Ich habe die faszinierende Atmosphäre in den Beijinger Hutongs tatsächlich noch erlebt, Anfang der Neunzigerjahre: Ein morbider Charme und der Hauch einer tausendjährigen Geschichte zog durch die Gassen, die eher kleinen Dörfern als einer großen Stadt glichen. Die ehemals herrschaftlichen Paläste
waren schon damals in viele Wohneinheiten aufgeteilt und ihrer ursprünglichen Funktion längst beraubt.…mehrIch habe die faszinierende Atmosphäre in den Beijinger Hutongs tatsächlich noch erlebt, Anfang der Neunzigerjahre: Ein morbider Charme und der Hauch einer tausendjährigen Geschichte zog durch die Gassen, die eher kleinen Dörfern als einer großen Stadt glichen. Die ehemals herrschaftlichen Paläste waren schon damals in viele Wohneinheiten aufgeteilt und ihrer ursprünglichen Funktion längst beraubt. Xu Yongs Fotos fangen diese Atmosphäre des Verfalls ein, noch verstärkt dadurch, dass in den Straßen keine Menschen zu sehen sind. Beijing wirkt ausgestorben, fast wie ein Museum.
Xu Yong hat wohl geahnt, dass es diese besonderen Siedlungen bald nicht mehr geben würde. Damals erstreckten sich die vierseitigen Wohnhöfe noch über Quadratkilometer rund um die Verbotene Stadt und den Tiananmenplatz, ein undurchdringliches Labyrinth, in dem sich der Reisende nicht nur im übertragenen Sinn verirren konnte. Man lief in Sackgassen oder im Kreis, aber hinter jeder Ecke gab es neue Entdeckungen.
Wer genau hinschaut, erkennt auf den Fotos auch unmittelbare Spuren der Geschichte, wo die Zeichen adliger Herrschaft mit Gewalt getilgt wurden. Menschliches Leben existiert nur indirekt auf den Bildern, sichtbar durch Vorratsgefäße in den Höfen oder die noch bis vor 20 Jahren üblichen, rund gepressten Briketts aus Kohlestaub vor den Türen. Autos sieht man keine. Damals war Beijing eine Stadt der Radfahrer.
Der Band erschien bereits 1990 und es war das erste Buch über Hutong überhaupt. Der Klappentext kommt zwar zu dem Schluss, dass die Hutong auch heute noch „das wahre Gesicht der Stadt“ seien, aber das stimmt nicht einmal ansatzweise. Es gibt keine originalen Strukturen mehr, die alten Höfe wurden fast ausnahmslos abgerissen und durch Betonimitate ersetzt. Die heute sichtbaren „Ziegelmauern“ in den Bereichen der Stadt, die den Touristen als „Hutong“ gezeigt werden, sind aufgeklebte Keramik-Riemchen und wo sie nicht rein touristischen Angeboten dienen, lebt in den modernen, aber im traditionellen Stil gebauten Häusern Beijings die politische und wirtschaftliche Elite. Die ursprünglichen Bewohner wurden vor 30 Jahren in die Hochhaussiedlungen der Vorstädte vertrieben, die sozialen Strukturen sind auf immer zerstört. Ich habe mit eigenen Augen die Abrissbagger gesehen und die amtlichen Bekanntmachungen an den Türen, die den Familien zwei Wochen Zeit ließen, ihr Heim zu verlassen. Xu Yongs atmosphärische und perfekt ausbelichtete s/w-Fotos sind also in jeder Hinsicht historisch. Und sie sind ein wertvolles Zeugnis vom „wahren Gesicht Beijings“, das es leider nicht mehr gibt.
(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)