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XES ist doppeldeutig, als das englische Wort "excess" oder rückwärts buchstabiert, als SEX zu lesen. Der Titel verweist auf die verdrehte Wahrnehmung eines Mannes, der an Sexsucht leidet. XES erzählt die Geschichte von Florian, der ständig auf der Suche nach sexueller Befriedigung ist. Ob einsamer, stundenlanger Pornokonsum oder Bordellbesuche - es ist nie genug. Der Leser bekommt einen unmittelbaren Eindruck dieser Krankheit und deren Auswirkung auf Florian und sein direktes Umfeld. Aufgezeigt wird aber auch ein Weg aus der Krankheit. In Selbsthilfegruppen versucht Florian, seine Sucht hinter…mehr

Produktbeschreibung
XES ist doppeldeutig, als das englische Wort "excess" oder rückwärts buchstabiert, als SEX zu lesen. Der Titel verweist auf die verdrehte Wahrnehmung eines Mannes, der an Sexsucht leidet. XES erzählt die Geschichte von Florian, der ständig auf der Suche nach sexueller Befriedigung ist. Ob einsamer, stundenlanger Pornokonsum oder Bordellbesuche - es ist nie genug. Der Leser bekommt einen unmittelbaren Eindruck dieser Krankheit und deren Auswirkung auf Florian und sein direktes Umfeld. Aufgezeigt wird aber auch ein Weg aus der Krankheit. In Selbsthilfegruppen versucht Florian, seine Sucht hinter sich zu lassen. Aber das ist leichter gesagt, als getan.Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland eine halbe Million Sex- und Pornosüchtige. Darüber hinaus die ebenfalls durch die Sucht Betroffenen wie Partner und Familienangehörige.XES ist eine beeindruckende Mischung aus Erfahrungsbericht, Traumtagebuch und Ratgeber, die in ihrer Unmittelbarkeit einen Sog erzeugt, der Leser von der ersten bis zur letzten Seite mitreißt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2020

Der Mensch in seiner Drangsal

Florian Winter ist 52, Illustrator und sexsüchtig. Sein Leid und seine Scham hat er in einem intensiven Comic verarbeitet, als Teil "einer Inventur meines Inneren", wie er sagt. Julia Schaaf hat ihn getroffen.

All das, was man Alltag nennen könnte, zeichnet Florian Winter in Grautönen: Kindheitserinnerungen und die Gegenwart. Die Mutter, die Freundin, die Tochter. Omas Braten mit Erbsen und Püree. Seine Wohnung, ein Büro, den immergleichen Raum, in dem sich die Selbsthilfegruppe trifft.

Dann aber ist da dieses flächige, wiederkehrende, aufdringlich grelle Rot, das förmlich hereinbricht in Winters monochrome Welt. Hier sind es nur seine Augen. Dort die Haare einer Frau. Eine Songzeile. Der Laptop-Bildschirm. Der Spalt in der geöffneten Bordelltür, in der Winter gleich verschwinden wird. Manchmal erfasst das Rot den Protagonisten so wie der Schein eines Lagerfeuers. Manchmal tränkt es seine ganze Person und tilgt Gesichtszüge, Kleidung, Gliedmaßen.

Der gezeichnete Florian Winter ist ein schlaksiger Allerweltstyp im Rollkragenpulli. Seine Nase ist riesig, seine Mimik karg. Gleich nach dem ersten Bordellbesuch setzt er sich in eine Runde, die sich als Selbsthilfegruppe entpuppt. In einer Sprechblase steht: "Hi, ich bin Flo, und ich bin sexsüchtig." Mildes Hellgrau als Hintergrund.

Der echte Florian Winter stellt sich mit seinem richtigen Namen vor, für die Öffentlichkeit bleibt es beim Pseudonym: "Ich wollte nicht als Deutschlands Super-Sexsüchtiger in den Medien landen", sagt Winter und lächelt scheu. Ein Sommertag in Berlin, ein Treffen im Park, weil man dort mit Mindestabstand im Freien sitzen kann, ohne dass Spaziergänger Gesprächsfetzen aufschnappen. Winter trägt Jeans, ein körperbetontes Hemd, Stoffturnschuhe und Umhängetasche: ein jugendlich wirkender Typ mit unauffälliger Nase. Anders als bei seiner Comicfigur lichtet sich allmählich sein Haar. Die Schultern hat er hochgezogen, als würde er sich dazwischen gewohnheitsmäßig verkriechen.

Fragt man Winter, wie es ihm gehe, redet er über Corona, seine Kinder und den Job wie andere Menschen auch. Der Zweiundfünfzigjährige lebt schon länger in einer festen Beziehung, die gemeinsame Tochter ist vier Jahre alt. Seinen mäßig geschätzten Job als Werbetexter hat Winter an den Nagel gehängt und sich eine Existenz als freier Illustrator aufgebaut. Die Tochter aus einer früheren Beziehung, knapp die Hälfte der Zeit bei ihm aufgewachsen, ist inzwischen aus dem Haus. "Insofern würde ich sagen: Läuft gut", resümiert Winter. Aber er sagt auch: "Ich bewältige heute Dinge, die ich mir vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können."

In seinem Comic spielt dieses bürgerliche, vorzeigbar erfolgreiche Leben keine große Rolle. Das Buch trägt den Titel "XES", was sowohl auf das Wort "Exzess" anspielt als auch rückwärts gelesen "Sex" ergibt. Fragt man Winter, was das Rote in seinen Bildern bedeutet, sagt er schlicht: "Für mich ist das die Sucht."

Dann beschreibt er einen Zustand, der sowohl von einer Art Erregung als auch von einer gewissen Dumpfheit ausgehen konnte und dafür sorgte, dass er jegliches Interesse an der Umwelt verlor - mitunter über Tage, über Wochen. Zuerst kamen sexuelle Phantasien: "Ich gehe nach innen und erschaffe mir meine eigene Welt." Der nächste Schritt war die Suche nach entsprechenden Bildern im Außen, im Netz. Womöglich kämpfte er mit sich: Soll ich? Soll ich nicht? Soll ich? Soll ich nicht? "Irgendwann macht dann der Finger klick. Dann kann ich nicht mehr zurück." Und wenn Pornographie nicht reichte, blieb der Gang ins Bordell. Winter seufzt. "Das war für mich immer der totale Super-GAU."

Wie gesagt: Dieser Mann ist keiner, dessen Leben an der Sucht zerschellt wäre. Er hat sein Fach-Abi gemacht, dann Kommunikationsdesign studiert und es immer geschafft, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. "Ich bin nie wirklich abgestürzt", sagt er. Die beklemmende Szene in seinem Comic, in der ihn sein Chef zur Rede stellt, weil die IT herausgefunden hat, dass er ein Drittel seiner Arbeitszeit auf Pornoseiten verbringt, gehört zu den wenigen Episoden im Buch, die Winter nicht selbst erlebt hat. Er hat sie dazuerfunden, weil er sie so oder so ähnlich von vielen anderen Männern erzählt bekommen hat. 90 Prozent des Buches bezeichnet Winter als autobiographisch.

Seine eigene "Suchttechnik", so nennt er das, habe darin bestanden, seine Obsessionen "dazwischenzuschieben", und was er damit meint, illustriert eine besonders unangenehme Bilderfolge: Winters Tochter planscht in der Badewanne und ruft nach ihrem Papa, während der auf den Laptop starrt. Der Bildschirm färbt sich zunehmend rot. Das Mädchen wünscht sich eine Schaumschlacht und brüllt immer lauter. Winter hält es hin, unerträglich lang, von seinen Internetbildern gebannt. Noch als er den Laptop zuklappt und ins Badezimmer geht, umgibt ihn ein Hauch von Rot. Nicht, dass seine Tochter ihn je in einem kompromittierenden Moment erlebt hätte, sagt Winter. Trotzdem ist das hart anzusehen: Hier die Unschuld eines nackten Kindes, dort die kranke Sexualität des Vaters, nur durch eine Zimmerwand getrennt. Erst im Zuge des Buchprojekts, erzählt der Zeichner, habe er seiner Tochter von dem Leid seines Lebens erzählt. Offenbar nahm sie's cool.

Über den ewigen Kreislauf der Sucht spricht Winter mit Abscheu: "Es war immer so schal." Erst die Gier, die Besessenheit. Am Ende Schuldgefühle. Und immer diese Scham. Jeder Alkoholiker, jeder Zocker fühle sich schuldig, wenn er sich eingestehen müsse, sein Leben nicht unter Kontrolle zu haben. Im Falle von Sexsucht sei das Tabu besonders groß, glaubt Winter. "Meine Sexualität war immer eine sehr nach innen gerichtete Sache." Er staunt selbst, dass er jetzt Interviews zum Thema gibt. Zwei Stunden lang dreht sich das Gespräch um ein von Sexualität getriebenes Leben, ohne je ins Vulgäre abzugleiten. Auch der Comic bleibt diskret. Winter lässt seine Phantasien im Vagen. Er deutet nur an, dass es ihm nie um außergewöhnliche Praktiken gegangen sei, einfach um Frauen, mit denen es lief, wie er das wollte. Haare hatten für ihn Fetischcharakter. Eine Zeitlang hielt er sich für transsexuell.

Rückblickend, in Zeiten von Übersexualisierung und omnipräsenter Pornographie, wirkt Winters Weg in die Sexsucht fast harmlos. Im Gespräch sagt er, dass er schon früh ein "übersteigertes Bedürfnis nach Sexualität" gehabt habe. Seine Comicfigur erzählt der Selbsthilfegruppe: "Sex war mir wichtiger als andere Menschen." De facto standen am Anfang der Entwicklung die gemopsten "Playboy"-Hefte des Onkels. Als Volljähriger stieg Winter auf Pornographie aus dem Sex-Shop um. Auf Zeitschriften folgten Videokassetten und DVDs. Um die dreißig herum ging er das erste Mal ins Bordell. "Das hätte ich mich vorher niemals getraut", sagt Winter. Als braver, höflicher, fast ein bisschen bieder wirkender Typ empfand er das Rotlichtmilieu mit seiner Nähe zu Kriminalität und Gewalt als abstoßend. Auch seine eigene Sexualität erlebte er als monströs. Im Comic sitzt ein rotes Ungetüm neben ihm auf dem Sofa und legt den Arm um ihn.

Denn eigentlich, sagt Winter, sei da immer eine Sehnsucht nach erfüllten Beziehungen gewesen. "Diese Kluft, die immer größer wurde, hat mich mein Leben lang verwirrt." Es habe Frauen gegeben, die sich für ihn interessierten, im Bekanntenkreis habe er sogar eher als Frauenversteher gegolten als einer, mit dem man reden konnte. Die Not in seinem Inneren habe das nur verstärkt: Wehe, auf einer Party echauffierten sich die Leute über Pornos, über Männer, die so etwas konsumierten, über die Frauenbilder, die damit verbunden waren. Winter ist anzumerken, wie belastend es gewesen sein muss, seine Abgründe zu verbergen. Immer diese Geheimnistuerei. Das Vertuschen, das Lügen und die Angst, ertappt zu werden oder sich zu verraten. Sich wirklich einzulassen auf eine andere Person, sagt Winter, das habe er nie gekonnt. Um sich in der realen Begegnung mit einer Frau zu stimulieren, habe er seine Phantasien bemühen müssen. Heute sagt er: "Sexualität in einer liebevollen Partnerschaft ist etwas völlig anderes."

Der Durchbruch kam mit Ende dreißig. Nicht zum ersten Mal saß Winter beim Therapeuten. Seine Mutter war gestorben, er fühlte sich depressiv, vor allem aber kam er nicht weiter mit seiner verstörenden Sexualität. Da drückte ihm der Therapeut einen Flyer der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen in die Hand. "Das war die Rettung", sagt Winter.

Zwar gibt es die offizielle Diagnose Sexsucht nicht. Auch "zwanghaftes Sexualverhalten" wird erst vom nächsten Jahr an in den Katalog der anerkannten Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen. Für Winter jedoch verhieß das Konzept der Sucht nicht nur Erkenntnis, sondern auch Abhilfe. Schon bald besuchte er sein erstes Meeting einer dieser Selbsthilfegruppen, die sich am Programm der Anonymen Alkoholiker orientieren, schnell entschloss er sich zum Entzug. Schließlich ist der erste Schritt auf dem propagierten Weg zur Genesung die Abstinenz - jeden einzelnen Tag aufs Neue. Winter hat drastische Bilder für diese Erfahrung geschaffen, eine drangsalierte Gestalt, durchdrungen von Wellen und Blitzen in Schwarz-Weiß-Rot. Er erzählt, er sei selbst überrascht gewesen über diese Dramatik. Schließlich habe er nicht jeden Tag masturbiert. Damals jedoch, angesichts der Entscheidung, es nie wieder zu tun, habe sein Körper reagiert, als entwöhne man ihn von Heroin.

Natürlich gab es Rückfälle. Der letzte sei allerdings schon fünf Jahre her, sagt Winter. Er lacht befreit. Seiner heutigen Freundin habe er gleich in der ersten Woche von seinem Lebensthema erzählt. Die Frau habe zwar die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen nach dem Motto: "Alles, nur das nicht." Aber Winter sagt: "Für mich war klar, dass ich total gefährdet bin, sobald ich da ein Geheimnis draus mache."

Er weiß, dass er gewisse Trigger bis heute besser meidet. Die Phantasie ist schwerer zu kontrollieren als das Tun. Also wegschauen, wenn ein gewisser Frauentyp von Werbetafeln lächelt. Die Treffen der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen bleiben wichtig, mal mehr, mal weniger. Auch in seinem Buch setzt er sich mit deren Prinzipien auseinander, etwa mit ihrem Vertrauen in einen Gott oder eine höhere Macht, woran Winter eigentlich überhaupt nicht glaubt. Fragt man ihn, warum er aus seinen Erfahrungen diesen Comic gemacht hat, zieht er einen Flyer aus der Tasche und liest aus dem Zwölf-Schritte-Programm der Gruppierung vor. Punkt vier verlangt eine "furchtlose Inventur in unserem Innern". Punkt zwölf fordert dazu auf, die Botschaft an andere Süchtige weiterzugeben.

Die Ursachen für Winters Störung unterdessen bleiben im Comic so unklar wie im Gespräch. Da sind zwar die Hormonspritzen, die er wegen eines unterentwickelten Hodens schon als Kind bekam und die verfrühte Erektionen hervorriefen. Winter zeichnet auch die Sprachlosigkeit seiner Familie bei allem, was das Thema Sexualität betraf, genauso wie die Abwesenheit eines Vaters, der als "Arschloch" verschrien war. Aber eigentlich, sagt Winter, "da gab es nichts", keinen Missbrauch, keine sonstwie traumatisierende sexuelle Erfahrung. Er selbst hält für bedeutsamer, dass er aus einer suchtbelasteten Familie stammt. Der Opa Alkoholiker, die Oma medikamentenabhängig, der Onkel esssüchtig, die Mutter auf Nikotin.

Da ist es wieder, das Konzept, das für Winter Erklärung wie Heilung verspricht: "Sucht ist immer Familienkrankheit", sagt er. Sein Buch hat er deshalb nicht nur "allen Süchtigen" gewidmet, "die genesen oder noch leiden". Auf tröstlichem Hellgrau steht da auch: "Und deren Kindern."

Florian Winter, "XES"; avant-verlag, 340 Seiten, 25 Euro.

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