die 1991 geborene Kalifornierin Fatima Farheen Mirza.
Foto: Jürgen Frank / dtv
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Die junge amerikanische Autorin Fatima Farheen Mirza sucht noch ihren Ton, ihr Debütroman ist trotzdem schon ein Bestseller
Dass sich die Rollenverteilung in der Familie auf das eigene Leben auswirkt, gehört zu den fundamentalen Glaubensbekenntnissen des Alltagswissens. Es braucht gar nicht zu stimmen, als Zuschreibung ist es auf jeden Fall wirkungsvoll. Alles klar, Einzelkind, lautet eine beliebte Diagnose. Die 1991 geborene Kalifornierin Fatima Farheen Mirza ist die älteste Schwester von drei jüngeren Brüdern. Die Familienkonstellation ihres Debütromans hat sie dennoch ein wenig anders angelegt.
„Worauf wir hoffen“ wurde letztes Jahr von Sarah Jessica Parker als erstes Buch ihres Imprints bei Hogarth in New York präsentiert und kam auf die Bestseller-Liste der New York Times. „A place for us“, wie der Roman im Original heißt, ist eine liebevolle Familienaufstellung. Die Eltern stammen aus Südindien, die drei Kinder wachsen in einer kalifornischen Kleinstadt auf. Die Hochzeit der ältesten Tochter ist der effektvolle Startschuss des Romans. Sie lässt die Konflikte und Dynamiken der Familie erahnen, ohne schon allzu viel zu verraten.
Die Handlung wird nicht chronologisch erzählt. Sie setzt sich wie ein Mosaik aus Zeitsprüngen und wechselnden Perspektiven zusammen. Die Autorin, die ihren Roman mit achtzehn Jahren begann, hat am berühmten Iowa Writers‘ Workshop studiert. Sie beherrscht ihr Handwerk und die Kunst der Einfühlung. Erstaunlich, wie differenziert sie die Konflikte der Eltern beschreibt, wenn sie den Islam und die Kultur ihres Herkunftslands einsetzen, um ihre Kinder durch den amerikanischen Alltag zu manövrieren.
„Wie kann man wissen, welche Momente einen Menschen prägen?“, ist einer der Schlüsselsätze des Romans. Er fällt ungefähr in der Mitte, in einem Gespräch zwischen Hadia und Huda, den beiden Schwestern, die sich überlegen, an welchem Punkt es für Amar, den kleinen Bruder, und damit für die ganze Familie schiefgelaufen ist.
Als einziger Sohn und jüngstes Kind hatte er immer einen Sonderstatus. Die Mädchen waren Vater-Töchter, er war der Mutter näher. Schon seine Geburt war kompliziert, in der Grundschule war er ständig im Krankenzimmer, am liebsten wäre er jeden Morgen schon am Schultor umge-kehrt. Er war das sensibelste Kind der Familie, sehr nachdenklich, alles wirkte lange in ihm nach. Irgendwann wird sich herausstellen, dass es ausgerechnet die religiösen Geschichten waren, die ihn nachhaltig verstörten. Etwa die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern, die sich nicht nur in der Bibel, sondern auch im Koran findet, und erst recht die Vorstellung der Hölle. Von den Eltern getrennt zu werden und sie womöglich nie mehr wieder zu finden – oder im Himmel nicht von ihnen erkannt zu werden –, bereitete ihm höchste Pein.
„Worauf wir hoffen“ ist auch ein Roman über die Probleme der zweiten Generation einer eingewanderten Familie. Die Familie verkehrt in der muslimischen Gemeinde, ihr Schicksal ist eng mit dem einer anderen muslimischen Familie verknüpft, den vermögenden Alis, und schließlich wird sich Amar gegen den Islam stellen, weil er seinen Glauben verloren hat. Der Rassismus und die Vorurteile, unter denen die Familie nach den Anschlägen vom 11. September leidet, setzen ihm am meisten zu. In der Schule wird er gemobbt und verprügelt.
Die Sorgfalt, mit der die Debütantin die unkalkulierbaren Momente beschreibt, in denen sich Lebensläufe entscheiden, nimmt für ihren Roman ein. Schlüsselszenen gibt es in jeder Familie und Biografie. Meistens stellen sie sich für jedes Familienmitglied anders dar. Genau daraus schlägt Fatima Farheen Mirza literarisches Kapital. Indem sie ihren Roman aus verschiedenen Perspektiven erzählt, gibt es keine objektive Geschichte, nur die Nöte des Einzelnen, die sich unter Umständen unheilvoll auf die anderen auswirken.
Hadia, die älteste Schwester, ist Amars engste Vertraute. Aber sie ist auch seine größte Konkurrentin. Denn sie ist ehrgeizig, pragmatisch und will sich auf keinen Fall mit einer arrangierten Ehe abfinden. Sie weiß, dass sie dem vorgezeichneten Lebensentwurf nur entkommt, wenn sie gut in der Schule ist und ein Fach studiert, dem die Eltern ihre Zustimmung nicht verweigern können. Also strengt sie sich an und studiert Medizin. Die Uhr des früh verstorbenen Großvaters, die der Vater als einzige Erinnerung hütet, wird zum Symbol der Geschwisterkonkurrenz. Für Hadia ist klar, dass der Bruder sie bekommen wird, ganz egal, wie sehr sie sich anstrengt. Für Amar ist die Tatsache, dass Hadia sie schließlich doch bekommt, ein weiterer Grund, sich ausgeschlossen zu fühlen.
Es geht um Eifersucht und Verrat unter Geschwistern, um die prägende Erfah-rung der ersten Liebe und auch um das Unheil, das Eltern anrichten können, wenn sie in das Leben ihrer heranwachsenden Kinder eingreifen. Als Amar endlich Ehrgeiz entwickelt, unterbindet seine Mutter den Kontakt zur Tochter der befreundeten Familie, indem sie deren Mutter von den heimlichen Treffen der beiden Jugendlichen erzählt. Dabei hat sich Amar nur angestrengt, um eines Tages ein würdiger Heiratskandidat für Amira zu sein.
„Worauf wir hoffen“ reicht zeitlich über die Hochzeit Hadias mit Tarik hinaus, dem Ehemann, den sie sich selbst ausgesucht hat. Der Roman kontrastiert die gleichberechtigte Elternschaft der jüngeren Generation mit der Elternrolle, der sich Laila und Rafik noch verpflichtet fühlten. Die Innenwelt Rafiks, des Vaters, lernen wir erst richtig kennen, als er zu Untersuchungen im Krankenhaus seiner Tochter liegt. Bis zum Schluss hofft er auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes, der offenbar noch rechtzeitig seine Drogenkarriere beendet hat.
Die „geheime Welt“ der Empfindungen bleibt für Hadia mit Urdu verbunden, der Familiensprache, die sie mit Tarik vermisst. In ihr klinge alles „trauriger“, heißt es einmal. Fatima Farheen Mirza ist ohne Zweifel ein großes Talent. Den eigenen Ton hat sie noch nicht gefunden. „Worauf wir hoffen“ ist ein Familienroman von sympathischer Ausgewogenheit. Ein wenig haftet ihm noch der Flaum des Jugendromans an.
MEIKE FESSMANN
Fatima Farheen Mirza: Worauf wir hoffen. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Hübner. dtv, München 2019. 480 Seiten, 24 Euro.
„Wie kann man wissen,
welche Momente
einen Menschen prägen?“
Absolventin des renommierten Iowa Writers’ Workhop: die 1991 geborene Kalifornierin Fatima Farheen Mirza.
Foto: Jürgen Frank / dtv
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»Fatima Mirza nimmt Sie mit Haut und Haaren gefangen und tut dies mit einer Dringlichkeit, die Sie einfach zwingt, weiterzulesen.« Sarah Jessica Parker