Der erste Roman des Amerikaners Matt Sumell - ein emotionaler Faustschlag. Eigentlich ist Alby ein guter Kerl. Aber dennoch schlägt er seine Schwester, besäuft sich sinnlos und fängt mit jedem Streit an, der ihm in die Quere kommt. Kein Wunder, dass seine Mutter selbst auf dem Sterbebett kein gutes Wort für ihn übrig hat. Dabei liebt Alby sehnsuchtsvoll und unbeholfen: einen verletzten Vogel, seine Großmutter, jeden Schwachen und Wehrlosen unter uns. In seinem ungestümen Wesen offenbart sich ein verletzlicher, melancholischer und liebessüchtiger Held, der uns wider Willen zum Lachen bringt. Ein erstaunliches Debüt voll derbem Humor und verblüffender Intensität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2016Böser Junge fürs Leben
Kippmomente: Matt Sumells Debütroman "Wunde Punkte"
In den unzähligen kleinen Situationen und größeren Ereignissen, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, ist es im Grunde auch nicht anders als in den einzelnen Runden beim Roulette: rot oder schwarz, gewonnen oder verloren, gut oder schlecht. Und immerzu kann im letzten Bruchteil einer Sekunde die Kugel, wenn sie schon im richtigen Fach zu liegen scheint, plötzlich doch noch über den Rand zur anderen Farbe hinüberklackern.
Im Leben von Alby, dem Ich-Erzähler aus Matt Sumells Romandebüt "Wunde Punkte", gibt es viele dieser Kippmomente, und immerzu springt die Kugel am Ende ins falsche Fach. Etwa wenn der dreißigjährige Amerikaner, der durch testosterongesättigtes Gehabe sein Selbstbewusstsein allenfalls notdürftig behaupten kann, an der Supermarkttheke für eine Frau gehalten wird. Richtigstellen kann er den Irrtum nicht, zu groß ist in diesem Moment die Scham. Aber im Gegenzug brodelt Albys Wut, die bald irgendwen ereilen wird, umso heißer.
Symptomatischer noch ist jene Szene, in der Alby seine Großmutter im Pflegeheim besucht und - obwohl er sich anfangs sträubt - die alte demente Frau auf Geheiß der Pflegerin zu füttern beginnt. "Nach etwa zwanzig Minuten hatte ich alles hineingelöffelt außer der Milch. Darauf war ich stolz. Ich freute mich darauf, es meiner Mutter zu erzählen. Siehst du, Ma? Ich bin ein guter Junge."
Es mag keine ganz neue Erkenntnis sein, dass Kinder zeitlebens immer wieder um die Anerkennung oder zumindest um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und ihrer Mitmenschen buhlen. Das gilt umso mehr für jene, die in der Regel wie Alby vor allem durch die verbale und körperliche Gewalt auffallen, mit der sie ihre Umwelt traktieren. Die Tragik von Alby besteht darin, dass es eben auch in den Momenten, in denen er seine emphatische Seite zeigen will, kippt. Ausgerechnet in dem Augenblick, als seine Mutter den Speisesaal betritt, verschluckt sich die Großmutter nicht nur an der Milch und wird von einem Würgereiz geschüttelt, sondern sie spuckt im hohen Bogen das mühsam verabreichte Essen wieder aus. Mutter und herbeieilende Krankenschwester beseitigen hektisch das Malheur, und Alby, wieder ganz böser Junge, sitzt daneben und lacht. Er kann eben nur nett sein, wenn keiner es sieht.
Genau diese Crux macht den Reiz von Sumells Roman aus, der sich aus einer Reihe lose miteinander verbundener Episoden zusammensetzt. Das Bild, das der Ich-Erzähler von sich zeichnet, mag so gar nicht mit demjenigen übereinstimmen, das die anderen von ihm haben. Oder gehen wir hier einem jener berüchtigten unzuverlässigen Erzähler auf den Leim, der zumindest uns Leser von seiner Harmlosigkeit überzeugen will?
Womöglich wäre das der einzige Trost, der Alby bliebe. Denn wie schmerzhaft die Kluft zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung ist, zeigt sich ihm, als seine Mutter an Krebs erkrankt und auf dem Sterbebett noch einmal nacheinander ihre Kinder zu sich bittet. Schon dass der jüngere Bruder vor ihm ins Zimmer gerufen wird, versetzt Alby einen Stich. Schlimmer noch, dass der Bruder nur eine Nachricht für ihn mit hinausbringt: Die Mutter sei zu müde, um noch mit Alby zu sprechen. Als sie ihn Tage später doch noch hereinlässt, sind es keine mütterlichen Liebesbekundungen, die sie ihm mit auf den Weg gibt. Stattdessen erinnert sie ihn daran, wie er als Kind einmal wütend ein Buch nach ihr geschleudert habe. Er muss ihr das Versprechen geben, niemals wieder gewalttätig gegen eine Frau zu werden. Dann soll er gehen. Was bleibt, ist nichts Versöhnliches, sondern allein der Vorwurf.
Glücklicherweise ist Sumell weder so sentimental, eine Saulus-Paulus-Geschichte zu erzählen, noch die Gründe dafür ans Licht bringen zu wollen, warum Alby immer wieder ins Straucheln gerät. Die Mischung aus Trauer und Kränkung, die mit dem gleich anfangs erzählten Tod der Mutter einhergeht, scheint aber immerhin Albys Bewusstsein dafür reifen zu lassen, dass nicht jede verspringende Kugel ein Angriff ist, gegen den man sich wehren muss, und man ohnehin gar nicht so viel verletzen kann, dass man die eigenen Verletzungen nicht mehr spürte.
Matt Sumell, der in Interviews und selbst in der Danksagung seines Romans wenig Zweifel daran lässt, dass eine gewisse Nähe zwischen Erzähler und Autor vorhanden ist, hat für sein Debüt einen Ton gefunden, der treffender kaum sein könnte. Hinter dem Gestus einer leicht süffisanten Coolness, unkorrektem bösen Witz und vermeintlich trocken vorgetragenem Slapstick vibriert eine laute Verzweiflung.
WIEBKE POROMBKA
Matt Sumell: "Wunde Punkte". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Britt Somann-Jung. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 288 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kippmomente: Matt Sumells Debütroman "Wunde Punkte"
In den unzähligen kleinen Situationen und größeren Ereignissen, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, ist es im Grunde auch nicht anders als in den einzelnen Runden beim Roulette: rot oder schwarz, gewonnen oder verloren, gut oder schlecht. Und immerzu kann im letzten Bruchteil einer Sekunde die Kugel, wenn sie schon im richtigen Fach zu liegen scheint, plötzlich doch noch über den Rand zur anderen Farbe hinüberklackern.
Im Leben von Alby, dem Ich-Erzähler aus Matt Sumells Romandebüt "Wunde Punkte", gibt es viele dieser Kippmomente, und immerzu springt die Kugel am Ende ins falsche Fach. Etwa wenn der dreißigjährige Amerikaner, der durch testosterongesättigtes Gehabe sein Selbstbewusstsein allenfalls notdürftig behaupten kann, an der Supermarkttheke für eine Frau gehalten wird. Richtigstellen kann er den Irrtum nicht, zu groß ist in diesem Moment die Scham. Aber im Gegenzug brodelt Albys Wut, die bald irgendwen ereilen wird, umso heißer.
Symptomatischer noch ist jene Szene, in der Alby seine Großmutter im Pflegeheim besucht und - obwohl er sich anfangs sträubt - die alte demente Frau auf Geheiß der Pflegerin zu füttern beginnt. "Nach etwa zwanzig Minuten hatte ich alles hineingelöffelt außer der Milch. Darauf war ich stolz. Ich freute mich darauf, es meiner Mutter zu erzählen. Siehst du, Ma? Ich bin ein guter Junge."
Es mag keine ganz neue Erkenntnis sein, dass Kinder zeitlebens immer wieder um die Anerkennung oder zumindest um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern und ihrer Mitmenschen buhlen. Das gilt umso mehr für jene, die in der Regel wie Alby vor allem durch die verbale und körperliche Gewalt auffallen, mit der sie ihre Umwelt traktieren. Die Tragik von Alby besteht darin, dass es eben auch in den Momenten, in denen er seine emphatische Seite zeigen will, kippt. Ausgerechnet in dem Augenblick, als seine Mutter den Speisesaal betritt, verschluckt sich die Großmutter nicht nur an der Milch und wird von einem Würgereiz geschüttelt, sondern sie spuckt im hohen Bogen das mühsam verabreichte Essen wieder aus. Mutter und herbeieilende Krankenschwester beseitigen hektisch das Malheur, und Alby, wieder ganz böser Junge, sitzt daneben und lacht. Er kann eben nur nett sein, wenn keiner es sieht.
Genau diese Crux macht den Reiz von Sumells Roman aus, der sich aus einer Reihe lose miteinander verbundener Episoden zusammensetzt. Das Bild, das der Ich-Erzähler von sich zeichnet, mag so gar nicht mit demjenigen übereinstimmen, das die anderen von ihm haben. Oder gehen wir hier einem jener berüchtigten unzuverlässigen Erzähler auf den Leim, der zumindest uns Leser von seiner Harmlosigkeit überzeugen will?
Womöglich wäre das der einzige Trost, der Alby bliebe. Denn wie schmerzhaft die Kluft zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung ist, zeigt sich ihm, als seine Mutter an Krebs erkrankt und auf dem Sterbebett noch einmal nacheinander ihre Kinder zu sich bittet. Schon dass der jüngere Bruder vor ihm ins Zimmer gerufen wird, versetzt Alby einen Stich. Schlimmer noch, dass der Bruder nur eine Nachricht für ihn mit hinausbringt: Die Mutter sei zu müde, um noch mit Alby zu sprechen. Als sie ihn Tage später doch noch hereinlässt, sind es keine mütterlichen Liebesbekundungen, die sie ihm mit auf den Weg gibt. Stattdessen erinnert sie ihn daran, wie er als Kind einmal wütend ein Buch nach ihr geschleudert habe. Er muss ihr das Versprechen geben, niemals wieder gewalttätig gegen eine Frau zu werden. Dann soll er gehen. Was bleibt, ist nichts Versöhnliches, sondern allein der Vorwurf.
Glücklicherweise ist Sumell weder so sentimental, eine Saulus-Paulus-Geschichte zu erzählen, noch die Gründe dafür ans Licht bringen zu wollen, warum Alby immer wieder ins Straucheln gerät. Die Mischung aus Trauer und Kränkung, die mit dem gleich anfangs erzählten Tod der Mutter einhergeht, scheint aber immerhin Albys Bewusstsein dafür reifen zu lassen, dass nicht jede verspringende Kugel ein Angriff ist, gegen den man sich wehren muss, und man ohnehin gar nicht so viel verletzen kann, dass man die eigenen Verletzungen nicht mehr spürte.
Matt Sumell, der in Interviews und selbst in der Danksagung seines Romans wenig Zweifel daran lässt, dass eine gewisse Nähe zwischen Erzähler und Autor vorhanden ist, hat für sein Debüt einen Ton gefunden, der treffender kaum sein könnte. Hinter dem Gestus einer leicht süffisanten Coolness, unkorrektem bösen Witz und vermeintlich trocken vorgetragenem Slapstick vibriert eine laute Verzweiflung.
WIEBKE POROMBKA
Matt Sumell: "Wunde Punkte". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Britt Somann-Jung. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 288 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wiebke Porombka mag den Ton von Matt Sumells Romandebüt. Zwischen Coolness, Slapstick und Witz vernimmt sie laute Verzweiflung. Aus den reichlich vorhandenen Kippmomenten in der Geschichte von Alby geht der Held stets als Verlierer hervor, konstatiert die Rezensentin, die vom Autor nicht unbedingt mit neuen Erkenntnissen das Zwischenmenschliche betreffend beschenkt wird, aber doch mit allerhand reizvollen Episoden aus einem unversöhnlichen Dasein, von dem der Autor, wie Porombka meint, zum Glück ganz ohne Sentimentalität berichtet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Sumell [...] hat für sein Debüt einen Ton gefunden, der treffender kaum sein könnte. Hinter dem Gestus einer leicht süffisanten Coolness [...] vibriert eine laute Verzweiflung. Wiebke Porombka Frankfurter Allgemeine Zeitung 20160807