Worlds of Dissent analyzes the myths of Czech resistance popularized by Western journalists and historians, and replaces these heroic victory narratives with a picture of the struggle against state repression as dissidents themselves understood and lived it. Their diaries, letters, and essays convey the texture of dissent in a closed society.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2012Plackerei in der Schattenwelt
Fundiert, facettenreich und glänzend geschrieben: Jonathan Bolton beschreibt das Leben der tschechischen Dissidenten unter kommunistischer Herrschaft.
Was sagt uns ein Gemüsehändler unter kommunistischer Diktatur, der zwischen seinen Zwiebeln und Möhren das Spruchband anbringt: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"? Václav Havel hat diese Frage beantwortet und schuf damit das berühmteste Gleichnis der Dissidentenbewegung. Im Klartext, so Havel, sagt der Gemüsehändler: Ich habe Angst und passe mich an. Havel riet deshalb zur Entfernung des Spruchbands. Der Dissident Petr Pithart hielt dagegen. Für den Gemüsehändler habe das Spruchband kaum eine Bedeutung, er nehme Wörter nicht so wichtig - im Gegensatz zu "uns, den Intellektuellen".
Wir haben uns daran gewöhnt, die tschechischen Dissidenten mit einer Aura von Absolutheit zu umgeben - Havels Beerdigung hatte es wieder gezeigt. Ist es ein Zufall, dass der Mann in Gleichnissen sprach? Gerade das Gleichnis vom Gemüsehändler dient dem Harvard-Professor Jonathan Bolton nun aber als Angelpunkt zu einer neuen Darstellung des tschechischen Dissidententums, die es von ebendiesem Absolutheitsanspruch befreit.
Bolton nähert sich seinem Gegenstand unter einer Doppelperspektive, die paradox, der Sache aber angemessen ist. Einerseits entmythisiert er die Welt der tschechischen Dissidenten, andererseits zeigt er, wie entscheidend gerade die mythenbildende Kraft dieser Bewegung für ihren Erfolg letztlich war. Er macht deutlich, an welcher Stelle die drei gängigsten Theorien der Dissidenz jeweils zu kurz greifen. Das heroische "Helsinki-Narrativ" zeichnet ein vereinfachtes Bild der Dissidentenpsychologie: Die Vorstellung von einem Häuflein Aufrechter, das die Fahne der universalen Menschenrechte gegen alle Umstände emporhielt, diente zwar den Bedürfnissen des Kalten Krieges, trägt aber wenig dazu bei, die Geschichte aus heutiger Sicht begreiflich zu machen.
Das idealisierende Narrativ von der "Parallelen Polis" sieht die Dissidenten als Begründer einer Zivilgesellschaft, die moralisch fast unberührt von dem sie umgebenden System geblieben sei - als hätten ihre Angehörigen auf einer Insel gelebt. Beide Narrative kommen darin überein, die passive Bevölkerungsmehrheit als träge Mitläufer abzutun. Diesen Fehler vermeidet das dritte Narrativ vom "Normalbürger" - doch um welchen Preis! Hier werden die Dissidenten als elitärer Zirkel gezeichnet: ohne Verbindung zum wirklichen Leben, über den Zugeständnissen schwebend, die der Alltag nun einmal mit sich bringt. Das Normalbürger-Narrativ, das sich dieser Tage wachsender Beliebtheit erfreut, läuft in der Tat Gefahr, die Erfahrung des Dissidentendaseins zu entstellen - als hätten Dissidenten keinen Alltag gehabt.
Gegen solche Trivialisierung in beiderlei Gestalt tritt Bolton für ein vielschichtiges Verständnis von Dissidenz ein. Als zentrale Quelle zapft er dazu die Selbstauskünfte der Betroffenen an. Die Erzählung in der ersten Person dient ihm als Gegengewicht gegen die Verzerrungen der drei herrschenden Narrative. Anstatt sich nur auf die vielfach zitierten politischen Schriften der Dissidenten zu verlassen, schöpft er aus deren Tagebüchern, Briefen, persönlichen Essays und anderen Zeugnissen. Dabei nimmt er auch Autoren in den Blick, die lange von Lichtgestalten wie Václav Havel oder Jan Patocka überstrahlt wurden: Egon Bondy, Ladislav Hejdánek, Ivan Jirous, Eva Kanturková, Jirí Lederer, Petr Pithart, Anna Sabatová, Ludvík Vaculík, Jan Vladislav.
Was dabei zutage tritt, ist keine monolithische politische Freiheitsphilosophie mehr, die mit dem Segen des Westens geradewegs zur samtenen Revolution führte. Das Bild ist weitaus bunter - so wie es der Titel des Buchs andeutet. Es gab eine Vielzahl von "Welten der Dissidenz". Die Landschaft der Abweichler war viel unordentlicher, als die von westlichen Kartographen erfassten Wegmarken glauben machten. Bolton geht es darum, "etwas von dieser Unordnung zurück ins Bild zu bringen". Dissidententum war nicht einfach nur das Vorspiel zum Umsturz des Regimes. Über Jahrzehnte bedeutete es eine zermürbende Plackerei von Tag zu Tag, mit deprimierend unvorhersagbarem Ausgang. Wer dies rückblickend einfach als Siegesgeschichte erzählt, verstellt unsere Wahrnehmung. Um der Bewegung gerecht zu werden, muss der Horizont rekonstruiert werden, den die Dissidenten vor Augen hatten.
Bolton rollt die Welten der Dissidenz in sieben Schritten auf. Nach einer Kritik der herrschenden Theorien umreißt er die Situation unmittelbar vor dem Beginn der eigentlichen Dissidentenbewegung: die Säuberung der Partei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Es folgt die euphemistisch "Normalisierung" genannte etappenweise Demoralisierung der Reformer und das parallele Entstehen einer "Schattenwelt": das Aufkommen des Samisdat. Ein eigenes Kapitel widmet Bolton dem zum Mythos geronnenen musikalischen Untergrund um die "Plastic People of the Universe", der sich als Inspirationsquelle für die mehr politisch orientierte Opposition erwies.
Mit der Gründung der Charta 77 rückt dann der Philosoph Jan Patocka ins Zentrum und zugleich die Hamlet-Frage, die im Rückblick allzu leicht entscheidbar scheint: "To Sign or Not to Sign?" Eine weitere, vermeintlich einfache Frage, die sich bei näherem Hinsehen in eine harte Nuss verwandelt, schließt sich an: Wen sprach die Charta 77 eigentlich an? Havels berühmtes Wort von der "Macht der Machtlosen" variierend, fragt Bolton nach dem "Publikum der Machtlosen": War die Dissidenz als Öffentlichkeit strukturiert, und wenn ja: Was hielt diese Öffentlichkeit eigentlich zusammen? Bolton untersucht die literarischen Genres, aus denen die Charta-Bewegung sich entwickelte, ihre Informationsplattformen wie VONS (Ausschuss zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter) und INFOCH (Information über die Charta 77) und die hitzigen Debatten innerhalb der Dissidentenszene über diese Fragen. So öffnet er den Blick für das, was er die "Sackgasse der Dissidenz" nennt, die Fallstricke der Dissidentensituation. Petr Pithart hat sie auf die flapsige Formel vom "Dissi-Risiko" gebracht: Weil in diesen Zirkeln fast nur Leute des Wortes zusammenfanden, neigten sie zu der Illusion, Protest bedürfe der Schriftform - was es dem Regime wiederum erleichterte, seine Gegner zu isolieren. Als Insulaner oder heroische Einzelkämpfer bieten Dissidenten zwar noch Erzählstoff für die bewundernde Außen- und Nachwelt; eine Gefahr für die Macht sind sie kaum mehr.
Zum Schluss stellt Bolton, als zusammenfassendes Emblem, einen Text vor, der die Erfahrung eines Chartisten so freiherzig wiedergibt wie kein Zweiter: Ludvík Vaculíks "Tschechisches Traumbuch", eine exemplarische Ich-Erzählung, die gerade nicht versucht, die Paradoxien im Leben eines Dissidenten zum Verschwinden zu bringen.
"Welten der Dissidenz" ist nicht irgendein Buch über die tschechische Dissidentenbewegung, es ist das Buch zum Thema. Gründlich recherchiert, theoretisch fundiert und ausgewogen im Urteil, liefert es gleichermaßen ein Porträt von Institutionen wie von markanten Einzelpersönlichkeiten. Und, wie es sich für ein Buch gehört, das die Geschichte von Václav Havel, Jan Patocka, Egon Bondy, Ludvík Vaculík und anderen Wortgewaltigen tschechischer Unbeugsamkeit erzählt, ist es glänzend geschrieben.
URS HEFTRICH
Jonathan Bolton: "Worlds of Dissent". Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism.
Harvard University Press, Cambridge, MA, und London 2012. 349 S., geb., 45,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fundiert, facettenreich und glänzend geschrieben: Jonathan Bolton beschreibt das Leben der tschechischen Dissidenten unter kommunistischer Herrschaft.
Was sagt uns ein Gemüsehändler unter kommunistischer Diktatur, der zwischen seinen Zwiebeln und Möhren das Spruchband anbringt: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"? Václav Havel hat diese Frage beantwortet und schuf damit das berühmteste Gleichnis der Dissidentenbewegung. Im Klartext, so Havel, sagt der Gemüsehändler: Ich habe Angst und passe mich an. Havel riet deshalb zur Entfernung des Spruchbands. Der Dissident Petr Pithart hielt dagegen. Für den Gemüsehändler habe das Spruchband kaum eine Bedeutung, er nehme Wörter nicht so wichtig - im Gegensatz zu "uns, den Intellektuellen".
Wir haben uns daran gewöhnt, die tschechischen Dissidenten mit einer Aura von Absolutheit zu umgeben - Havels Beerdigung hatte es wieder gezeigt. Ist es ein Zufall, dass der Mann in Gleichnissen sprach? Gerade das Gleichnis vom Gemüsehändler dient dem Harvard-Professor Jonathan Bolton nun aber als Angelpunkt zu einer neuen Darstellung des tschechischen Dissidententums, die es von ebendiesem Absolutheitsanspruch befreit.
Bolton nähert sich seinem Gegenstand unter einer Doppelperspektive, die paradox, der Sache aber angemessen ist. Einerseits entmythisiert er die Welt der tschechischen Dissidenten, andererseits zeigt er, wie entscheidend gerade die mythenbildende Kraft dieser Bewegung für ihren Erfolg letztlich war. Er macht deutlich, an welcher Stelle die drei gängigsten Theorien der Dissidenz jeweils zu kurz greifen. Das heroische "Helsinki-Narrativ" zeichnet ein vereinfachtes Bild der Dissidentenpsychologie: Die Vorstellung von einem Häuflein Aufrechter, das die Fahne der universalen Menschenrechte gegen alle Umstände emporhielt, diente zwar den Bedürfnissen des Kalten Krieges, trägt aber wenig dazu bei, die Geschichte aus heutiger Sicht begreiflich zu machen.
Das idealisierende Narrativ von der "Parallelen Polis" sieht die Dissidenten als Begründer einer Zivilgesellschaft, die moralisch fast unberührt von dem sie umgebenden System geblieben sei - als hätten ihre Angehörigen auf einer Insel gelebt. Beide Narrative kommen darin überein, die passive Bevölkerungsmehrheit als träge Mitläufer abzutun. Diesen Fehler vermeidet das dritte Narrativ vom "Normalbürger" - doch um welchen Preis! Hier werden die Dissidenten als elitärer Zirkel gezeichnet: ohne Verbindung zum wirklichen Leben, über den Zugeständnissen schwebend, die der Alltag nun einmal mit sich bringt. Das Normalbürger-Narrativ, das sich dieser Tage wachsender Beliebtheit erfreut, läuft in der Tat Gefahr, die Erfahrung des Dissidentendaseins zu entstellen - als hätten Dissidenten keinen Alltag gehabt.
Gegen solche Trivialisierung in beiderlei Gestalt tritt Bolton für ein vielschichtiges Verständnis von Dissidenz ein. Als zentrale Quelle zapft er dazu die Selbstauskünfte der Betroffenen an. Die Erzählung in der ersten Person dient ihm als Gegengewicht gegen die Verzerrungen der drei herrschenden Narrative. Anstatt sich nur auf die vielfach zitierten politischen Schriften der Dissidenten zu verlassen, schöpft er aus deren Tagebüchern, Briefen, persönlichen Essays und anderen Zeugnissen. Dabei nimmt er auch Autoren in den Blick, die lange von Lichtgestalten wie Václav Havel oder Jan Patocka überstrahlt wurden: Egon Bondy, Ladislav Hejdánek, Ivan Jirous, Eva Kanturková, Jirí Lederer, Petr Pithart, Anna Sabatová, Ludvík Vaculík, Jan Vladislav.
Was dabei zutage tritt, ist keine monolithische politische Freiheitsphilosophie mehr, die mit dem Segen des Westens geradewegs zur samtenen Revolution führte. Das Bild ist weitaus bunter - so wie es der Titel des Buchs andeutet. Es gab eine Vielzahl von "Welten der Dissidenz". Die Landschaft der Abweichler war viel unordentlicher, als die von westlichen Kartographen erfassten Wegmarken glauben machten. Bolton geht es darum, "etwas von dieser Unordnung zurück ins Bild zu bringen". Dissidententum war nicht einfach nur das Vorspiel zum Umsturz des Regimes. Über Jahrzehnte bedeutete es eine zermürbende Plackerei von Tag zu Tag, mit deprimierend unvorhersagbarem Ausgang. Wer dies rückblickend einfach als Siegesgeschichte erzählt, verstellt unsere Wahrnehmung. Um der Bewegung gerecht zu werden, muss der Horizont rekonstruiert werden, den die Dissidenten vor Augen hatten.
Bolton rollt die Welten der Dissidenz in sieben Schritten auf. Nach einer Kritik der herrschenden Theorien umreißt er die Situation unmittelbar vor dem Beginn der eigentlichen Dissidentenbewegung: die Säuberung der Partei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Es folgt die euphemistisch "Normalisierung" genannte etappenweise Demoralisierung der Reformer und das parallele Entstehen einer "Schattenwelt": das Aufkommen des Samisdat. Ein eigenes Kapitel widmet Bolton dem zum Mythos geronnenen musikalischen Untergrund um die "Plastic People of the Universe", der sich als Inspirationsquelle für die mehr politisch orientierte Opposition erwies.
Mit der Gründung der Charta 77 rückt dann der Philosoph Jan Patocka ins Zentrum und zugleich die Hamlet-Frage, die im Rückblick allzu leicht entscheidbar scheint: "To Sign or Not to Sign?" Eine weitere, vermeintlich einfache Frage, die sich bei näherem Hinsehen in eine harte Nuss verwandelt, schließt sich an: Wen sprach die Charta 77 eigentlich an? Havels berühmtes Wort von der "Macht der Machtlosen" variierend, fragt Bolton nach dem "Publikum der Machtlosen": War die Dissidenz als Öffentlichkeit strukturiert, und wenn ja: Was hielt diese Öffentlichkeit eigentlich zusammen? Bolton untersucht die literarischen Genres, aus denen die Charta-Bewegung sich entwickelte, ihre Informationsplattformen wie VONS (Ausschuss zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter) und INFOCH (Information über die Charta 77) und die hitzigen Debatten innerhalb der Dissidentenszene über diese Fragen. So öffnet er den Blick für das, was er die "Sackgasse der Dissidenz" nennt, die Fallstricke der Dissidentensituation. Petr Pithart hat sie auf die flapsige Formel vom "Dissi-Risiko" gebracht: Weil in diesen Zirkeln fast nur Leute des Wortes zusammenfanden, neigten sie zu der Illusion, Protest bedürfe der Schriftform - was es dem Regime wiederum erleichterte, seine Gegner zu isolieren. Als Insulaner oder heroische Einzelkämpfer bieten Dissidenten zwar noch Erzählstoff für die bewundernde Außen- und Nachwelt; eine Gefahr für die Macht sind sie kaum mehr.
Zum Schluss stellt Bolton, als zusammenfassendes Emblem, einen Text vor, der die Erfahrung eines Chartisten so freiherzig wiedergibt wie kein Zweiter: Ludvík Vaculíks "Tschechisches Traumbuch", eine exemplarische Ich-Erzählung, die gerade nicht versucht, die Paradoxien im Leben eines Dissidenten zum Verschwinden zu bringen.
"Welten der Dissidenz" ist nicht irgendein Buch über die tschechische Dissidentenbewegung, es ist das Buch zum Thema. Gründlich recherchiert, theoretisch fundiert und ausgewogen im Urteil, liefert es gleichermaßen ein Porträt von Institutionen wie von markanten Einzelpersönlichkeiten. Und, wie es sich für ein Buch gehört, das die Geschichte von Václav Havel, Jan Patocka, Egon Bondy, Ludvík Vaculík und anderen Wortgewaltigen tschechischer Unbeugsamkeit erzählt, ist es glänzend geschrieben.
URS HEFTRICH
Jonathan Bolton: "Worlds of Dissent". Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism.
Harvard University Press, Cambridge, MA, und London 2012. 349 S., geb., 45,- [Euro].
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