Karin Smirnoff erzählt die Geschichte eines Wunderkinds, dem es gelingt sich mit fantastischer Stärke und Galgenhumor aus einer Welt ohne Liebe zu befreien.
Dass sie auf ihre Mutter nicht zählen kann, kapiert Agnes sofort. Milch kriegt sie nur, wenn sie schreit, bis die Nachbarn klopfen. Wenn sie überleben will, muss sie der Bosheit ihrer Mutter immer einen Schritt voraus sein, die sich dafür rächt, dass Agnes ihre Karriere als Pianistin zerstört hat und die Frechheit besitzt, selbst ein Wunderkind zu sein. Als Agnes den Talentförderer Frank kennenlernt und mit seiner Gruppe auf Tournee geht, wendet sich nur scheinbar alles zum Besseren ... Mit unverwechselbarer Lakonie erzählt Karin Smirnoff von Gewalt und Machtmissbrauch, doch sie überlässt diese Welt der Willkür nicht den Tätern. Die Kinder dieses Romans sind mit so viel fantastischer Stärke und Galgenhumor ausgestattet, dass es ihnen gelingt, sich zu befreien.
Dass sie auf ihre Mutter nicht zählen kann, kapiert Agnes sofort. Milch kriegt sie nur, wenn sie schreit, bis die Nachbarn klopfen. Wenn sie überleben will, muss sie der Bosheit ihrer Mutter immer einen Schritt voraus sein, die sich dafür rächt, dass Agnes ihre Karriere als Pianistin zerstört hat und die Frechheit besitzt, selbst ein Wunderkind zu sein. Als Agnes den Talentförderer Frank kennenlernt und mit seiner Gruppe auf Tournee geht, wendet sich nur scheinbar alles zum Besseren ... Mit unverwechselbarer Lakonie erzählt Karin Smirnoff von Gewalt und Machtmissbrauch, doch sie überlässt diese Welt der Willkür nicht den Tätern. Die Kinder dieses Romans sind mit so viel fantastischer Stärke und Galgenhumor ausgestattet, dass es ihnen gelingt, sich zu befreien.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2023Kommen wir da raus?
Karin Smirnoffs Roman "Wunderkind"
In diesem Buch wird erzählt, was das Zeug hält. Über 86 kleine Kapitel hinweg. Und zwar aus Kinderperspektive und im Versuch, eine Sprache für diese Perspektive zu entwickeln. Ob das überhaupt möglich ist und über einen Entwicklungszeitraum vom Kleinkind bis zum Fastschon-Teenager durchgehalten werden kann, bleibt mit der Lektüre fraglich.
Agnes kommt ungeliebt auf die Welt, denn die Musikerkarriere ihrer Mutter endet mit Agnes' Geburt; der damit verbundene Frust der Mama ist konstitutiv für den Roman. Agnes hat zwei Freunde, Kristian und Miika. Sie wachsen im schwedischen Södertälje in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auf. Södertälje entwickelte sich schon damals zu einem sozial problematischen Ort. Die musikalische Begabung der drei wird offensichtlich; ein inzwischen abgehalfterter, vormals sehr berühmter Musiker, Frank Leide, wird Coach der Heranwachsenden. Entsetzlicherweise auch in dem Maße, dass Leide sich an den kleinen Jungen vergreift; massiver Missbrauch ist Teil der Geschichte. Narrativ wenig gut hergeleitet ist die Tatsache, dass die Figuren auf Tournee geschickt werden - weg von der mehr und mehr verkommenden Mutter und von den Angehörigen der beiden Jungen, weg von der verdorbenen Umgebung aber dennoch unter der Führung des grapschend-grabbelnden Frank Leide. Man bekommt den Eindruck, diese Figur ist nur eingeführt, um die dunklen, schmutzigen, widerwärtigen sozialen Bedingungen der Ausgangsgegend weiter durchs Buch tragen zu können. Die Tournee führt bis nach Paris.
Alles in allem also eine im Grunde reichlich widerwärtige Geschichte; schwedische Rezensionen qualifizierten das Buch auch als "socialporr", als Sozialpornographie.
Was einen bei der Lektüre halten kann, sind zwei Regel- und hier auch Themenkreise: Freundschaft und Verlässlichkeit auf der einen, Musik auf der anderen Seite. Die Kinder entwickeln sich zu Heranwachsenden, die lernen, dass einander freundschaftlich zu lieben unabdingbar ist, um durch die Welt zu kommen und sich dieser, aus ihrer Perspektive überhaupt nicht angenehmen Welt anzuvertrauen, mit und in ihr umzugehen. Und dass man nur so lernen kann, sich solcher Erwachsenen wie ihrem Mentor und Lehrer Leide zu erwehren und gleichzeitig mit ihm zu leben.
Über die Musik befindet das letzte Kapitel: Steine haben einen Puls. Das Schilf einen Klang. Der Sand einen Rhythmus und die Erinnerung ein Lied. Der Roman ist auch ein Buch darüber, was man alles hören kann.
Die Autorin Karin Smirnoff hat darüber gesprochen, dass sie für dieses Buch eine neue Sprache habe lernen müssen, eben jene Kindersprache, in welcher der Roman erzählt. Eine Sprache, deren Versuch, die Dinge vollkommen unverstellt in den Blick zu nehmen, man feststellen kann. Eine Sprache, die auch klitzekleine morphologische und grammatische Verschiebungen akzeptiert. Was sehr schwer in einigen Fällen zu übersetzen wäre. Ursel Allenstein macht klugerweise gar nicht den Versuch, etwa die Tatsache, dass sich im Schwedischen die Worte für Geburt, "födsel", und Sterben, "dödsel", reimen, mit irgendeiner misslingenden Konstruktion ins Deutsche zu übertragen.
Der gesamte Atem dieses Versuchs einer Sprache aus Kinderperspektive wird jedoch mit der Übersetzung transportiert. Was keine kleine Leistung ist. Bleibt, wie so häufig bei aus anderen Sprachen übersetzten Romanen, die Titelfrage - "sockerormen", also die Zuckerschlange, lautet er im Original. Was natürlich zur Frage führt, warum es nicht dabei hätte bleiben können; "Wunderkind" führt ein bisschen auf eine falsche Fährte, denn Wunderkinder mit schicker Fliege oder schulterfreiem Abendkleid auf einem eigens erhöhten Klavierhocker kommen im Buch nicht vor, die musikalische Hochbegabung der drei Kinder bricht sich außerhalb solcher gesellschaftlichen Versatzstücke Bahn. Zumal die Zuckerschlange ein Phantasiegeschöpf der kleinen Agnes ist und für Unterstützung sorgt, wenn sonst niemand zur Stelle ist.
Überzeugend sind die Neugier, der Erfindungsgeist und die Phantasie der Kinder in diesem Roman. Sie verbinden sich zu einem fast magischen Realismus - der allerdings nie zu irgendeinem Märchenhauch führt oder in einer romantischen Phantasie enden würde. Allenfalls gibt es die Phantasie in den Köpfen der Kinder, wie man dieses Leben überstehen und leben kann. STEPHAN OPITZ
Karin Smirnoff: "Wunderkind". Roman.
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 320 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karin Smirnoffs Roman "Wunderkind"
In diesem Buch wird erzählt, was das Zeug hält. Über 86 kleine Kapitel hinweg. Und zwar aus Kinderperspektive und im Versuch, eine Sprache für diese Perspektive zu entwickeln. Ob das überhaupt möglich ist und über einen Entwicklungszeitraum vom Kleinkind bis zum Fastschon-Teenager durchgehalten werden kann, bleibt mit der Lektüre fraglich.
Agnes kommt ungeliebt auf die Welt, denn die Musikerkarriere ihrer Mutter endet mit Agnes' Geburt; der damit verbundene Frust der Mama ist konstitutiv für den Roman. Agnes hat zwei Freunde, Kristian und Miika. Sie wachsen im schwedischen Södertälje in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts auf. Södertälje entwickelte sich schon damals zu einem sozial problematischen Ort. Die musikalische Begabung der drei wird offensichtlich; ein inzwischen abgehalfterter, vormals sehr berühmter Musiker, Frank Leide, wird Coach der Heranwachsenden. Entsetzlicherweise auch in dem Maße, dass Leide sich an den kleinen Jungen vergreift; massiver Missbrauch ist Teil der Geschichte. Narrativ wenig gut hergeleitet ist die Tatsache, dass die Figuren auf Tournee geschickt werden - weg von der mehr und mehr verkommenden Mutter und von den Angehörigen der beiden Jungen, weg von der verdorbenen Umgebung aber dennoch unter der Führung des grapschend-grabbelnden Frank Leide. Man bekommt den Eindruck, diese Figur ist nur eingeführt, um die dunklen, schmutzigen, widerwärtigen sozialen Bedingungen der Ausgangsgegend weiter durchs Buch tragen zu können. Die Tournee führt bis nach Paris.
Alles in allem also eine im Grunde reichlich widerwärtige Geschichte; schwedische Rezensionen qualifizierten das Buch auch als "socialporr", als Sozialpornographie.
Was einen bei der Lektüre halten kann, sind zwei Regel- und hier auch Themenkreise: Freundschaft und Verlässlichkeit auf der einen, Musik auf der anderen Seite. Die Kinder entwickeln sich zu Heranwachsenden, die lernen, dass einander freundschaftlich zu lieben unabdingbar ist, um durch die Welt zu kommen und sich dieser, aus ihrer Perspektive überhaupt nicht angenehmen Welt anzuvertrauen, mit und in ihr umzugehen. Und dass man nur so lernen kann, sich solcher Erwachsenen wie ihrem Mentor und Lehrer Leide zu erwehren und gleichzeitig mit ihm zu leben.
Über die Musik befindet das letzte Kapitel: Steine haben einen Puls. Das Schilf einen Klang. Der Sand einen Rhythmus und die Erinnerung ein Lied. Der Roman ist auch ein Buch darüber, was man alles hören kann.
Die Autorin Karin Smirnoff hat darüber gesprochen, dass sie für dieses Buch eine neue Sprache habe lernen müssen, eben jene Kindersprache, in welcher der Roman erzählt. Eine Sprache, deren Versuch, die Dinge vollkommen unverstellt in den Blick zu nehmen, man feststellen kann. Eine Sprache, die auch klitzekleine morphologische und grammatische Verschiebungen akzeptiert. Was sehr schwer in einigen Fällen zu übersetzen wäre. Ursel Allenstein macht klugerweise gar nicht den Versuch, etwa die Tatsache, dass sich im Schwedischen die Worte für Geburt, "födsel", und Sterben, "dödsel", reimen, mit irgendeiner misslingenden Konstruktion ins Deutsche zu übertragen.
Der gesamte Atem dieses Versuchs einer Sprache aus Kinderperspektive wird jedoch mit der Übersetzung transportiert. Was keine kleine Leistung ist. Bleibt, wie so häufig bei aus anderen Sprachen übersetzten Romanen, die Titelfrage - "sockerormen", also die Zuckerschlange, lautet er im Original. Was natürlich zur Frage führt, warum es nicht dabei hätte bleiben können; "Wunderkind" führt ein bisschen auf eine falsche Fährte, denn Wunderkinder mit schicker Fliege oder schulterfreiem Abendkleid auf einem eigens erhöhten Klavierhocker kommen im Buch nicht vor, die musikalische Hochbegabung der drei Kinder bricht sich außerhalb solcher gesellschaftlichen Versatzstücke Bahn. Zumal die Zuckerschlange ein Phantasiegeschöpf der kleinen Agnes ist und für Unterstützung sorgt, wenn sonst niemand zur Stelle ist.
Überzeugend sind die Neugier, der Erfindungsgeist und die Phantasie der Kinder in diesem Roman. Sie verbinden sich zu einem fast magischen Realismus - der allerdings nie zu irgendeinem Märchenhauch führt oder in einer romantischen Phantasie enden würde. Allenfalls gibt es die Phantasie in den Köpfen der Kinder, wie man dieses Leben überstehen und leben kann. STEPHAN OPITZ
Karin Smirnoff: "Wunderkind". Roman.
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2023. 320 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Agnes ist ein musikalisches Wunderkind, merkt Rezensentin Katharina Granzin bei der Lektüre schnell, aber eines, dem sich das Böse in den Weg stellt. Die fast grausam auf das Talent ihrer Tochter neidische Mutter verbietet ihr das Klavierspielen, setzt sie der Vernachlässigung aus - dass Karin Smirnoff dies beschreiben kann, ohne auf den reißerischen Schockeffekt aus zu sein, gefällt Granzin gut. Trotzdem kann Agnes eine Art optimistische Resilienz aufbauen, die die Autorin mit klarer Präzision schildert, wie die Kritikerin lobt. Darauf, dass Smirnoff als Nachfolgerin Stieg Larssons an dessen Thriller-Reihe "Millenium" weiterschreibt, ist sie spätestens nach dieser auch psychologisch komplexen Lektüre gespannt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Karin Smirnoff lässt nichts aus an harten Themen ... Aber sie schafft es, das auszubalancieren. Und das ist ganz bemerkenswert, das ist fast das größte Wunder an dem Buch: Man muss lachen. ... Wie kann man solche Themen literarisch verarbeiten? Dafür muss man sehr mutig sein. ... Ein magischer Roman über das Böse der Welt." Tim Felchlin, SRF 1 Buchzeichen, 24.01.23
"Karin Smirnoff sieht das Böse im Menschen sehr deutlich. Aber sie lässt es nicht gewinnen." Katharina Granzin, taz, 01.03.23
"In diesem Buch wird erzählt, was das Zeug hält. ... Ein fast magischer Realismus - der allerdings nie zu irgendeinem Märchenhauch führt oder in einer romantischen Phantasie enden würde." Stephan Opitz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.23
"Smirnoff erzählt auf herzzerreißende Weise von den Grausamkeiten, die Erwachsene Kindern antun können ... in einer fast lakonischen Sprache, was die Geschehnisse umso plastischer macht. Erstaunlich ist, dass sie dennoch Raum für berührend-witzige Schilderungen lässt, für die Sicht aus einer kindlichen Welt ... beeindruckend." Doris Kraus, Presse am Sonntag, 12.02.23
"Karin Smirnoff legt ihren Figuren einfache Sätze in den Mund, die lakonisch die Grausamkeiten des Lebens beschreiben. ... Smirnoff zeigt Machtgefüge, Gewalt und Machtmissbrauch, dennoch werden Agnes und ihre Freund_innen nicht als Opfer dargestellt. ... Schwere Kost, leicht zu lesen!" Michaela Drenovakovic, Missy Magazine, 16.01.23
"Wie schon bei ihrem Debüt 'Mein Bruder' schlägt Karin Smirnoff, außer einem Punkt am Satzende, jedes Zeichen aus. Das gibt ihrem Stil Zug und Entschlossenheit. Als würde jemand mit Nagelschuhen hart auftreten. Nicht auf Straßenpflaster, sondern auf jene Stellen, unter denen das Herz schlägt." Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 11.02.23
"Karin Smirnoff sieht das Böse im Menschen sehr deutlich. Aber sie lässt es nicht gewinnen." Katharina Granzin, taz, 01.03.23
"In diesem Buch wird erzählt, was das Zeug hält. ... Ein fast magischer Realismus - der allerdings nie zu irgendeinem Märchenhauch führt oder in einer romantischen Phantasie enden würde." Stephan Opitz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.23
"Smirnoff erzählt auf herzzerreißende Weise von den Grausamkeiten, die Erwachsene Kindern antun können ... in einer fast lakonischen Sprache, was die Geschehnisse umso plastischer macht. Erstaunlich ist, dass sie dennoch Raum für berührend-witzige Schilderungen lässt, für die Sicht aus einer kindlichen Welt ... beeindruckend." Doris Kraus, Presse am Sonntag, 12.02.23
"Karin Smirnoff legt ihren Figuren einfache Sätze in den Mund, die lakonisch die Grausamkeiten des Lebens beschreiben. ... Smirnoff zeigt Machtgefüge, Gewalt und Machtmissbrauch, dennoch werden Agnes und ihre Freund_innen nicht als Opfer dargestellt. ... Schwere Kost, leicht zu lesen!" Michaela Drenovakovic, Missy Magazine, 16.01.23
"Wie schon bei ihrem Debüt 'Mein Bruder' schlägt Karin Smirnoff, außer einem Punkt am Satzende, jedes Zeichen aus. Das gibt ihrem Stil Zug und Entschlossenheit. Als würde jemand mit Nagelschuhen hart auftreten. Nicht auf Straßenpflaster, sondern auf jene Stellen, unter denen das Herz schlägt." Ingrid Mylo, Badische Zeitung, 11.02.23