Produktdetails
  • Verlag: Engeler
  • Seitenzahl: 528
  • Deutsch
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 814g
  • ISBN-13: 9783905591972
  • ISBN-10: 3905591979
  • Artikelnr.: 14879954
Autorenporträt
Felix Philip Ingold, lebt und arbeitet nach langjähriger Lehr- und Forschungstätigkeit als Schriftsteller, Publizist und Übersetzer in Romainmôtier/VD. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen gehören der Petrarca-Preis für literarische Übersetzung, der Ernst-Jandl-Preis für Lyrik, der Erlanger Preis für Übersetzung als Poesie und der Basler Lyrik-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2006

Rilke muß noch besser werden
Ein scherzender Ersetzer: Felix Philipp Ingolds Gedichte

Wenn die Dichter bescheiden sein wollen, nennen sie sich Übersetzer. "Wir bescheidenen Übersetzer", seufzte einst Günter Eich in einem Gedicht und fragte: "Was sollen wir denen sagen, / die einverstanden sind / und die Urtexte lesen?" Auch der Schweizer Felix Philipp Ingold ist der Auffassung, Autoren seien letztlich doch nur Übersetzer, nämlich "durchaus keine Schöpfer, nur Interpreten von Texten, von Textwelten."

Ingold weiß, wovon er redet. Seine Bescheidung hat aber andere Gründe. Er ist als Übersetzer einer der bedeutenden Vermittler der literarischen Moderne. Er hat vor allem aus dem Russischen und dem Französischen übersetzt: Genadij Ajgi, Joseph Brodsky, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa oder Maurice Blanchot, Edmond Jabès, Michel Leiris und Francis Ponge. Eine Liste bester Namen. Wer diese Textwelten übersetzt hat, darf in bescheidenem Stolz auch die eigenen Arbeiten als Übersetzungen deklarieren. Zumal wenn auch seine Übersetzungstheorie eine Theorie von Produktion ist.

Vor Jahren überschrieb Ingold einen einschlägigen Essay keck "Üb er's: Übersetzen" und lieferte darin so erfrischende Respektlosigkeiten wie: "Fehlerhafte Übersetzungen sind nicht die schlechtesten." Das kann nur ein Profi sagen, der über die Banalität des Fehlerhaften hinaus in Fehlleistungen den poetischen Mehrwert zu erkennen vermag. Nicht übersetzerische Treue interessiert ihn. Er steht dazu, daß die Übersetzung den fremden Text "unausweichlich und unabsehbar verändert." Der Übersetzer dichtet, der Dichter übersetzt. So läßt sich das Abenteuer des Übersetzens wie des Schreibens in Variation der Titelmaxime seines Essays auf den Ratschlag bringen: "Üb ersetzen!"

Ingold, der Dichter, tut es gern und im direkten Wortsinn. Nicht bloß beim Übersetzen aus dem Fremdsprachlichen, sondern auch, wenn er aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzt. Nämlich aus Rilkes Idiom ins Ingoldsche. Er behält den Klang, tauscht aber die Worte und Begriffe aus. Er schmuggelt als Konterbande einen anderen, einen neuen Sinn ein. Ein des Deutschen Unkundiger würde den ersetzenden Schwindel gar nicht bemerken. Ingold nennt diese Übertragungen "vagantische Nachschriften".

Es sind foppende und zugleich frappierende Transponierungen des Lautbildes, das jeder Rilke-Leser sogleich wiedererkennt. Sie beginnen etwa: "Schau: ein Himmel! Heißt das Weichbild Zweiter?" oder "Wir traten nicht sein unerhörtes Stehn / in Gang." Der Text aus den Orpheus-Sonetten oder der "Archaische Torso Apollos" erscheinen nicht als Parodien - obwohl der parodistische Effekt besonders beim Torso stark ist. Es sind Variationen im musikalischen Sinne. Da diese homophonen Kontrafakturen von Rilke herkommen, sind es auch Rilke-Interpretationen, -Korrekturen. Komplexer und komplizierter wird Ingolds Poetik, wo sie sich von Vorlagen löst und über das Ersetzen hinaus den freien und zugleich gesteuerten Entwurf sucht. Michel Leiris ist dafür der Gewährsmann mit seiner Maxime: "Zufälle nutzen mit Bedacht." Ingold selbst gibt dafür ein Beispiel mit seinem Gedicht "Char", einem Epitaph für den im Frühjahr 1988 gestorbenen Dichter René Char. Hier spielt er mit den Elementen zweier Sprachen, einem Hin und Her zwischen dem Deutschen und dem Französischen.

Solcher Transfer erinnert den Autor an ein Hinübersetzen über den Totenfluß, und so erscheint der Dichter Char sogleich als Charon. Überhaupt ist der Autor der beste Kommentator seiner Texte. Er erläutert Beziehungen, die der Leser selbst vielleicht nicht hergestellt hätte. So spielt die "Sorge" im Text nicht bloß homophon auf Chars langjährigen Wohnort L'Isle-sur-Sorgue an, sondern verweist auch auf den Begriff der Heideggerschen Sorge.

Auch Homophonien haben ihre Tücken. Der glückliche Fund ist nicht immer vom Beziehungszwang oder -wahn zu unterscheiden. Auch nicht von Platitüde oder Kalauer. Daß Paris an der Seine liegt, hat schon Friederike Kempner gewußt und - vermeintlich homophon - darauf "Du weißt ja, was ich meine" gereimt. Ingold hat - bewußt und artifiziell - dieses Spiel mit "Seine" noch einmal gespielt: "SEINE / ist weiblich und / aber ohne Geschlecht. Echt / rauscht sie / in Strophen und / künstlichen Muscheln." Hier rauscht sie artifiziell, als reines Sprachphänomen. Als "Wortnahme". So heißt das Gedicht eine Seite zuvor, und es endet mit einer herausgehobenen Zeile: "immer wahr der Klang." Man möchte das nicht gerade als Ingolds Glaubensbekenntnis nehmen, aber einen existentiellen Affekt hat es, wenn ein Poet das Lautliche, die Melopoeia, so hoch einschätzt. Aber Ingold wurde kein Lautpoet, er bleibt beim festen Buchstaben seiner "Wortnahme". Das Gedicht gibt seinen lyrischen Arbeiten aus fünfundzwanzig Jahren (die hier retrospektiv, gegenläufig zur Chronologie erscheinen) auch den glücklichen Gesamttitel. Er drückt sehr schön die Intention einer poetischen Expansion aus, einer Art Landnahme. Aber "Landnahme" wäre Metapher, "Wortnahme" dagegen zeigt die Beschränkung auf die Materialität der Sprache.

Wer durch Ingolds Sprachspiel sensibilisiert ist, mag auch in der "Landnahme" die Homophonien erkennen. Positiv: den Namen, der zum Wort hinzutritt. Negativ: die Wortnahme als Verlust, die Fortnahme. Wer so virtuos das Ersetzen übt, schafft nicht bloß etwas Neues, er schafft auch Altes ab. Daß er mit Ersetzen Scherz treibt, macht nicht den geringsten Reiz seiner Sachen aus. Es zeigt den Ernst, unter dem alles Spiel mit dem Wort, alles Dichten steht.

HARALD HARTUNG.

Felix Philipp Ingold: "Wortnahme". Jüngste und frühere Gedichte. Verlag Urs Engeler, Basel 2005. 539 S., geb., 34,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Als einen "wortreichen Könner", als einen, "der mit allen lyrischen Wassern gewaschen ist", würdigt Rezensent Samuel Moser den Dichter Felix Philipp Ingold. Hocherfreut zeigt er sich daher über den vorliegenden umfangreichen Band, der viele bereits publizierte und noch mehr unpublizierte Gedichte Ingolds aus den letzten 25 Jahren versammelt. Für Moser zeichnen sich die Gedichte durch ihre Eigenwilligkeit aus, durch die sie sich "jedem einfachen Zugriff" verweigerten. Beeindruckend findet er die große Bandbreite an Gedichten. Neben "großzügigen Bilder" stehen "hintersinnige Sentenzen" und "gnadenlos" gejagte Verse. Ein "heiterer Pessimismus" bildet für Moser die lyrische Grundstimmung des Bandes. In diesem Zusammenhang lobt er Ingolds Selbstironie, die seinen Gedichten Leichtfüßigkeit verleiht. Hervorhebenswert erscheinen ihm auch Ingolds Kommentare im Anhang des Bandes, in denen der Autor einige seiner Gedichte erläutert.

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