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Andre Glucksmann fordert seit Jahrzehnten wie kaum ein anderer das Gewissen der westlichen Welt heraus. 2007 wird er 70 Jahre alt. Nun erzählt er anekdotenreich und lebendig von seiner Kindheit im besetzten Frankreich, von seiner bewegten Jugend und von der Begegnung mit den großen Philosophen Raymond Aron und Jean-Paul Sartre. Es ist der Bericht eines turbulenten Lebens und ein ungewöhnliches Dokument europäischer Geistesgeschichte.

Produktbeschreibung
Andre Glucksmann fordert seit Jahrzehnten wie kaum ein anderer das Gewissen der westlichen Welt heraus. 2007 wird er 70 Jahre alt. Nun erzählt er anekdotenreich und lebendig von seiner Kindheit im besetzten Frankreich, von seiner bewegten Jugend und von der Begegnung mit den großen Philosophen Raymond Aron und Jean-Paul Sartre. Es ist der Bericht eines turbulenten Lebens und ein ungewöhnliches Dokument europäischer Geistesgeschichte.
Autorenporträt
André Glucksmann, geboren 1937 in Boulogne-Billancourt, war Philosoph und Essayist im Kontext der französischen Gruppe der "Nouveaux Philosophes" und zählte mit seinen ideologiekritischen Publikationen seit den 1970er Jahren zu den führenden politischen Denkern in Europa. André Glucksmann verstarb im November 2015.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.06.2007

Der Wächter des Nichts und der Nutzen des Zorns
Das Schlimme kehrt in wechselnden Formen wieder: Dem französischen Philosophen André Glucksmann zum Siebzigsten
Für offenes Feiern hängt ihm der skeptische Mundwinkel etwas zu tief. Im Unterschied zu fast allen seiner Kollegen aus dem Unternehmen der „neuen französischen Philosophie” war das Protestieren, Mahnen, Fordern bei André Glucksmann stets ein Einmannbetrieb. Er verfügt über keine Machtposition in Redaktionen, Parteien oder politischen Reflexionszirkeln, sondern hat seit vierzig Jahren nur seinen Schreibtisch, seine Hartnäckigkeit und seinen Sinn für das treffende Wort vor den Fernsehkameras.
Was als linksintellektueller Antikommunismus im Buch „Köchin und Menschenfresser (1975), nach der Ankunft Alexander Solschenizyns im Westen, noch im Spannungsfeld zwischen Überzeugung und Pose stand, ist mittlerweile zur Haltung gereift. Das ehrt sein Engagement. Die Konsequenz von André Glucksmanns Werk über rund zwanzig Bücher hinweg ergibt sich vor allem aus seiner Obsession, die idealistische Zuversicht des „nie wieder Krieg und Katastrophe” aufzuscheuchen. Einen „Wächter des Nichts” nennt er sich selbst in dem auf deutsch gerade erschienenen Erinnerungsbuch „Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens” (Nagel & Kimche, aus dem Französischen von Bernd Wilczek, 319 Seiten, 23,50 Euro) – das heißt: einen, der wie die großen Figuren Kalchas, Teiresias, Kassandra daran erinnert, dass das gerade überwundene Barbarentum stets gerade wieder bevorsteht.
Zu diesem Anliegen beschreibt er im Erinnerungsbuch eine Urszene aus der Kindheit. Als Sprössling österreichisch-jüdischer Eltern in Frankreich den Gefahren des Naziterrors entkommen, stand der Acht- oder Neunjährige zusammen mit seinesgleichen auf dem frisch gemähten Rasen eines Heims für gerettete Kinder, um den Wohltätern, Baron und Baronin de Rothschild, die Ehre zu erweisen. Stattdessen brach der Knirps aber plötzlich aus der geordneten Reihe hervor, schnürte einen Schuh auf und schleuderte ihn gegen die wohltätigen Herrschaften. Es sei keine frühe Wurfübung für Molotowcocktails gewesen, deutet der Autor rückblickend seinen Akt, sondern die intuitive Weigerung, seine Erfahrung des Grauens dem ritualhaften Optimismus zu opfern, das Schlimme sei nun vorbei und alles werde gut. Das Schlimme kehrte in wechselnden Formen wieder, in Biafra, auf den Meeren der Boat-People, in Tschetschenien, in Uganda – und das philosophische Jugendtalent Glucksmann sah seine Aufgabe darin, für diese immer neuen Schrecken in der Öffentlichkeit Worte zu finden.
Einmischung ohne Grenzen
Er hätte ja auch ein richtiger Autor werden können wie seine Gegenvorbilder Sartre und Michel Foucault, die primär ihr Werk im Auge hatten und das politische Engagement nebenher betrieben. Oder er hätte sich zum führenden Kopf einer NGO machen können wie sein Freund Bernard Kouchner, der heutige Außenminister Frankreichs, an dessen Seite Glucksmann die Organisation „Ärzte ohne Grenzen” aufbauen half. Seine Rolle blieb aber die des Medienintellektuellen, der im Rhythmus der weltpolitischen Aktualität zwischen Schreibstube und Aufnahmestudio die Öffentlichkeit aufrüttelt mit der Botschaft, über den gegnerischen Lagern der Ideologie, der Politik, der Kriegsführung stehe das höhere Prinzip der Menschlichkeit: ein Prinzip, das seit der Erfahrung des Holocaust mit bloß humanitärer Fürsorge nicht mehr auskomme, sondern politische Einmischung rund um die Welt verlange. Schon in den großen Theoriesystemen, warnte der Autor 1977 im Buch „Die Meisterdenker”, sei die Bereitschaft zum Totalitären angelegt.
In diesen Monaten, wo das Erbe von 1968 für alle Übel unserer Gegenwart herhalten muss und auch der neue Präsident Sarkozy, den André Glucksmann zum Befremden seiner Freunde bei der Wahl öffentlich unterstützte, dieses Erbe liquidieren möchte, mag es interessant sein zu wissen, wie der Intellektuelle selbst auf jene Ereignisse zurückblickt. Er streicht in seinem Erinnerungsbuch nicht die emanzipatorische Unvernunft, naive Genusssucht oder fanatische Autoritätsverweigerung hervor, sondern die erfrischende Frechheit, mit welcher etwa der „erhabene Rotschopf” Cohn-Bendit am 9. Mai 1968 dem sich anbiedernden Dichterfürst Aragon zurief, an seinen weißen Haaren klebe Blut seit seiner naiven Moskau-Begeisterung. Ohne jene Frechheit wären, so Glucksmann, die orangene Revolution jüngst in der Ukraine oder die Rosenrevolution in Georgien nicht zu verstehen. Sein Bedauern gilt nur der Tatsache, dass er im Anschluss an jenen Mai – „ich betone: im Anschluss an den Mai” – vorübergehend der Faszination des Maoismus erlag.
Als Parteigänger war Glucksmann so wenig überzeugend wie als distanziert urteilender Beobachter der Gegenwart – dafür war er intellektuell zu widerspenstig, zu kompromisslos, zu reizbar. So mag es an der Unreife der Welt liegen, dass dieser Denker bis heute kein aus sich heraus gereiftes Lebenswerk vorzuweisen hat. In „Das Gute und das Böse”, einem seiner besten, zugleich fragwürdigsten Bücher, plädiert André Glucksmann für eine Rückkehr zu den Klassikern. Oh, nicht das feierlich langweilige Verlangen nach Ideal und restaurierter Größe, beeilt er sich klarzustellen: eine Klassik vielmehr, die dem Wahren, Guten und Schönen der Monumente misstraut, die erhabenen Gefühle verletzt und wie Racine in „Athalie” oder „Andromache” im Glanz der Worte stets mehr die Abgründe und Schattenstellen spiegelt.
„Ich pfeife auf den Prunk von Versailles”, schrieb dort der Autor. Zwar ist er an einem Junitag 1979 an der Seite Sartres und Raymond Arons mit dem Anliegen der Boat-People die Stufen des Elysée-Palasts hinaufgestiegen. Im Unterschied zu anderen Kollegen hat er sich aber von der Machtkulisse der Ministersalons nie verführen lassen. Das ging einem unlängst durch den Sinn, als der Intellektuelle bei der Amtseinweihung des neuen Präsidenten Sarkozy etwas deplaziert bei den Ehrengästen unter den Kronleuchtern des Palastes stand. An diesem Dienstag wird André Glucksmann siebzig Jahre alt – für ein schräges Wort in die Runde der neuen Freunde kein zu hohes Alter.JOSEPH HANIMANN
Bloß keine Optimismus-Rituale: André Glucksmann Foto: Anna Weise
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