Die Gesangskünste von Vögeln haben Künstler und Denker vielfach zu Parallelen mit den menschlichen Künsten angeregt. Erst Charles Darwin jedoch hat solchen Parallelen eine Theorie gegeben und sie anhand eines allgemeinen evolutionären Modells ästhetischer Darstellung und Rezeption erklärt. Winfried Menninghaus präsentiert Darwins Überlegungen als einen bedeutenden Ansatz zu einer Theorie der Künste, die neben der Musik auch Rhetorik, Poesie und die visuellen Künste umfaßt. Dabei räumt er mit dem verbreiteten Mißverständnis auf, Darwins Musiktheorie postuliere auch für den Menschen einen direkten Zusammenhang von Singen/Musik und sexuellem Werbungserfolg. Das »singing for sex« bleibt, so Darwin, nur mehr als eine archaische Erinnerungsspur erhalten, die die menschlichen Künste phantasmatisch mit einem breiten Spektrum latent sexueller Affekte auflädt, welche alle Nuancen zwischen »love and war« durchlaufen können. Menninghaus liest Darwins Ausführungen vor dem Hintergrund des heute enorm gewachsenen Wissens in Archäologie und Evolutionstheorie sowie im Lichte der philosophischen und empirischen Ästhetik. Er ergänzt Darwins kühne Analyse, indem er die Rolle von Spielverhalten, Technologie und symbolischen Praktiken für die hypothetische Transformation sexueller Werbungspraktiken in menschliche Künste untersucht. Das Buch entwickelt ein überzeugendes Szenario für das "Woraus", "Wie" und "Wann" der Entstehung der menschlichen Künste und gibt eine komplexe Antwort auf die oft gestellte - und noch öfter vermiedene - Frage: "Wozu Kunst?"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2012Am Anfang war die Vogelhochzeit
Und dann kam das Tattoo: Winfried Menninghaus sichtet die Möglichkeiten für eine "Ästhetik nach Darwin"
Kant und Hegel seien die Letzten gewesen, so heißt es einmal bei Adorno, die eine große Ästhetik schreiben konnten, ohne etwas von Kunst zu verstehen. Das war natürlich in eigener Sache formuliert. Ein paar Jahrzehnte später gilt es fast als Ehrenpunkt einer evolutionären Ästhetik, nicht zu viel Verständnis von Kunstwerken in das ästhetische Geschäft zu mischen. Eine Abstinenz, die eng mit dem programmatischen Anspruch verbunden ist, Idiosynkrasien und spekulative Überschüsse in der Beschäftigung mit dem Schönen, Interessanten oder sonst sinnlich Anziehenden in allgemeine Aussagen von empirischer Erhärtbarkeit zu konvertieren. Wobei diese Aussagen dann zwangsläufig eher elementaren Qualitäten gelten als dem diffizilen Reiz von Kunstwerken.
Winfried Menninghaus hat sich in den letzten Jahren zunehmend mit solchen Versuchen befasst, elementare Züge ästhetischen Empfindens mit Hilfe evolutionstheoretisch inspirierter Erwägungen zu erklären. Dem Berliner Literaturwissenschaftler ist die philosophische Ästhetik durchaus nicht fermd, aber ausgewiesen ist er seit seinem Buch über "Das Versprechen der Schönheit" auch als Kenner ästhetischer Versuche auf neodarwinistischen Wegen. Nun hat er seine Überlegungen dazu vorgelegt, wie eine "Ästhetik nach Darwin" Tritt fassen könnte.
Bei Menninghaus muss man nicht befürchten, steile Thesen mit hübschen evolutionspsychologischen Geschichten belegt zu sehen, wie es auf diesem Feld nicht selten vorgeführt wird. Er weiß, dass es mit der angestrebten Empirie eine heikle Sache ist. Denn die Rückbindung an die evolutionäre Formung unserer Empfänglichkeiten für bestimmte Formen, Klänge, Rhythmen oder auch Bewegungen zielt zwar auf empirische Erdung. Aber sie mündet selbst recht schnell in Spekulationen - und oft recht toller Art.
In Sachen Ästhetik wird unter evolutionärem Gesichtspunkt meist an die sexuelle Selektion angeknüpft, also die von Darwin ins Feld geführte Herausbildung bestimmter auffälliger Merkmale und Verhaltensweisen als Effekt der Konkurrenz um Sexualpartner. Paradigmatisch ist der Pfau mit seinem bei der Balz präsentierten Schweif, dessen Herausbildung sich der Beeindruckbarkeit der Hennen Schau verdanken soll. Wer glaubt, dass sich mit der sexuellen Selektion auf einen Schlag die Prachtkleider und andere luxuriös anmutende Accessoires im Tierreich erklären lassen, ist allerdings auf dem Holzweg. Menninghaus setzt denn auch nicht bei den einschlägigen Diskussionen ein - die gleichwohl berührt werden -, sondern greift auf Darwin selbst zurück, vor allem auf dessen Ausführungen über Gesänge und kunstvolle Darbietungen der Vögel beim Werben um Sexualpartner, aber auch zur Territorialabgrenzung.
Einleuchtend ist es für Menninghaus, darin Vorformen der menschlichen Künste des Singens, Tanzens und der Selbstverzierung auszumachen. Womit sexuelle Konkurrenz zwar in seine hypothetische Ursprungsgeschichte künstlerischer Praktiken eingeht, aber auf vermittelte Weise und im Verbund mit anderen Mechanismen, die auf die Herausbildung ästhetischer Elaborierungen hinauslaufen. In unserer Affizierbarkeit durch die Künste könnte für Menninghaus jedenfalls das Echo von Affekten nachklingen, von denen uns bereits der Blick ins Tierreich Zeugnis gibt.
Es braucht dann aber die Antriebskräfte der kulturellen Evolution, nämlich Sprache und Symbolgebrauch aller Art, um aus einem ursprünglichen adaptiven Repertoire, das Reaktionen auf sexuelle Körperornamente, Spielverhalten und später einfachen Werkzeuggebrauch (für die Selbstverzierung) umfasst, die künstlerischen Praktiken im eigentlichen Sinn samt den ihnen korrespondierenden Empfänglichkeiten hervorgehen zu lassen. Wobei Menninghaus gerade in der Vernetzung aller dieser Komponenten den entscheidenden Beschleunigungsfaktor sieht - eine Wiedergewinnung von Kants "freiem Spiel" unserer Vermögen im ästhetischen Urteil unter den Auspizien einer evolutionären Anthropologie.
Natürlich kommt es auf die Details an, mit denen Menninghaus diesen Grundriss plausibel zu machen sucht - und damit das Forschungsprogramm einer evolutionären Ästhetik entwirft. Aber für die Ursprungsvermutung lässt sich in harter Begründungswährung einstweilen nur anführen, dass sie mit empirischen Evidenzen nicht von der Hand zu weisen ist. Während für die Thesen über die Weiterentwicklung zu den menschlichen Künsten gilt: Es wäre sehr verwunderlich, wenn sie nicht mit Sprache und Symbolgebrauch zu tun gehabt hätte. Und ebenso wenig möchte man bezweifeln, dass diese Entwicklung sowohl mit Konkurrenz um Distinktionsgewinne wie auch mit der Stärkung von Gruppenzusammenhalt und auch noch mit bildenden Selbsteffekten zu tun hatte.
Über die heikle Argumentationslage ist sich Menninghaus im Klaren. Aber in der philosophischen Ästhetik, das gibt er zu bedenken, gehe es schließlich mindestens ebenso spekulativ zu - und zudem ohne Aussicht, je auf belegbare Weise an tiefliegende Anbahnungen heranzukommen. Worin man ihm kaum widersprechen kann. Weshalb die grundsätzliche Einschätzung seiner Ästhetik nach Darwin vermutlich daran hängt, wie man das Verhältnis ihres beachtlichen Aufwands zu den erwartbaren Einsichten beurteilt. Selbst wenn man es als eher abschreckend empfindet: In Abrede lässt sich nicht stellen, dass Menninghaus das Terrain einschlägiger Versuche gut vermessen hat.
HELMUT MAYER
Winfried Menninghaus: "Wozu Kunst?" Ästhetik nach Darwin.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 320 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und dann kam das Tattoo: Winfried Menninghaus sichtet die Möglichkeiten für eine "Ästhetik nach Darwin"
Kant und Hegel seien die Letzten gewesen, so heißt es einmal bei Adorno, die eine große Ästhetik schreiben konnten, ohne etwas von Kunst zu verstehen. Das war natürlich in eigener Sache formuliert. Ein paar Jahrzehnte später gilt es fast als Ehrenpunkt einer evolutionären Ästhetik, nicht zu viel Verständnis von Kunstwerken in das ästhetische Geschäft zu mischen. Eine Abstinenz, die eng mit dem programmatischen Anspruch verbunden ist, Idiosynkrasien und spekulative Überschüsse in der Beschäftigung mit dem Schönen, Interessanten oder sonst sinnlich Anziehenden in allgemeine Aussagen von empirischer Erhärtbarkeit zu konvertieren. Wobei diese Aussagen dann zwangsläufig eher elementaren Qualitäten gelten als dem diffizilen Reiz von Kunstwerken.
Winfried Menninghaus hat sich in den letzten Jahren zunehmend mit solchen Versuchen befasst, elementare Züge ästhetischen Empfindens mit Hilfe evolutionstheoretisch inspirierter Erwägungen zu erklären. Dem Berliner Literaturwissenschaftler ist die philosophische Ästhetik durchaus nicht fermd, aber ausgewiesen ist er seit seinem Buch über "Das Versprechen der Schönheit" auch als Kenner ästhetischer Versuche auf neodarwinistischen Wegen. Nun hat er seine Überlegungen dazu vorgelegt, wie eine "Ästhetik nach Darwin" Tritt fassen könnte.
Bei Menninghaus muss man nicht befürchten, steile Thesen mit hübschen evolutionspsychologischen Geschichten belegt zu sehen, wie es auf diesem Feld nicht selten vorgeführt wird. Er weiß, dass es mit der angestrebten Empirie eine heikle Sache ist. Denn die Rückbindung an die evolutionäre Formung unserer Empfänglichkeiten für bestimmte Formen, Klänge, Rhythmen oder auch Bewegungen zielt zwar auf empirische Erdung. Aber sie mündet selbst recht schnell in Spekulationen - und oft recht toller Art.
In Sachen Ästhetik wird unter evolutionärem Gesichtspunkt meist an die sexuelle Selektion angeknüpft, also die von Darwin ins Feld geführte Herausbildung bestimmter auffälliger Merkmale und Verhaltensweisen als Effekt der Konkurrenz um Sexualpartner. Paradigmatisch ist der Pfau mit seinem bei der Balz präsentierten Schweif, dessen Herausbildung sich der Beeindruckbarkeit der Hennen Schau verdanken soll. Wer glaubt, dass sich mit der sexuellen Selektion auf einen Schlag die Prachtkleider und andere luxuriös anmutende Accessoires im Tierreich erklären lassen, ist allerdings auf dem Holzweg. Menninghaus setzt denn auch nicht bei den einschlägigen Diskussionen ein - die gleichwohl berührt werden -, sondern greift auf Darwin selbst zurück, vor allem auf dessen Ausführungen über Gesänge und kunstvolle Darbietungen der Vögel beim Werben um Sexualpartner, aber auch zur Territorialabgrenzung.
Einleuchtend ist es für Menninghaus, darin Vorformen der menschlichen Künste des Singens, Tanzens und der Selbstverzierung auszumachen. Womit sexuelle Konkurrenz zwar in seine hypothetische Ursprungsgeschichte künstlerischer Praktiken eingeht, aber auf vermittelte Weise und im Verbund mit anderen Mechanismen, die auf die Herausbildung ästhetischer Elaborierungen hinauslaufen. In unserer Affizierbarkeit durch die Künste könnte für Menninghaus jedenfalls das Echo von Affekten nachklingen, von denen uns bereits der Blick ins Tierreich Zeugnis gibt.
Es braucht dann aber die Antriebskräfte der kulturellen Evolution, nämlich Sprache und Symbolgebrauch aller Art, um aus einem ursprünglichen adaptiven Repertoire, das Reaktionen auf sexuelle Körperornamente, Spielverhalten und später einfachen Werkzeuggebrauch (für die Selbstverzierung) umfasst, die künstlerischen Praktiken im eigentlichen Sinn samt den ihnen korrespondierenden Empfänglichkeiten hervorgehen zu lassen. Wobei Menninghaus gerade in der Vernetzung aller dieser Komponenten den entscheidenden Beschleunigungsfaktor sieht - eine Wiedergewinnung von Kants "freiem Spiel" unserer Vermögen im ästhetischen Urteil unter den Auspizien einer evolutionären Anthropologie.
Natürlich kommt es auf die Details an, mit denen Menninghaus diesen Grundriss plausibel zu machen sucht - und damit das Forschungsprogramm einer evolutionären Ästhetik entwirft. Aber für die Ursprungsvermutung lässt sich in harter Begründungswährung einstweilen nur anführen, dass sie mit empirischen Evidenzen nicht von der Hand zu weisen ist. Während für die Thesen über die Weiterentwicklung zu den menschlichen Künsten gilt: Es wäre sehr verwunderlich, wenn sie nicht mit Sprache und Symbolgebrauch zu tun gehabt hätte. Und ebenso wenig möchte man bezweifeln, dass diese Entwicklung sowohl mit Konkurrenz um Distinktionsgewinne wie auch mit der Stärkung von Gruppenzusammenhalt und auch noch mit bildenden Selbsteffekten zu tun hatte.
Über die heikle Argumentationslage ist sich Menninghaus im Klaren. Aber in der philosophischen Ästhetik, das gibt er zu bedenken, gehe es schließlich mindestens ebenso spekulativ zu - und zudem ohne Aussicht, je auf belegbare Weise an tiefliegende Anbahnungen heranzukommen. Worin man ihm kaum widersprechen kann. Weshalb die grundsätzliche Einschätzung seiner Ästhetik nach Darwin vermutlich daran hängt, wie man das Verhältnis ihres beachtlichen Aufwands zu den erwartbaren Einsichten beurteilt. Selbst wenn man es als eher abschreckend empfindet: In Abrede lässt sich nicht stellen, dass Menninghaus das Terrain einschlägiger Versuche gut vermessen hat.
HELMUT MAYER
Winfried Menninghaus: "Wozu Kunst?" Ästhetik nach Darwin.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 320 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Helmut Mayer hat Winfried Menninghaus' Versuch der Begründung einer "Ästhetik nach Darwin" mit Interesse gelesen, allerdings findet er anscheinend, dass der argumentative Aufwand in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn steht. Zumindest muss man als Leser von Menninghaus' Ausführungen keine Angst haben, "steile Thesen" anhand von "evolutionspsychologischen" Anekdoten angedreht zu bekommen, versichert der Rezensent. Er lässt sich auch gern von den "empirischen Evidenzen" überzeugen, die der Berliner Literaturwissenschaftler zur Untermauerung von Darwins Darlegung von Beispielen ästhetischer Phänomene im Tierreich zum Zweck der Distinktion oder alternierend für den Gruppenzusammenhalt heranzieht. Und auch Menninghaus' Überlegungen zur Hervorbringung von Kunst beim Menschen, der entscheidend mit Sprache und Symbolgebrauch zusammenhängt findet der Rezensent so nahe liegend wie plausibel, wenn auch nur schwer zu belegen. Aber lohnt das den Aufwand? Mayer wirkt da eher unsicher, doch muss er zumindest zugeben, dass der Autor das Gebiet mit seinen Darlegungen gut ausleuchtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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