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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Der Schwimmer im Treibsand
Endlich wieder in deutscher Übersetzung: Raymond Carvers beunruhigende Erzählungen / Von Hubert Spiegel

Nicht jeder bedeutende Schriftsteller braucht ein Geheimnis, aber es kann nicht schaden, wenn er eines hat. Raymond Carver, einer der wichtigsten und einflussreichsten Autoren der amerikanischen Literatur der letzten fünfundzwanzig Jahre zählt, hatte gleich zwei Geheimnisse. Da sind zum einen jene Jahre in seinem Leben, in denen Carver ein haltloser Trinker war, ein Verlierer, der Streit in Kneipen anfing, Schulden machte, Freundschaften und Inneneinrichtungen ruinierte. Damals, in den frühen siebziger Jahren, muss Carver, den seine Freunde später liebevoll-spöttisch "den guten Raymond" nannten, ein völlig anderer Mensch gewesen sein. Wäre zu jener Zeit die Rede auf ihn gekommen, hätte man vermutlich vom "bösen Raymond" gesprochen. Aber damals sprach keine Menschenseele von dem hageren, knochigen Mann mit schlechten Zähnen, breiten Koteletten und verfilzten Haaren, als den ihn sein Schriftstellerkollege Richard Ford noch 1977 kennen lernte. Und Carver selbst redete später nur ungern über seine dunklen Jahre, in denen er auf den Abgrund zusauste wie ein Regentropfen, der am Fensterglas herunterfließt.

Was den freien Fall aufgehalten hat, wie es dem ehemals schweren Alkoholiker gelungen ist, bis ans Ende seines Lebens den Rückfall zu vermeiden, der ihm oft und meistens hinter vorgehaltener Hand prophezeit worden war, darüber lässt sich letztlich nur spekulieren. Tess Gallagher, seine zweite Frau, dürfte eine Rolle gespielt haben, aber vermutlich noch wichtiger war der Erfolg, den er als Schriftsteller hatte. Dreizehn Jahre lang, vom Erscheinen seines Debütbandes "Would you please be quiet, please" im Jahr 1976 bis zu seinem Krebstod 1988, wuchs Carvers Ruhm in Amerika unablässig, und wenn man Richard Fords Vorwort zur deutschen Ausgabe Glauben schenkt, hat es wohl nur selten einen Schriftsteller gegeben, der sein Glück so zu genießen verstand. Carver sog den Erfolg mit der Inbrunst eines Häftlings durch die Nasenflügel, der nach endlosen Jahren im Kerkerloch erstmals wieder frische Luft atmet: Etwas war eingetreten, das er nicht mehr für möglich gehalten hatte. Staunen und Verwunderung über seinen Ruhm sollten Carver bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen.

Dass dieser Erfolg undenkbar gewesen wäre ohne die zuvor erlittenen Qualen und Ängste, war ihm bewusst. Carver hat nie offen autobiographisch geschrieben, er hat nie öffentlich mit seinen dunklen Jahren kokettiert, aber sein zweites Geheimnis ist mit jenem ersten aufs engste verknüpft. Woran, so fragt man sich, mag es liegen, dass es oft nahezu unmöglich ist, sich dem eigentümlichen Reiz dieser Kurzprosa zu entziehen? Carver ist für seine Lakonie und seinen minimalistischen Stil gepriesen worden, für die Genauigkeit seiner Beschreibungen, für die Leichtigkeit, mit der er in wenigen Sätzen und einigen Dialogfetzen das Milieu und die Situation seiner Figuren etabliert. Seine Kunst, seine Erzählungen mit Sätzen anfangen zu lassen, die wie aus dem Zusammenhang gerissen wirken und doch unmittelbar zu den Figuren führen, trug ihm den ehrenvollen Vergleich mit Tschechow ein. Carver hat so viel Lob erfahren, dass man misstrauisch werden könnte. Und tatsächlich muss man einwenden, dass er sich zuweilen allzu sehr auf das sichere Handgelenk verlässt, aus dem heraus er der Banalität des Alltags die Aura des Existenziellen überwirft. Aber selbst wenn man allen Lobeshymnen rückhaltlos zustimmen würde, das Geheimnis dieses Schriftstellers enthüllen sie nicht. Vermutlich kam John Updike der Sache noch am nächsten, als er von Carvers Fähigkeit sprach, "die Dinge in ihrem Schweigen zum Sprechen zu bringen". Dass die Dinge sprechen, heißt indes noch nicht, dass sie etwas verraten.

"Das hier hat nichts mit mir zu tun", lautet der erste Satz eines Berichts, in dem ein Briefträger von einem jungen Paar erzählt, das eines Tages mit seinen drei Kindern in der Stadt auftaucht, um sie nach ein paar Monaten wieder zu verlassen, allerdings auf getrennten Wegen, erst sie, dann er. Vermutlich haben die beiden sich gestritten, vermutlich hat sie ihn verlassen, vermutlich hat er gelitten wie ein Hund. Aber Genaueres erfahren wir nicht, der Briefträger ist ein neugieriger Bursche, aber ein eher lausiger Beobachter. Am Ende der Erzählung mit dem Titel "Was machen Sie in San Francisco?" wissen wir über den Ich-Erzähler nicht sehr viel mehr, als dieser über die Neuankömmlinge in Erfahrung bringen konnte. Aber wir haben gesehen, wie Neugierde, Anteilnahme, Zuneigung, Mitgefühl, Zorn und der Schmerz des Verlassenen den Briefträger ergriffen haben, Gefühle, die er nicht mit einem Wort erwähnt.

Carvers Helden haben nichts Spektakuläres an sich, es sind kleine Leute mit großen Schwierigkeiten: der Briefträger Henry Robinson aus Arcata, die Kellnerin, die einen ungeheuer dicken Mann bedient und danach glaubt, ihr Leben werde nie mehr sein wie zuvor, der arbeitslose Vertreter Earl Obermann, der seine Frau Doreen bei der Arbeit im Coffee Shop besucht und feststellt, dass er sie zwar mit den Augen eines gewöhnlichen Gastes betrachten, nicht aber die anderen Gäste dazu bringen kann, Doreen mit den Augen des Ehemannes zu sehen. Am Ende der Geschichte sehen alle im Coffee Shop Earl an, aber niemand lässt uns wissen, welchen Anblick er bietet. Doreen zuckt nur mit den Schultern.

Die meisten dieser Short Stories, die selten länger als fünfzehn, zwanzig Seiten sind, ließen sich mit wenigen Sätzen wiedergeben: Ein Mann erhält einen Anruf von einer Unbekannten, die ihn inständig bittet, ihn zu besuchen, bis er es schließlich tut, ohne zu wissen, warum (Sind sie Arzt?). Ein Ehemann erfährt von einem lang zurückliegenden Seitensprung seiner Frau, rennt aus dem Haus, irrt durch die Nacht, kehrt zurück und schließt sich im Badezimmer ein (Würdest du bitte endlich still sein, bitte). Ein Arbeitsloser erhält Besuch von einem Staubsaugervertreter, der sich nicht abwimmeln lassen will. Was sich nicht so einfach wiedergeben lässt, sind die Gefühle und inneren Bewegungen, die sich auf diesen wenigen Seiten abspielen. Carver liebt es, seine Figuren in jenen Momenten zu zeigen, in denen sie zu ahnen beginnen, dass etwas mit ihnen geschieht, dass Veränderungen bevorstehen, dass etwas begonnen hat, Besitz von ihnen zu ergreifen und sich nicht mehr aufhalten lassen wird. Diese Furcht vor dem, was da kommt, sich aber noch nicht vollständig zu erkennen gibt, lässt Carver in seine Figuren eindringen wie Flugsand in die Ritzen alter Gemäuer. Am Ende gibt es keinen Quadratzentimeter mehr im ganzen Haus, wo nicht bei jedem Schritt die Sandkörner unter der Schuhsohle knirschen. Carvers Geschichten sind Variationen unserer Angst und seine Helden Menschen jener Sorte, die nicht gelernt haben, ihren Ängsten Namen zu geben.

Ihr Autor ist klug genug, es bei dieser Namenlosigkeit zu belassen. Er weiß nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn man den Boden unter den Füßen verliert, und dennoch beschreibt er in seinen Geschichten unermüdlich immer wieder dieses Gefühl, jene Treibsand-Situationen, in denen die Welt ihre Konsistenz verändert und Fußboden, Wände und alle Bindungen plötzlich fest und flüssig zugleich sind: zu flüssig, um darauf zu stehen, zu fest, um darin zu schwimmen.

Die Stetigkeit und Ausdauer, mit denen Carver in seinem knapp zehnbändigen Werk immer wieder derartige Situationen schildert, haben etwas Obsessives an sich. Aber es ist nicht die Lust am Untergang, die Carver bewegt, denn es ist fast nie das katastrophale Ende, das hier geschildert wird. Es muss etwas anderes gewesen sein, dass ihn bewegt hat. Vielleicht der Triumph desjenigen, der erst im Treibsand das Schwimmen gelernt hat.

Carvers Kunst hat nicht nur viele Bewunderer, sondern auch zahlreiche Jünger gefunden. So viele, dass sich ohne weiteres von einer Carver-Schule sprechen lässt, zu der sich unlängst auch Ingo Schulze bekannt hat, während Judith Hermann sich erleichtert zeigte, Carvers Texten erst nach Beendigung ihres Debütbands begegnet zu sein. Das ist keineswegs ehrenrührig, wenn selbst ein Autor vom Rang Richard Fords Zweifel hegt, ob er sich jemals von den "Rockschößen" des sieben Jahre älteren Freundes freimachen kann. Fords Vorwort, ursprünglich aus Anlass des zehnten Todestages Carvers im August 1998 im "New Yorker" erschienen, ist das Begrüßungswort für einen Verschollenen, wie es schöner kaum denkbar ist. Und verschollen war Carver in Deutschland in den letzten Jahren tatsächlich, so unglaublich das klingen mag. Die Bände, die der Piper Verlag in den achtziger Jahren in der soliden Übersetzung Klaus Hoffers herausgebracht hatte, sind längst vergriffen, und außer dem im Maro Verlag erschienenen Lyrikband "Gorki unterm Aschenbecher" hat es im deutschen Buchhandel kein einziges Werk dieses bedeutenden Autors mehr gegeben. Jetzt hat sich der Berlin Verlag Carvers angenommen. Das ist umso verdienstvoller, als man es es nicht bei der Neuübersetzung des Debütbandes "Würdest du bitte endlich still sein, bitte" belassen will, sondern eine vierbändige Carver-Ausgabe angekündigt hat. Dem Debüt, von dessen zweiundzwanzig Erzählungen neun zum ersten Mal überhaupt in deutscher Sprache vorliegen, soll bereits im kommenden Herbst mit "Cathedral" (1983) der zweite Band folgen. Ingo Schulze wird "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" (1981) mit einem Nachwort versehen, und ein vierter Band soll neben einigen zerstreuten auch mehrere bislang unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass versammeln. Die Übersetzung aller Bände wird Helmut Frielinghaus besorgen, der Carvers lakonischen Tonfall zu wahren weiß, ohne die Zwischentöne zu opfern. Dass nicht alle subtilen Untertöne des Originals vernehmbar sind, ist dem Übersetzer nur im seltensten Fall anzukreiden.

Aber nicht nur Übersetzer, auch Lektoren haben ihre Mühe mit Carver. Sein langjähriger Lektor Gordon Lish, selbst durchaus literarisch ambitioniert, hat noch zu Carvers Lebzeiten zunächst hinter vorgehaltener Hand im engsten Kollegenkreis und später wohl bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verkündet, dass Carvers berühmter Stil das Ergebnis seines Lektorats sei. Er, Lish, habe Carvers Texte radikal zusammengestrichen, habe Passagen umgeschrieben, neue, eigene Anfänge und Schlusspassagen erdacht. Vor allem der an Carver so geschätzte lakonische Ton und die minimalistische Erzählweise seien erst der Hand des Lektors zu verdanken.

Carver selbst hat sich, soweit man weiß, nie zu den Vorwürfen geäußert, aber natürlich gibt es die Manuskripte noch. D. T. Max, der Gelegenheit hatte, einige von Lish bearbeitete Manuskripte Carvers einzusehen, hat in einem langen Artikel, der im August 1998 in der "New York Times" erschienen ist, seine Eindrücke geschildert: Lish hat einzelne Geschichten um bis zu siebzig Prozent gekürzt und auch einzelne Sätze oder ganze Passagen neu geschrieben. In dem 1981 erschienenen Band "What We Talk About When We Talk About Love", hat der Lektor die Hälfte des Originaltextes gestrichen und für zehn der dreizehn Erzählungen das Ende umgeschrieben. Max bescheinigt Lish, er habe durchaus Anteil am Erfolg Carvers, aber zugleich attestiert er ihm die Aussichtslosigkeit seines Protests: "Es ist verständlich, dass Lishs Vorwürfe niemals ernst genommen wurden. Ein egozentrischer Lektor wagt den Aufstand gegen eine amerikanische Ikone."

Vielleicht wird ja neues Licht auf diesen Streit fallen, wenn Tess Gallagher, Carvers Witwe, die ihrerseits eine Co-Autorschaft an späten Texten ihres Mannes für sich reklamiert, Zugang zu weiteren, in ihrer Obhut befindlichen Manuskripten erlaubt. Bis dahin lässt sich nur konstatieren, dass Gordon Lish ein glänzender Lektor war, der nicht länger nur hinter der Bühne glänzen wollte. Lish verstand sich offenbar als Konkurrent seines Klienten, und womöglich hielt er sich für den besseren Schriftsteller. Dass er mit seinen eigenen Texten keinen nennenswerten Erfolg hatte, spricht weder gegen seine Behauptungen noch gegen seine Verdienste als Lektor. Wenn es überhaupt etwas beweist, dann wohl dies: Es ist eine Sache,einen Rohdiamanten zu schleifen, ihn aus Kohlenstoff zu pressen, eine ganz andere.

Raymond Carver: "Würdest du bitte endlich still sein, bitte". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2000. 326 S., geb., 39,80 DM.

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