Durch die Weite der Steppe Kasachstans fährt ratternd ein Zug. In ihm begegnen sich ein Reisender und Erjan, das Wunderkind. Der Knabe spielt mitten in dieser vom Zug durchquerten Einöde so virtuos auf seiner Violine, dass nicht nur dem Erzähler Hören und Sagen vergeht. Doch die Musik bleibt nicht das einzige Wunder. Denn der Junge, der aussieht wie zehn oder zwölf, ist in Wahrheit bereits ein Mann von 27 Jahren; als Kind tauchte er allen Warnungen zum Trotz in einen nuklear verseuchten See. Hamid Ismailov versetzt damit das Blechtrommel-Motiv des Immer-Kind-Bleibenden in die Einöde des von 486 Atombombentests verseuchten Kasachstan und gibt ihm eine herbe Intensität von tiefer Schönheit. Zwei Welten prallen darin aufeinander: die Weite und Einsamkeit der Steppe Kasachstans und die moderne Welt außerhalb davon - der Zug, der diese wie stehen gebliebene Welt täglich durchfährt, die Atomtests, die wie eine unsichtbare Macht die Natur und die Menschen verändern, die Musik, die einen anderen Rhythmus in Yerzhans Leben bringt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2022Von der Fülle des Lebens mitgerissen
Ein schmales und doch großes Buch: Hamid Ismailov erzählt in "Wunderkind Erjan" über eine Kindheit im Atomtestgebiet.
Von Jan Brachmann
Die Magie der Steppe hat immer wieder dichte, intensive Literatur inspiriert: "Über lasurene Wüsten schwebt Mond wie ein Spiegel, /Abendlich feucht schon das Gras der Steppe sich neigt", begann der russische Lyriker Afanassi Fet 1863 eines seiner kühnsten Gedichte (1990 übertragen von Uwe Grüning). Auch Hamid Ismailov, der auf Russisch schreibt, obwohl er seit dreißig Jahren in Großbritannien lebt, weil er aus seiner Heimat Usbekistan wegen politischer Verfolgung hatte fliehen müssen, ist von einer Landschaft hingerissen, die ihm von Kindheit an vertraut sein muss: "Der Zug fuhr durch die endlosen Weiten der kasachischen Steppe, und die Drähte - auf ihnen Lerchen und Häher, Blauracken, Rötelfalken und wer weiß was für fliegendes Getier - schwangen von Mast zu Mast, wie die Noten einer geheimnisvollen Melodie von Taktstrich zu Taktstrich, Takt um Takt."
Dieser lange Satz, mit Gedankenstrichen und Kommata rhythmisiert wie die Drähte zwischen den Masten, also mit einem empfindsamen Ohr übersetzt von Andreas Tretner, markiert einen wichtigen Unterschied im Landschaftserleben zwischen 1863 und etwa 1997, als die Reise, die das Buch "Wunderkind Erjan" beschreibt, sich zugetragen haben muss: Die Musikalität, mit der die Landschaft zum Betrachter spricht, besser: ihn ansingt, ist eine technisch vermittelte - durch Masten und Drähte wie durch die Bewegung der Eisenbahn, die der Landschaft eine Zeitgestalt des Erscheinens gibt, welche der Musik ähnlich ist.
Zur Ekstase gesteigert wird dieses Landschaftserleben in der Binnenerzählung, die von der Reisebeschreibung gerahmt wird. Der zehnjährige Schuljunge Erjan (sprich: "Jerschán" mit weichem sch wie in "Jean") sieht bei einem Klassenausflug zum sowjetischen Atomtestgelände bei Semipalatinsk einen Kratersee in der Steppe, der bei der Zündung einer Kernwaffe entstanden war: "Der Anblick märchenhaft schön: inmitten der flachen Steppe ein türkisblauer See, in dem sich jedes Wölkchen, so selten eines daherkam, spiegelte, denn das Wasser war tatsächlich spiegelglatt, keine Bewegung darin, nicht der geringste Kräusel oder Wellenschlag - wie Glas, darin der sanfte Widerschein der Kindergesichter, die ihm auf den Grund zu spähen suchten." Und da geschah es, "dass Erjan von der Fülle des Lebens mitgerissen wurde: die endlos weite Steppe, der grenzenlose Himmel, das bodenlose Wasser". Er sprang in den See, der "schweres Wasser" enthielt. Und dieser Sprung ließ ihn wohl für immer Kind bleiben: Er wuchs nicht mehr, er alterte äußerlich nicht.
Der Ich-Erzähler trifft Erjan etwa fünfzehn oder siebzehn Jahre später bei seiner Bahnreise durch Kasachstan. Er verkauft den Passagieren im Zug Ayran und macht auf sich aufmerksam, indem er meisterhaft Geige spielt. Der Erzähler hält Erjan für ein Kind, bis der ihm ruppig seinen Ausweis zeigt, der bestätigt, dass er ein Mann von 27 Jahren ist. Er bleibt im Zug und erzählt dem Autor die erstaunliche Geschichte seines Lebens.
"Wunderkind Erjan" ist ein schlankes und doch großes Buch. Auf gerade 141 Druckseiten wird ein Idyll entworfen, das mit der Vorbemerkung über Zahl und Wirkung der sowjetischen Atombombentests bei Semipalatinsk zwischen 1949 und 1991 eine tragische Rahmung erhält. Die Kindheit Erjans ist so malerisch und fast märchenhaft, wie wir sie aus Steppenfilmen wie "Die Geschichte vom weinenden Kamel", "Die Höhle des gelben Hundes" oder "Mongolian Pingpong" kennen. Die beiden Familien, um die es geht, leben zwar nicht in Jurten, sondern in alten Streckenwärterhäusern an der Eisenbahnlinie, aber sie leben mit und von der Steppe, mit zahlreichen Tieren, mit Radio und Fernseher.
Es ist eine Welt voller Kinderstreiche, eine Welt körpernahen Humors, wenn die Großmutter ihren Enkel laust und entwurmt, eine Welt, in der Geschlechtsteile mit kindlicher Neugier betrachtet werden, eine Welt, in der man behaglich rülpst und lachend pupst. Zugleich ist es eine Welt, in der die musikalische Begabung von Erjan wie ein Wunder bestaunt und nach Kräften gefördert wird: Schon als Dreijähriger kann er auf der Dombira, einem traditionellen Instrument des Großvaters, ein kleines Konzert geben. Bald darauf lernt er das Geigenspiel von einem schwulen Bulgaren, der als Bauarbeiter in der Steppe schuftet, obwohl er einst bei David Oistrach studiert haben soll.
Wie die Estin Viivi Luik 1985 in ihrem Roman "Der siebte Friedensfrühling" bedient sich auch Ismailov in dieser 2014 entstandenen Erzählung des Kunstgriffs, die menschliche Grausamkeit des Sowjetsystems - bei Luik die Stalinisierung des besetzten Estlands, bei Ismailov die Atombombentests ohne hinreichenden Schutz der Bevölkerung in Kasachstan - aus der Perspektive eines unbefangen spielenden Kindes zu schildern. Die literarisch erfassten Schrecken führen keine politischen Gebrauchsanweisungen mit sich. Erlebt werden sie wie eine mythische Gewalt.
Ismailovs Sprache ist dabei so klar und einfach wie die eines erfahrenen Journalisten, als der er viele Jahre für den World Service der BBC gearbeitet hat. Und doch ist dieses Buch unerhört kunstvoll. Es verwebt den Duktus klassischer Reisebeschreibungen mit dem des mündlichen Erzählens, dem man nur glauben, das man aber nicht überprüfen kann. Hinzu kommen Märchen der Großmutter, nach denen Erjan, dessen Vater unbekannt ist, seine eigene Existenz zu begreifen versucht, und viele Originalworte der kasachischen Sprache, die auch einen Widerstand in der restlosen kulturellen Aneignung dieser Welt markieren.
Als Skizze enthält die Erzählung einen Bildungsroman Erjans, dessen Vermögen zur ästhetischen Differenzierung langsam wächst, wie er Landschaft und Familie aufmerksamer wahrzunehmen lernt - bis hin zum Trauma seiner ewig schweigenden Mutter. In einigen Kapiteln denkt sich der Ich-Erzähler einen möglichen Fortgang der Lebensgeschichte dieses Wunderkindes aus. Es ist meisterhaft, wie leichthändig Ismailov diese bedrückende Phantasie durch den lakonischen Einbruch der Wirklichkeit am Ende auffängt.
Hamid Ismailov: "Wunderkind Erjan". Roman.
Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Friedenauer Presse, Berlin 2022. 152 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein schmales und doch großes Buch: Hamid Ismailov erzählt in "Wunderkind Erjan" über eine Kindheit im Atomtestgebiet.
Von Jan Brachmann
Die Magie der Steppe hat immer wieder dichte, intensive Literatur inspiriert: "Über lasurene Wüsten schwebt Mond wie ein Spiegel, /Abendlich feucht schon das Gras der Steppe sich neigt", begann der russische Lyriker Afanassi Fet 1863 eines seiner kühnsten Gedichte (1990 übertragen von Uwe Grüning). Auch Hamid Ismailov, der auf Russisch schreibt, obwohl er seit dreißig Jahren in Großbritannien lebt, weil er aus seiner Heimat Usbekistan wegen politischer Verfolgung hatte fliehen müssen, ist von einer Landschaft hingerissen, die ihm von Kindheit an vertraut sein muss: "Der Zug fuhr durch die endlosen Weiten der kasachischen Steppe, und die Drähte - auf ihnen Lerchen und Häher, Blauracken, Rötelfalken und wer weiß was für fliegendes Getier - schwangen von Mast zu Mast, wie die Noten einer geheimnisvollen Melodie von Taktstrich zu Taktstrich, Takt um Takt."
Dieser lange Satz, mit Gedankenstrichen und Kommata rhythmisiert wie die Drähte zwischen den Masten, also mit einem empfindsamen Ohr übersetzt von Andreas Tretner, markiert einen wichtigen Unterschied im Landschaftserleben zwischen 1863 und etwa 1997, als die Reise, die das Buch "Wunderkind Erjan" beschreibt, sich zugetragen haben muss: Die Musikalität, mit der die Landschaft zum Betrachter spricht, besser: ihn ansingt, ist eine technisch vermittelte - durch Masten und Drähte wie durch die Bewegung der Eisenbahn, die der Landschaft eine Zeitgestalt des Erscheinens gibt, welche der Musik ähnlich ist.
Zur Ekstase gesteigert wird dieses Landschaftserleben in der Binnenerzählung, die von der Reisebeschreibung gerahmt wird. Der zehnjährige Schuljunge Erjan (sprich: "Jerschán" mit weichem sch wie in "Jean") sieht bei einem Klassenausflug zum sowjetischen Atomtestgelände bei Semipalatinsk einen Kratersee in der Steppe, der bei der Zündung einer Kernwaffe entstanden war: "Der Anblick märchenhaft schön: inmitten der flachen Steppe ein türkisblauer See, in dem sich jedes Wölkchen, so selten eines daherkam, spiegelte, denn das Wasser war tatsächlich spiegelglatt, keine Bewegung darin, nicht der geringste Kräusel oder Wellenschlag - wie Glas, darin der sanfte Widerschein der Kindergesichter, die ihm auf den Grund zu spähen suchten." Und da geschah es, "dass Erjan von der Fülle des Lebens mitgerissen wurde: die endlos weite Steppe, der grenzenlose Himmel, das bodenlose Wasser". Er sprang in den See, der "schweres Wasser" enthielt. Und dieser Sprung ließ ihn wohl für immer Kind bleiben: Er wuchs nicht mehr, er alterte äußerlich nicht.
Der Ich-Erzähler trifft Erjan etwa fünfzehn oder siebzehn Jahre später bei seiner Bahnreise durch Kasachstan. Er verkauft den Passagieren im Zug Ayran und macht auf sich aufmerksam, indem er meisterhaft Geige spielt. Der Erzähler hält Erjan für ein Kind, bis der ihm ruppig seinen Ausweis zeigt, der bestätigt, dass er ein Mann von 27 Jahren ist. Er bleibt im Zug und erzählt dem Autor die erstaunliche Geschichte seines Lebens.
"Wunderkind Erjan" ist ein schlankes und doch großes Buch. Auf gerade 141 Druckseiten wird ein Idyll entworfen, das mit der Vorbemerkung über Zahl und Wirkung der sowjetischen Atombombentests bei Semipalatinsk zwischen 1949 und 1991 eine tragische Rahmung erhält. Die Kindheit Erjans ist so malerisch und fast märchenhaft, wie wir sie aus Steppenfilmen wie "Die Geschichte vom weinenden Kamel", "Die Höhle des gelben Hundes" oder "Mongolian Pingpong" kennen. Die beiden Familien, um die es geht, leben zwar nicht in Jurten, sondern in alten Streckenwärterhäusern an der Eisenbahnlinie, aber sie leben mit und von der Steppe, mit zahlreichen Tieren, mit Radio und Fernseher.
Es ist eine Welt voller Kinderstreiche, eine Welt körpernahen Humors, wenn die Großmutter ihren Enkel laust und entwurmt, eine Welt, in der Geschlechtsteile mit kindlicher Neugier betrachtet werden, eine Welt, in der man behaglich rülpst und lachend pupst. Zugleich ist es eine Welt, in der die musikalische Begabung von Erjan wie ein Wunder bestaunt und nach Kräften gefördert wird: Schon als Dreijähriger kann er auf der Dombira, einem traditionellen Instrument des Großvaters, ein kleines Konzert geben. Bald darauf lernt er das Geigenspiel von einem schwulen Bulgaren, der als Bauarbeiter in der Steppe schuftet, obwohl er einst bei David Oistrach studiert haben soll.
Wie die Estin Viivi Luik 1985 in ihrem Roman "Der siebte Friedensfrühling" bedient sich auch Ismailov in dieser 2014 entstandenen Erzählung des Kunstgriffs, die menschliche Grausamkeit des Sowjetsystems - bei Luik die Stalinisierung des besetzten Estlands, bei Ismailov die Atombombentests ohne hinreichenden Schutz der Bevölkerung in Kasachstan - aus der Perspektive eines unbefangen spielenden Kindes zu schildern. Die literarisch erfassten Schrecken führen keine politischen Gebrauchsanweisungen mit sich. Erlebt werden sie wie eine mythische Gewalt.
Ismailovs Sprache ist dabei so klar und einfach wie die eines erfahrenen Journalisten, als der er viele Jahre für den World Service der BBC gearbeitet hat. Und doch ist dieses Buch unerhört kunstvoll. Es verwebt den Duktus klassischer Reisebeschreibungen mit dem des mündlichen Erzählens, dem man nur glauben, das man aber nicht überprüfen kann. Hinzu kommen Märchen der Großmutter, nach denen Erjan, dessen Vater unbekannt ist, seine eigene Existenz zu begreifen versucht, und viele Originalworte der kasachischen Sprache, die auch einen Widerstand in der restlosen kulturellen Aneignung dieser Welt markieren.
Als Skizze enthält die Erzählung einen Bildungsroman Erjans, dessen Vermögen zur ästhetischen Differenzierung langsam wächst, wie er Landschaft und Familie aufmerksamer wahrzunehmen lernt - bis hin zum Trauma seiner ewig schweigenden Mutter. In einigen Kapiteln denkt sich der Ich-Erzähler einen möglichen Fortgang der Lebensgeschichte dieses Wunderkindes aus. Es ist meisterhaft, wie leichthändig Ismailov diese bedrückende Phantasie durch den lakonischen Einbruch der Wirklichkeit am Ende auffängt.
Hamid Ismailov: "Wunderkind Erjan". Roman.
Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Friedenauer Presse, Berlin 2022. 152 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Jörg Plath freut sich über die erste deutsche Übersetzung Andreas Tretners von Hamid Ismailovs, wie er findet, grandioser Erzählung "Wunderkind Erjan". Der 1954 in Kirgistan geborene, ehemalige BBC-Journalist beschreibt darin das Aufeinandertreffen des Erzählers mit dem zwölf Jahre alt aussehenden, aber eigentlich 27 Jahre alten Geigenspieler Erjan, der ihm von seiner von Atombombentests und deren Folgen geprägten Kindheit in der kasachischen Landschaft berichtet. Dabei verklärt Ismailov allerdings keinesfalls das Steppenleben im Kontrast zur Moderne - stattdessen lässt er Erjans individuelle Erzählung zur Fiktion werden, indem der Protagonist einschläft und sein Zuhörer somit beginnt, sich die Geschichte weiterzuspinnen, erklärt Plath. Das ist dem Rezensenten zufolge alles leicht, beschwingt, knapp, immer mal wieder aus kindlicher Perspektive und stellenweise sogar komisch erzählt. Am Ende der Lektüre fragt man sich staunend, was Ismailov eigentlich nicht kann, schließt Plath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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