Wsewolod Petrows literarisches Werk wurde erst fast 30 Jahre nach seinem Tod 1978 entdeckt. In der Sowjetunion konnte er nicht auf Veröffentlichung hoffen, er las nur in kleinem Kreis aus seinen Werken. In seinen Erzählungen spielt Petrow mit den philosophischen Fragen des Lebens, schüttelt sie auf zu frechen Bildern, schöpft aus den Mitteln der Avantgarden. Doch dabei lässt er immer wieder den Mann erkennen, der sich in der Sowjetunion der 1930er und 40er Jahre nach den Idealen des 18. Jahrhunderts sehnt. Die späte Entdeckung dieses russischen Schriftstellers ist ein literaturgeschichtliches Ereignis und ein reiches Lesevergnügen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2019Nichts Besseres als den Tod findest du überall
Absurde Literatur als Boykott sozialistischer Planerfüllung: Wsewolod Petrows Textsammlung "Wunder"
"Ich weiß, dass Vorsicht nicht vor dem Tod rettet." Zu dieser Einsicht gelangt der Ich-Erzähler in dem Text "Der Tod ist mir auf den Fersen", denn wenn "du vorsichtig bist, wirst du vor Vorsicht sterben". Das ist kein paranoider Wahn, sondern exakte Beschreibung der damaligen Verhältnisse, da - wie es an anderer Stelle heißt - die Zeit "recht flegelhaft" war. "Alle hatten damals Angst vor neuen Bekanntschaften und bemühten sich, die bestehenden loszuwerden, selbst die ältesten." In einem solchen Milieu muss jede individuelle Anamnese als soziologische Diagnose gelesen werden.
Das kann dergestalt explizit sein, aber auch nicht ganz so offenkundig. In "Die Schönheit" symbolisiert ein plötzlich verdoppelter Hut die Fragwürdigkeit jeder Wahrnehmung in einer Gesellschaft, für die gilt: Die Machtelite baut sich mit Zensur, Falschauskünften und standardisierten Sterbeurkunden eine Welt, wie sie ihr gefällt. In neunzehn sogenannten "Philosophischen Erzählungen", der Geschichte "Eine Winternacht" und den "Erinnerungen an Charms" stellt sich der Kunstwissenschaftler Wsewolod Petrow (1912 bis 1978) in die Tradition der Oberiuten. Dieser Zirkel von Schriftstellern hebelte bewusst jede Logik aus und verstand sich in seiner Gesamtheit als Provokation: Die Eigenbezeichnung karikierte die -ismen der Zeit, das persönliche Auftreten stellte eine weitere Herausforderung dar: Daniil Charms gab sich stets als Gentleman und trug gern Melone, um den "gleichmacherischen Stil der Zeit" zu unterwandern. Zu denken ist hier auch an das Monokel Michail Bulgakows, der allerdings nicht zu den Oberiuten zählt. Diese Vereinigung wurde 1930 verboten, die Texte erlangten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die einstige Szene hinaus Bekanntheit. Einigen Schriftstellern gelang es, sich mit Arbeiten für Kinderbuchverlage durchzuschlagen, die wenigsten entgingen jedoch Verbannung, Verhaftung oder - wie im Fall Charms? - der Psychiatrisierung. Die "Erinnerungen an Charms", vielleicht der schönste Text der Sammlung, setzen dem Schriftsteller und der damaligen Künstlerszene ein überzeugendes Denkmal.
Daniel Jurjew hat vor einigen Jahren bereits Petrows 1946 entstandene Erzählung "Die Manon Lescaut von Turdej" übersetzt, die sich im Vergleich zu den Kürzesttexten in der Sammlung unter dem Titel "Wunder" jedoch viel gebundener in der Form ausnimmt. Besonders erfreulich an der Übersetzung dieser Sammlung ist, dass sie zeigt, wie gut bestimmte Wortspiele in verschiedenen Sprachen gleichermaßen funktionieren: In "Das Nichts" verschwindet der Protagonist immer wieder; er wagt es daraufhin einen Monat lang nicht, "sich irgendwo zu zeigen, verschwand in dieser Zeit aber kein einziges Mal", danach aber sofort "von der Betriebsversammlung".
Ein wenig neigen die Texte zum Artistischen. Sie besingen eher den Tod als das Leben, geschweige denn die lichte Zukunft. Damit veranschaulichen sie das oberste Postulat der Oberiuten: die Eigenständigkeit der Kunst, die nicht als Zulieferbetrieb für die Macht herzuhalten hat.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Wsewolod Petrow:
"Wunder". Erzählungen.
Aus dem Russischen und hrsg. von Daniel Jurjew. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 140 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Absurde Literatur als Boykott sozialistischer Planerfüllung: Wsewolod Petrows Textsammlung "Wunder"
"Ich weiß, dass Vorsicht nicht vor dem Tod rettet." Zu dieser Einsicht gelangt der Ich-Erzähler in dem Text "Der Tod ist mir auf den Fersen", denn wenn "du vorsichtig bist, wirst du vor Vorsicht sterben". Das ist kein paranoider Wahn, sondern exakte Beschreibung der damaligen Verhältnisse, da - wie es an anderer Stelle heißt - die Zeit "recht flegelhaft" war. "Alle hatten damals Angst vor neuen Bekanntschaften und bemühten sich, die bestehenden loszuwerden, selbst die ältesten." In einem solchen Milieu muss jede individuelle Anamnese als soziologische Diagnose gelesen werden.
Das kann dergestalt explizit sein, aber auch nicht ganz so offenkundig. In "Die Schönheit" symbolisiert ein plötzlich verdoppelter Hut die Fragwürdigkeit jeder Wahrnehmung in einer Gesellschaft, für die gilt: Die Machtelite baut sich mit Zensur, Falschauskünften und standardisierten Sterbeurkunden eine Welt, wie sie ihr gefällt. In neunzehn sogenannten "Philosophischen Erzählungen", der Geschichte "Eine Winternacht" und den "Erinnerungen an Charms" stellt sich der Kunstwissenschaftler Wsewolod Petrow (1912 bis 1978) in die Tradition der Oberiuten. Dieser Zirkel von Schriftstellern hebelte bewusst jede Logik aus und verstand sich in seiner Gesamtheit als Provokation: Die Eigenbezeichnung karikierte die -ismen der Zeit, das persönliche Auftreten stellte eine weitere Herausforderung dar: Daniil Charms gab sich stets als Gentleman und trug gern Melone, um den "gleichmacherischen Stil der Zeit" zu unterwandern. Zu denken ist hier auch an das Monokel Michail Bulgakows, der allerdings nicht zu den Oberiuten zählt. Diese Vereinigung wurde 1930 verboten, die Texte erlangten erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die einstige Szene hinaus Bekanntheit. Einigen Schriftstellern gelang es, sich mit Arbeiten für Kinderbuchverlage durchzuschlagen, die wenigsten entgingen jedoch Verbannung, Verhaftung oder - wie im Fall Charms? - der Psychiatrisierung. Die "Erinnerungen an Charms", vielleicht der schönste Text der Sammlung, setzen dem Schriftsteller und der damaligen Künstlerszene ein überzeugendes Denkmal.
Daniel Jurjew hat vor einigen Jahren bereits Petrows 1946 entstandene Erzählung "Die Manon Lescaut von Turdej" übersetzt, die sich im Vergleich zu den Kürzesttexten in der Sammlung unter dem Titel "Wunder" jedoch viel gebundener in der Form ausnimmt. Besonders erfreulich an der Übersetzung dieser Sammlung ist, dass sie zeigt, wie gut bestimmte Wortspiele in verschiedenen Sprachen gleichermaßen funktionieren: In "Das Nichts" verschwindet der Protagonist immer wieder; er wagt es daraufhin einen Monat lang nicht, "sich irgendwo zu zeigen, verschwand in dieser Zeit aber kein einziges Mal", danach aber sofort "von der Betriebsversammlung".
Ein wenig neigen die Texte zum Artistischen. Sie besingen eher den Tod als das Leben, geschweige denn die lichte Zukunft. Damit veranschaulichen sie das oberste Postulat der Oberiuten: die Eigenständigkeit der Kunst, die nicht als Zulieferbetrieb für die Macht herzuhalten hat.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Wsewolod Petrow:
"Wunder". Erzählungen.
Aus dem Russischen und hrsg. von Daniel Jurjew. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 140 S., br., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christiane Pöhlmann freut sich, mit dieser von Daniel Jurjew übersetzten und herausgegebenen Sammlung mit Texten von Wsewolod Petrow an die avantgardistische Künstlervereinigung Oberiu um Daniil Charms und ihre wunderbar subversive Poetik erinnert zu werden. Dass Petrow mit seinen in der Tradition der Oberiuten stehenden Texten eher dem Tod als dem Leben, der Zukunft oder auch nur der Logik zugeneigt ist, verbucht sie unter das Postulat des Künstlerzirkels, nur ja nicht die Eigenständigkeit der Kunst der Macht zu verkaufen. So gehört denn auch für Pöhlmann "Erinnerung an Charms" zu den schönsten Stücken im Band. Zu sehen, wie gut Petrows Wortspiele auch in der Übersetzung funktionieren, macht Pöhlmann froh.
© Perlentaucher Medien GmbH
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