Das Tagebuch der berühmten chinesischen Schriftstellerin Fang Fang aus einer abgeriegelten Stadt ist ein einzigartiges, ergreifendes Zeitdokument über den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, den die Menschen in Wuhan weltweit als erste führten.
Wuhan: Am 25. Januar, zwei Tage nachdem erstmals in der Geschichte eine 9-Millionen-Einwohner-Stadt komplett von der Außenwelt abgeriegelt wurde, beginnt Fang Fang, online Tagebuch zu schreiben. Eingeschlossen in ihrer Wohnung berichtet sie vom Hereinbrechen und dem Verlauf einer Katastrophe, von der Panik während der ersten Tage der Covid-19-Epidemie bis zu ihrer erfolgreichen Eindämmung. Sie erzählt von der Einsamkeit, dem heroischen Kampf des Personals in den Krankenhäusern, vom Leid der Erkrankten, dem Schmerz der Angehörigen von Verstorbenen und der Solidarität unter Nachbarn.
Millionen Chinesen folgen ihren Gedanken und ihren Geschichten aus dem unmöglichen Alltag - vom Zorn über die Untätigkeit und Vertuschungsmanöver der Behörden während der Anfangsphase der Epidemie und der Unterdrückung warnender Stimmen, bis zur Anerkennung der wirkungsvollen Maßnahmen der Regierung in den Wochen danach.
Fang Fang liefert einen unverstellten Blick auf die Katastrophe "von unten", ganz nah an den Menschen, ihren Ängsten und Nöten, aber auch ihren kleinen Freuden und dem speziellen Wuhaner Humor selbst in dunkelsten Stunden. Zugleich wurde ihr Wuhan Diary in China zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzung über den Umgang mit kritischen Stimmen und Verantwortung - und somit über Chinas künftigen Weg.
"Als Zeugen, die wir die tragischen Tage von Wuhan miterlebt haben, sind wir verpflichtet, für diejenigen Gerechtigkeit einzufordern, die gestorben sind."
- Fang Fang
Wuhan: Am 25. Januar, zwei Tage nachdem erstmals in der Geschichte eine 9-Millionen-Einwohner-Stadt komplett von der Außenwelt abgeriegelt wurde, beginnt Fang Fang, online Tagebuch zu schreiben. Eingeschlossen in ihrer Wohnung berichtet sie vom Hereinbrechen und dem Verlauf einer Katastrophe, von der Panik während der ersten Tage der Covid-19-Epidemie bis zu ihrer erfolgreichen Eindämmung. Sie erzählt von der Einsamkeit, dem heroischen Kampf des Personals in den Krankenhäusern, vom Leid der Erkrankten, dem Schmerz der Angehörigen von Verstorbenen und der Solidarität unter Nachbarn.
Millionen Chinesen folgen ihren Gedanken und ihren Geschichten aus dem unmöglichen Alltag - vom Zorn über die Untätigkeit und Vertuschungsmanöver der Behörden während der Anfangsphase der Epidemie und der Unterdrückung warnender Stimmen, bis zur Anerkennung der wirkungsvollen Maßnahmen der Regierung in den Wochen danach.
Fang Fang liefert einen unverstellten Blick auf die Katastrophe "von unten", ganz nah an den Menschen, ihren Ängsten und Nöten, aber auch ihren kleinen Freuden und dem speziellen Wuhaner Humor selbst in dunkelsten Stunden. Zugleich wurde ihr Wuhan Diary in China zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzung über den Umgang mit kritischen Stimmen und Verantwortung - und somit über Chinas künftigen Weg.
"Als Zeugen, die wir die tragischen Tage von Wuhan miterlebt haben, sind wir verpflichtet, für diejenigen Gerechtigkeit einzufordern, die gestorben sind."
- Fang Fang
»Ihr Buch ist einzigartig. Es bringt uns die Chinesen nahe, öffnet ein Fenster zu einer privaten Welt, die wir nicht kennen. Es ist tragisch und paradox, dass ausgerechnet diese zutiefst menschliche, auf ihre Art patriotische Stimme zum Schweigen gebracht werden soll.« ttt - titel thesen temperamente 20200607
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2020Wollt ihr ernsthaft, dass wir alle durchdrehen?
Wegen ihrer im Netz veröffentlichten Aufzeichnungen über die Pandemie in Wuhan ist sie ins Visier der chinesischen Behörden geraten. Nun erscheint Fang Fangs Tagebuch auch auf Deutsch.
Acht Tage nach der Abriegelung von Wuhan wendet sich die Schriftstellerin Fang Fang in einem Appell an ihre Kollegen: "Bestimmt werdet ihr, wenn alles vorüber ist, dazu aufgefordert, lobpreisende Essays und Gedichte zu verfassen. Doch ich bitte euch, nehmt euch Zeit, um euch darüber klarzuwerden, wen ihr preisen wollt." Als erfahrene Romanautorin kennt Fang Fang die Mechanismen des chinesischen Zensur- und Propagandabetriebs. Trotzdem hat die Wuhanerin wohl nicht damit gerechnet, dass ihr eigenes, täglich im Internet veröffentlichtes Tagebuch aus dem Epizentrum der Seuche sie später zum Ziel einer staatlich geförderten Hetzkampagne machen würde. Dabei ist das "Wuhan Diary" nicht einmal übermäßig kritisch. Doch allein die hohe Zahl der Leser, die ihre täglichen Aufzeichnungen im Netz verfolgten, an manchen Tagen waren es Millionen, machten das Tagebuch zu einer wirkmächtigen Gegenerzählung zur Staatspropaganda. Heute erscheint es als Buch auf Deutsch und in etlichen anderen Sprachen. In den Augen der chinesischen Nationalisten macht das seine Autorin zur Nestbeschmutzerin.
76 Tage dauerte die Abriegelung von Wuhan. Fang Fang dokumentiert diese Zeit aus der Perspektive einer Eingeschlossenen, die ihre Wohnung nur selten verlässt. Ihre Informationen erhält sie von befreundeten Ärzten, Polizisten, Schriftstellern, von ihrer Familie und oft auch einfach aus dem Internet. Sie erhebt nicht den Anspruch, Wahrheiten zu enthüllen, sondern kommentiert und reflektiert einfach nur das, was sie zu Ohren und zu Gesicht bekommt. Fast jedes ihrer Kapitel beginnt mit dem Wetter, weil es das Einzige ist, das sie von der Welt jenseits ihres Wohnzimmerfensters direkt wahrnehmen kann.
Ein Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: die Forderung, dass diejenigen, die die Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus drei Wochen lang vertuscht haben, zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Zugleich kommt Fang Fang zu dem Schluss, dass es sich nicht allein um persönliches Versagen einzelner Funktionäre handelt, sondern um die Mechanismen des chinesischen Herrschaftssystems. Sie zählt auf: die Neigung der Beamten, negative Nachrichten zu unterdrücken; das leere, politisch korrekte Geschwätz; die Verhinderung, dass die Medien den wahren Sachverhalt berichten. Viele Wuhaner teilten damals ihre Kritik, als nach und nach enthüllt wurde, wie systematisch die Kader die Wahrheit unterdrückt hatten. "Hört man sich um, kommt erst jetzt vielen Leuten zu Bewusstsein, dass es nichts bringt, Tag für Tag nur die Stärke unserer Nation zu bejubeln, und dass Kader, die nur in politischen Schulungen herumsitzen, aber unfähig sind, konkrete Arbeit zu leisten, völlig nutzlos sind", schreibt Fang Fang.
An anderer Stelle findet die Autorin aber durchaus lobende Worte für die Anstrengungen dieser Kader: für die Parteimitglieder, die in die Haushalte geschickt werden, um den Gesundheitszustand der Bürger zu dokumentieren; für die Polizisten, die trotz der Gefahr einer Ansteckung Kranke auf ihrem Rücken die Treppe hinuntertragen; für das Militär, das die Seuchenbekämpfung generalstabsmäßig organisiert, und für die neu eingesetzte Parteiführung von Wuhan, die im Februar mit beherzten Entscheidungen die Lage unter Kontrolle bringt.
Das Normalmaß, mit dem sie die Fehler und die Erfolge der handelnden Personen bewertet, hebt sich wohltuend ab von der chinesischen Heldenpropaganda, aber auch von manchen Kritikern im Ausland, die den Verantwortlichen nicht zugestehen, dass vieles nicht vom ersten Tag an so eindeutig war, wie es im Nachhinein erscheint.
Fang Fang erinnert daran, dass am 31. Dezember halb Wuhan die warnenden Nachrichten des Augenarztes Li Wenliang gelesen hat, der dafür später von der Polizei abgestraft wurde. Warum, so fragt sie sich selbst, ergriff sie dennoch keine Vorsichtsmaßnahmen? Die Antwort ist bezeichnend: "Wir hätten nie geglaubt, dass es die Führung der Provinzregierung von Hubei wagen würde, sich in einer so schicksalhaften Angelegenheit derart achtlos und verantwortungslos zu verhalten." Ihr Vertrauen in die chinesische Zentralregierung scheint sogar noch auf dem Höhepunkt der Krise ungebrochen. "Jedermann weiß, dass in China sämtliche Kräfte mobilisiert werden, wenn der Staat auf nationaler Ebene die Sache in die Hand nimmt", schreibt sie. Mit solchen Passagen gibt das "Wuhan Diary" Einblicke in das Verhältnis zwischen dem autoritären Staat und seinen Bürgern, das komplizierter ist als häufig angenommen.
Das gilt auch für die Zensur in China. "Liebe Netzzensoren", schreibt Fang Fang an einer Stelle. "Gewisse Dinge anzusprechen, müsst ihr den Wuhanern gestatten. Das schafft ihnen etwas Erleichterung. Wollt ihr ernsthaft, dass wir alle durchdrehen, weil ihr uns verbietet, unseren Kummer loszuwerden?" Das dürfte durchaus ein ernstgemeinter Appell sein. Auch die Zensoren waren darauf bedacht, dass der Druck aus dem Kessel entweichen konnte.
Jetzt aber, da das Schlimmste überstanden ist, haben sie die Zügel wieder angezogen. Erst recht, seit China wegen der Vertuschung des Ausbruchs international auf der Anklagebank sitzt. Auf einmal heißt es, Fang Fang und ihre Unterstützer hätten "pervertierte Werte und verkrümmte Seelen", wie ein führender Wissenschaftler in einer Vorlesung verkündete, die dann von Parteimedien verbreitet wurde. Das "Wuhan Diary" ist damit auch ein Dokument für die jedem Intellekt Hohn sprechende Verengung dessen, was im heutige China noch gesagt werden darf.
Die 65 Jahre alte Schriftstellerin, die mit bürgerlichem Namen Wang Fang heißt, ist in China keine Unbekannte. Sie wurde 2010 mit dem renommierten Lu-Xun-Literaturpreis ausgezeichnet. In vielen ihrer Werke beschreibt sie das Leben einfacher Leute und übt moderate Gesellschaftskritik. Das hat sie auch schon früher zum Ziel von Angriffen gemacht.
Das Bedrückendste an ihrem neuen Buch ist der Mangel an Menschlichkeit des Machtapparats im Angesicht der Katastrophe. Die freiwilligen Helfer können nicht einfach nur helfen, sie müssen "Fähnchen schwenken", wie Fang Fang spitz bemerkt. An anderer Stelle berichtet sie über ein Interview, das sie einer Parteizeitung gibt. Ihr Hinweis, dass die Angehörigen der Toten "den Trost und die Fürsorge des Staates" brauchten, wird vor der Veröffentlichung gestrichen. Nach dem Ende der Epidemie, schreibt Fang Fang, werde es notwendig sein, für mehr humanistische Erziehung einzutreten.
Dem Hurra der Propaganda stellt sie selbst nüchterne Betrachtungen über die Menschen in ihrem Umfeld gegenüber: Ärzte, die über den Nutzen von traditioneller chinesischer Medizin streiten, ein Straßenfeger, der trotz der abgesperrten Straßen tagtäglich seiner Arbeit nachgeht; Beamte, die sich Gedanken darüber machen, wie die Mobiltelefone der Verstorbenen für die Angehörigen als Erinnerungsstücke erhalten werden können; und nicht zuletzt ein Arzt, der sich quälend fragt, wie es zu dem "kollektiven Schweigen" kommen konnte, obwohl so viele Mediziner wussten, dass etwas im Gange war. Darauf eine bündige Antwort zu geben, maßt sich Fang Fang nicht an.
FRIEDERIKE BÖGE
Fang Fang: "Wuhan Diary". Tagebuch aus einer
gesperrten Stadt.
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020. 349 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wegen ihrer im Netz veröffentlichten Aufzeichnungen über die Pandemie in Wuhan ist sie ins Visier der chinesischen Behörden geraten. Nun erscheint Fang Fangs Tagebuch auch auf Deutsch.
Acht Tage nach der Abriegelung von Wuhan wendet sich die Schriftstellerin Fang Fang in einem Appell an ihre Kollegen: "Bestimmt werdet ihr, wenn alles vorüber ist, dazu aufgefordert, lobpreisende Essays und Gedichte zu verfassen. Doch ich bitte euch, nehmt euch Zeit, um euch darüber klarzuwerden, wen ihr preisen wollt." Als erfahrene Romanautorin kennt Fang Fang die Mechanismen des chinesischen Zensur- und Propagandabetriebs. Trotzdem hat die Wuhanerin wohl nicht damit gerechnet, dass ihr eigenes, täglich im Internet veröffentlichtes Tagebuch aus dem Epizentrum der Seuche sie später zum Ziel einer staatlich geförderten Hetzkampagne machen würde. Dabei ist das "Wuhan Diary" nicht einmal übermäßig kritisch. Doch allein die hohe Zahl der Leser, die ihre täglichen Aufzeichnungen im Netz verfolgten, an manchen Tagen waren es Millionen, machten das Tagebuch zu einer wirkmächtigen Gegenerzählung zur Staatspropaganda. Heute erscheint es als Buch auf Deutsch und in etlichen anderen Sprachen. In den Augen der chinesischen Nationalisten macht das seine Autorin zur Nestbeschmutzerin.
76 Tage dauerte die Abriegelung von Wuhan. Fang Fang dokumentiert diese Zeit aus der Perspektive einer Eingeschlossenen, die ihre Wohnung nur selten verlässt. Ihre Informationen erhält sie von befreundeten Ärzten, Polizisten, Schriftstellern, von ihrer Familie und oft auch einfach aus dem Internet. Sie erhebt nicht den Anspruch, Wahrheiten zu enthüllen, sondern kommentiert und reflektiert einfach nur das, was sie zu Ohren und zu Gesicht bekommt. Fast jedes ihrer Kapitel beginnt mit dem Wetter, weil es das Einzige ist, das sie von der Welt jenseits ihres Wohnzimmerfensters direkt wahrnehmen kann.
Ein Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: die Forderung, dass diejenigen, die die Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus drei Wochen lang vertuscht haben, zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Zugleich kommt Fang Fang zu dem Schluss, dass es sich nicht allein um persönliches Versagen einzelner Funktionäre handelt, sondern um die Mechanismen des chinesischen Herrschaftssystems. Sie zählt auf: die Neigung der Beamten, negative Nachrichten zu unterdrücken; das leere, politisch korrekte Geschwätz; die Verhinderung, dass die Medien den wahren Sachverhalt berichten. Viele Wuhaner teilten damals ihre Kritik, als nach und nach enthüllt wurde, wie systematisch die Kader die Wahrheit unterdrückt hatten. "Hört man sich um, kommt erst jetzt vielen Leuten zu Bewusstsein, dass es nichts bringt, Tag für Tag nur die Stärke unserer Nation zu bejubeln, und dass Kader, die nur in politischen Schulungen herumsitzen, aber unfähig sind, konkrete Arbeit zu leisten, völlig nutzlos sind", schreibt Fang Fang.
An anderer Stelle findet die Autorin aber durchaus lobende Worte für die Anstrengungen dieser Kader: für die Parteimitglieder, die in die Haushalte geschickt werden, um den Gesundheitszustand der Bürger zu dokumentieren; für die Polizisten, die trotz der Gefahr einer Ansteckung Kranke auf ihrem Rücken die Treppe hinuntertragen; für das Militär, das die Seuchenbekämpfung generalstabsmäßig organisiert, und für die neu eingesetzte Parteiführung von Wuhan, die im Februar mit beherzten Entscheidungen die Lage unter Kontrolle bringt.
Das Normalmaß, mit dem sie die Fehler und die Erfolge der handelnden Personen bewertet, hebt sich wohltuend ab von der chinesischen Heldenpropaganda, aber auch von manchen Kritikern im Ausland, die den Verantwortlichen nicht zugestehen, dass vieles nicht vom ersten Tag an so eindeutig war, wie es im Nachhinein erscheint.
Fang Fang erinnert daran, dass am 31. Dezember halb Wuhan die warnenden Nachrichten des Augenarztes Li Wenliang gelesen hat, der dafür später von der Polizei abgestraft wurde. Warum, so fragt sie sich selbst, ergriff sie dennoch keine Vorsichtsmaßnahmen? Die Antwort ist bezeichnend: "Wir hätten nie geglaubt, dass es die Führung der Provinzregierung von Hubei wagen würde, sich in einer so schicksalhaften Angelegenheit derart achtlos und verantwortungslos zu verhalten." Ihr Vertrauen in die chinesische Zentralregierung scheint sogar noch auf dem Höhepunkt der Krise ungebrochen. "Jedermann weiß, dass in China sämtliche Kräfte mobilisiert werden, wenn der Staat auf nationaler Ebene die Sache in die Hand nimmt", schreibt sie. Mit solchen Passagen gibt das "Wuhan Diary" Einblicke in das Verhältnis zwischen dem autoritären Staat und seinen Bürgern, das komplizierter ist als häufig angenommen.
Das gilt auch für die Zensur in China. "Liebe Netzzensoren", schreibt Fang Fang an einer Stelle. "Gewisse Dinge anzusprechen, müsst ihr den Wuhanern gestatten. Das schafft ihnen etwas Erleichterung. Wollt ihr ernsthaft, dass wir alle durchdrehen, weil ihr uns verbietet, unseren Kummer loszuwerden?" Das dürfte durchaus ein ernstgemeinter Appell sein. Auch die Zensoren waren darauf bedacht, dass der Druck aus dem Kessel entweichen konnte.
Jetzt aber, da das Schlimmste überstanden ist, haben sie die Zügel wieder angezogen. Erst recht, seit China wegen der Vertuschung des Ausbruchs international auf der Anklagebank sitzt. Auf einmal heißt es, Fang Fang und ihre Unterstützer hätten "pervertierte Werte und verkrümmte Seelen", wie ein führender Wissenschaftler in einer Vorlesung verkündete, die dann von Parteimedien verbreitet wurde. Das "Wuhan Diary" ist damit auch ein Dokument für die jedem Intellekt Hohn sprechende Verengung dessen, was im heutige China noch gesagt werden darf.
Die 65 Jahre alte Schriftstellerin, die mit bürgerlichem Namen Wang Fang heißt, ist in China keine Unbekannte. Sie wurde 2010 mit dem renommierten Lu-Xun-Literaturpreis ausgezeichnet. In vielen ihrer Werke beschreibt sie das Leben einfacher Leute und übt moderate Gesellschaftskritik. Das hat sie auch schon früher zum Ziel von Angriffen gemacht.
Das Bedrückendste an ihrem neuen Buch ist der Mangel an Menschlichkeit des Machtapparats im Angesicht der Katastrophe. Die freiwilligen Helfer können nicht einfach nur helfen, sie müssen "Fähnchen schwenken", wie Fang Fang spitz bemerkt. An anderer Stelle berichtet sie über ein Interview, das sie einer Parteizeitung gibt. Ihr Hinweis, dass die Angehörigen der Toten "den Trost und die Fürsorge des Staates" brauchten, wird vor der Veröffentlichung gestrichen. Nach dem Ende der Epidemie, schreibt Fang Fang, werde es notwendig sein, für mehr humanistische Erziehung einzutreten.
Dem Hurra der Propaganda stellt sie selbst nüchterne Betrachtungen über die Menschen in ihrem Umfeld gegenüber: Ärzte, die über den Nutzen von traditioneller chinesischer Medizin streiten, ein Straßenfeger, der trotz der abgesperrten Straßen tagtäglich seiner Arbeit nachgeht; Beamte, die sich Gedanken darüber machen, wie die Mobiltelefone der Verstorbenen für die Angehörigen als Erinnerungsstücke erhalten werden können; und nicht zuletzt ein Arzt, der sich quälend fragt, wie es zu dem "kollektiven Schweigen" kommen konnte, obwohl so viele Mediziner wussten, dass etwas im Gange war. Darauf eine bündige Antwort zu geben, maßt sich Fang Fang nicht an.
FRIEDERIKE BÖGE
Fang Fang: "Wuhan Diary". Tagebuch aus einer
gesperrten Stadt.
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020. 349 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main