So wie für Lawrence Durrell das alte Alexandria die Hauptstadt der Erinnerung war, ist für Elias Khoury das wiederaufgebaute Beirut die Hauptstadt der Amnesie. Yalo, der aus einer christlich-syrianischen Familie stammt, wächst in Beirut auf. Jung gerät er in eine der Milizen des Krieges. Nach dessen Ende wird er Wächter eines Waffenhändlers. In den Hügeln außerhalb Beiruts überfällt er nächtens Liebespaare, raubt und vergewaltigt - und verliebt sich in eines seiner Opfer, Shirin. Sie zeigt ihn an. Er wird festgenommen und gefoltert. Man zwingt ihn, sein Leben aufzuschreiben, immer neu, denn nie sind die Folterer zufrieden - selbst wenn er zugibt und ausmalt, was er gar nicht getan hat. So gerät Yalo außer sich. Im Schmerz trennt er sich von seinem Körper und erfindet sich im Geist. Mit jeder neuen Fassung verändert sich die Beschreibung, sie reichert sich an, sie franst aus, verschmutzt, färbt sich, oszilliert, sie nimmt ein Sprach- und Eigenleben an: Yalo - ein libanesisches Leben in Zeiten des Kriegs und Nachkriegs. Elias Khourys sprachmächtiger Roman erzeugt - mitreißend und erkenntnisstiftend zugleich - einen Taumel.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2011Alle Gedanken sind gestohlen
Elias Khoury verwandelt in „Yalo“ die zersplitterte Realität des Libanon in einen Künstlerroman
Jemand musste Yalo verleumdet haben, am 22. Dezember 1993 oder kurz davor in Beirut, denn sonst stünde er nicht gefesselt vor dem Ermittler und müsste sich von ihm anschreien lassen, ehe die eigentliche Folter beginnt. Yalo jedenfalls, kein Terrorist, nicht mal ein richtiger Berufskrimineller, sondern ein kleiner Strizzi, den der libanesische Bürgerkrieg auf die schiefe Bahn geführt hat – Waffenschiebereien, Vergewaltigungen und anderes – weiß nicht, wer ihn verraten hat und welcher Vergehen man ihn bezichtigt. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt „Yalo“, der 2002 in Beirut erschienene Roman von Elias Khoury, eine bestürzende, gewaltsame Dynamik.
„Yalo“, um es gleich zu sagen, ist ein überaus brutales Buch, wobei die Brutalität noch dadurch gesteigert wird, dass sie mit so viel Sinnenfreude, mit erotischen, kulinarischen und eben auch sadistischen Plaisirs einhergeht. Selten wird die Transzendenz und Mystik des Schmerzes so ausgekostet wie in diesem Roman, selten werden aber auch die diversen irdischen Vergnügungen so prall ins Bild gesetzt wie hier. Von zwei Enden her brennt die Lunte dieses Romans, von der Wollustseite und von der Schmerzseite, und wenn es dann zur Explosion kommt, ist nicht mehr genau zu unterscheiden, was Wollust und was Schmerz war. Khoury-Leser brauchen starke Nerven, um die Grausamkeit zu ertragen, sie müssen andererseits aber auch den Weg durch den libanesischen Lustgarten mitgehen. Und sie müssen die schnellen, brüsken Wechsel zwischen Gewalt und voluptas verkraften.
Yalo, der junge Libanese aus syro-aramäischer, also christlicher Familie, wird seinen Ermittlern und Folterknechten aus seinem Leben erzählen. Wie er dank mancher falschen Freunde auf die schiefe Bahn geriet, wie er sich zum Spezialisten für bewaffneten Raub und Vergewaltigung entwickelte, wie er sich in eines seiner Opfer verliebte und schließlich verpfiffen wurde. Yalo soll aber nicht nur gestehen und erzählen, er soll seine Geschichte, so verlangen es die Ermittler, aufschreiben, was Yalo sichtlich schwerfällt. Von Version zu Version, in zunehmend elaborierteren, aber deshalb nicht unbedingt wahreren Fassungen seiner Geschichte, produziert Yalo den Text des Romans, ein unzuverlässiger Erzähler, wie er im Buche steht, eigentlich nur darauf aus, notfalls durch phantastische Selbstbezichtigungen seine Haut zu retten.
Während der Roman also die Alphabetisierung des Delinquenten Yalo vorantreibt – und tatsächlich, Yalo erzählt immer schöner, immer bunter –, baut er aus lauter neuen Ansätzen, Perspektiven und Versionen eine Welt auf, die anders als in dieser fragmentierten Form nicht zu haben ist. Elias Khoury, der neben seiner literarischen Arbeit über Jahrzehnte hinweg als Journalist in Beirut tätig war, kennt die Hintergründe der Handlung, die er so sorgsam verbirgt, während er sie scheinbar enthüllt. Er weiß alles über die Täter und die Opfer, er kennt die Namen der Ermittler und Folterknechte, er kann die Authentizität jeder Foltermethode bestätigen. Trotzdem scheint ihm die Fiktion letztlich wahrheitsfähiger als der Dokumentarismus, auch wenn oder gerade weil sie Antworten und Zurechnungen verweigert.
Yalo erzählt viel aus seiner Gefängniszelle heraus, aber worauf ist Verlass? Hat ihn Shireen, die Frau, die sein Opfer und angeblich auch seine Geliebte war, verraten? Was ist aus seinem Vater geworden, der angeblich nach Europa verschwunden ist? Welche Bewandtnis hat es mit dem unduldsamen Großvater, einem syro-aramäischen Geistlichen, dessen übergroßer Schatten über Yalos Geschichte hängt? Es bleibt auch durchaus unklar, ob sich Yalos Sündenregister auf die Straftaten beschränkt, die er selbst zugibt. Später wird er, um weiteren Folterungen zu entgehen, aussagen, er sei ein Terrorist gewesen. Man darf ihm natürlich kein Wort glauben, aber vielleicht war er es ja wirklich.
Es scheint, als hätte Khoury die vielfältig zersplitterte Realität des Libanon, mit seinen unzähligen religiösen und kulturellen Observanzen und „Denominationen“ in einem narrativ extrem unzuverlässigen Roman zu reflektieren versucht. Aber es könnte sein, dass damit dem Roman noch immer zu viel Realismus unterstellt wird. Bei allem präzisen Wissen über Beirut und den Libanon und seine unendlich komplizierten Frontverläufe scheint es in „Yalo“ im Kern doch um etwas ganz anderes zu gehen als um erzählte Zeitgeschichte. Nämlich um das literarische Schreiben selbst als Medium einer Überschreitung ins Transzendente.
So wie Yalo während der schlimmsten Folter plötzlich aus seinem leidenden Körper auszusteigen, sich himmelwärts zu erheben meint und in einem Zustand sublimer Jenseitigkeit davonschwebt, so löst sich Yalo auch schreibend von den Beschränkungen seiner irdischen Existenz und erlebt eine Art Verwandlung. Einmal im Knast, bei einem seiner unermüdlichen Schreibansätze, formuliert Yalo nach längerem Nachsinnen „drei Gedanken“, die wie folgt lauten: „1. Keiner kann sein Leben niederschreiben. 2. Begehren ist eine vielschichtige Angelegenheit. 3. Alle Gedanken sind gestohlen.“ Auf dieser Grundlage lässt sich vielleicht kein Bericht schreiben, der den Erfordernissen der Ermittler genügt, aber auf andere Weise formulieren die drei Merksätze so etwas wie die Bedingung einer freien Literatur.
So erzählt „Yalo“ nach der einen, der realistischen Seite hin, davon, wie sich ein junger Libanese in immer neuen Anläufen immer tiefer in die Schuld verstrickt, die seine Ermittler von Beginn an als gegeben angenommen haben: Und nach der anderen, der literarisch-imaginativen Seite von der Verwandlung des jungen Yalo in einen Schriftsteller. Am Ende ist ein Urteil verkündet worden. Es lautet auf zehn Jahre Haft. Und Yalo sitzt in seiner Zelle und sucht noch immer nach einer neuen Wendung, einem neuen Ende für seine Geschichte. Nicht er selbst, seine Mutter soll nun im Zentrum stehen. Eine glückliche Geschichte soll es werden. Er möchte ein anderes Ende, aber seine Phantasie lässt ihn im Stich. „Und wenn mir das Ende der Geschichte fehlt“, so endet die Geschichte, „wie könnte ich da schreiben?“ CHRISTOPH BARTMANN
ELIAS KHOURY: Yalo. Roman. Aus dem Arabischen von Leila Chamaa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 378 S., 24, 90 Euro.
Wie aber kann man schreiben,
wenn einem das
Ende der Geschichte fehlt?
Als Journalist kennt Elias Khoury (kl. Foto) die Foltermethoden in den Gefängnissen des Libanons. Trotzdem scheint ihm die Fiktion wahrheitsfähiger als der Dokumentarismuszu sein.
Fotos: Mauritius Images, Writer Pictures Ltd/
INTERFOTO
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Elias Khoury verwandelt in „Yalo“ die zersplitterte Realität des Libanon in einen Künstlerroman
Jemand musste Yalo verleumdet haben, am 22. Dezember 1993 oder kurz davor in Beirut, denn sonst stünde er nicht gefesselt vor dem Ermittler und müsste sich von ihm anschreien lassen, ehe die eigentliche Folter beginnt. Yalo jedenfalls, kein Terrorist, nicht mal ein richtiger Berufskrimineller, sondern ein kleiner Strizzi, den der libanesische Bürgerkrieg auf die schiefe Bahn geführt hat – Waffenschiebereien, Vergewaltigungen und anderes – weiß nicht, wer ihn verraten hat und welcher Vergehen man ihn bezichtigt. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt „Yalo“, der 2002 in Beirut erschienene Roman von Elias Khoury, eine bestürzende, gewaltsame Dynamik.
„Yalo“, um es gleich zu sagen, ist ein überaus brutales Buch, wobei die Brutalität noch dadurch gesteigert wird, dass sie mit so viel Sinnenfreude, mit erotischen, kulinarischen und eben auch sadistischen Plaisirs einhergeht. Selten wird die Transzendenz und Mystik des Schmerzes so ausgekostet wie in diesem Roman, selten werden aber auch die diversen irdischen Vergnügungen so prall ins Bild gesetzt wie hier. Von zwei Enden her brennt die Lunte dieses Romans, von der Wollustseite und von der Schmerzseite, und wenn es dann zur Explosion kommt, ist nicht mehr genau zu unterscheiden, was Wollust und was Schmerz war. Khoury-Leser brauchen starke Nerven, um die Grausamkeit zu ertragen, sie müssen andererseits aber auch den Weg durch den libanesischen Lustgarten mitgehen. Und sie müssen die schnellen, brüsken Wechsel zwischen Gewalt und voluptas verkraften.
Yalo, der junge Libanese aus syro-aramäischer, also christlicher Familie, wird seinen Ermittlern und Folterknechten aus seinem Leben erzählen. Wie er dank mancher falschen Freunde auf die schiefe Bahn geriet, wie er sich zum Spezialisten für bewaffneten Raub und Vergewaltigung entwickelte, wie er sich in eines seiner Opfer verliebte und schließlich verpfiffen wurde. Yalo soll aber nicht nur gestehen und erzählen, er soll seine Geschichte, so verlangen es die Ermittler, aufschreiben, was Yalo sichtlich schwerfällt. Von Version zu Version, in zunehmend elaborierteren, aber deshalb nicht unbedingt wahreren Fassungen seiner Geschichte, produziert Yalo den Text des Romans, ein unzuverlässiger Erzähler, wie er im Buche steht, eigentlich nur darauf aus, notfalls durch phantastische Selbstbezichtigungen seine Haut zu retten.
Während der Roman also die Alphabetisierung des Delinquenten Yalo vorantreibt – und tatsächlich, Yalo erzählt immer schöner, immer bunter –, baut er aus lauter neuen Ansätzen, Perspektiven und Versionen eine Welt auf, die anders als in dieser fragmentierten Form nicht zu haben ist. Elias Khoury, der neben seiner literarischen Arbeit über Jahrzehnte hinweg als Journalist in Beirut tätig war, kennt die Hintergründe der Handlung, die er so sorgsam verbirgt, während er sie scheinbar enthüllt. Er weiß alles über die Täter und die Opfer, er kennt die Namen der Ermittler und Folterknechte, er kann die Authentizität jeder Foltermethode bestätigen. Trotzdem scheint ihm die Fiktion letztlich wahrheitsfähiger als der Dokumentarismus, auch wenn oder gerade weil sie Antworten und Zurechnungen verweigert.
Yalo erzählt viel aus seiner Gefängniszelle heraus, aber worauf ist Verlass? Hat ihn Shireen, die Frau, die sein Opfer und angeblich auch seine Geliebte war, verraten? Was ist aus seinem Vater geworden, der angeblich nach Europa verschwunden ist? Welche Bewandtnis hat es mit dem unduldsamen Großvater, einem syro-aramäischen Geistlichen, dessen übergroßer Schatten über Yalos Geschichte hängt? Es bleibt auch durchaus unklar, ob sich Yalos Sündenregister auf die Straftaten beschränkt, die er selbst zugibt. Später wird er, um weiteren Folterungen zu entgehen, aussagen, er sei ein Terrorist gewesen. Man darf ihm natürlich kein Wort glauben, aber vielleicht war er es ja wirklich.
Es scheint, als hätte Khoury die vielfältig zersplitterte Realität des Libanon, mit seinen unzähligen religiösen und kulturellen Observanzen und „Denominationen“ in einem narrativ extrem unzuverlässigen Roman zu reflektieren versucht. Aber es könnte sein, dass damit dem Roman noch immer zu viel Realismus unterstellt wird. Bei allem präzisen Wissen über Beirut und den Libanon und seine unendlich komplizierten Frontverläufe scheint es in „Yalo“ im Kern doch um etwas ganz anderes zu gehen als um erzählte Zeitgeschichte. Nämlich um das literarische Schreiben selbst als Medium einer Überschreitung ins Transzendente.
So wie Yalo während der schlimmsten Folter plötzlich aus seinem leidenden Körper auszusteigen, sich himmelwärts zu erheben meint und in einem Zustand sublimer Jenseitigkeit davonschwebt, so löst sich Yalo auch schreibend von den Beschränkungen seiner irdischen Existenz und erlebt eine Art Verwandlung. Einmal im Knast, bei einem seiner unermüdlichen Schreibansätze, formuliert Yalo nach längerem Nachsinnen „drei Gedanken“, die wie folgt lauten: „1. Keiner kann sein Leben niederschreiben. 2. Begehren ist eine vielschichtige Angelegenheit. 3. Alle Gedanken sind gestohlen.“ Auf dieser Grundlage lässt sich vielleicht kein Bericht schreiben, der den Erfordernissen der Ermittler genügt, aber auf andere Weise formulieren die drei Merksätze so etwas wie die Bedingung einer freien Literatur.
So erzählt „Yalo“ nach der einen, der realistischen Seite hin, davon, wie sich ein junger Libanese in immer neuen Anläufen immer tiefer in die Schuld verstrickt, die seine Ermittler von Beginn an als gegeben angenommen haben: Und nach der anderen, der literarisch-imaginativen Seite von der Verwandlung des jungen Yalo in einen Schriftsteller. Am Ende ist ein Urteil verkündet worden. Es lautet auf zehn Jahre Haft. Und Yalo sitzt in seiner Zelle und sucht noch immer nach einer neuen Wendung, einem neuen Ende für seine Geschichte. Nicht er selbst, seine Mutter soll nun im Zentrum stehen. Eine glückliche Geschichte soll es werden. Er möchte ein anderes Ende, aber seine Phantasie lässt ihn im Stich. „Und wenn mir das Ende der Geschichte fehlt“, so endet die Geschichte, „wie könnte ich da schreiben?“ CHRISTOPH BARTMANN
ELIAS KHOURY: Yalo. Roman. Aus dem Arabischen von Leila Chamaa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 378 S., 24, 90 Euro.
Wie aber kann man schreiben,
wenn einem das
Ende der Geschichte fehlt?
Als Journalist kennt Elias Khoury (kl. Foto) die Foltermethoden in den Gefängnissen des Libanons. Trotzdem scheint ihm die Fiktion wahrheitsfähiger als der Dokumentarismuszu sein.
Fotos: Mauritius Images, Writer Pictures Ltd/
INTERFOTO
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2011Seine Heimat ist der Kampf
In seinem Roman "Yalo" erzählt der libanesische Autor Elias Khoury ergreifend von einem jungen Araber, der zum Krieger wird
Natürlich, als der Krieg ausbrach, hätte er gehen können. Nur war der Großvater dagegen, und der hatte seine Gründe. Das Exil sei nichts, erklärte er dem Enkel. Es führe den Menschen in die Irre, lasse ihn verkümmern und am Ende sogar sterben. Und da der Großvater weiß, wovon er spricht, nimmt sich der Enkel den Rat zu Herzen und bleibt.
Es dauert nicht mehr lange, und er findet sich an einer der Fronten wieder, als Kämpfer der maronitischen Falange-Miliz, die sich im Frühjahr 1975 immer weitere Scharmützel mit der in Beirut ansässigen PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation, liefert. Kleinere Gefechte zunächst nur, die dann aber den ganzen Libanon in Brand setzen. Fünfzehn Jahre stehen Christen und Muslime, Rechte und Linke, Libanesen, Israelis und Syrer einander gegenüber, in flirrenden Koalitionen und Konstellationen, in Häuserkampf und Bombenhagel, inmitten einer gespenstisch zerrissenen Stadtlandschaft mit stets neu sich formierendem Frontverlauf.
Und mittendrin kämpft er: Yalo, der Erzähler aus dem gleichnamigen Roman des libanesischen Schriftstellers Elias Khoury. Darin zeichnet er das Porträt eines Menschen, der das Pech hatte, am falschen Ort und zur falschen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Er ist vierzehn Jahre alt, als die Libanesen sich in das jahrelange Gemetzel stürzen, und nicht viel älter wird er sein, als er dann selbst zur Waffe greift. Aus Überzeugung? Nein. Sondern weil ein Truppenführer ihn auffordert, ein "Bock" zu werden, wie die jungen Kämpfer in jener Zeit genannt werden. Gewollt hatte Yalo ursprünglich etwas anderes. Denn eigentlich ist er Kalligraph.
Allerdings legt es Khoury nicht darauf an, seiner Geschichte eine larmoyante Wendung zu geben. Denn Yalo mag zwar ein Opfer sein. Er wird aber auch zum Täter. Im Krieg hat er Menschen getötet. Gut möglich, dass sich das nicht verhindern ließ. Schuldig wurde er indessen, weil er sich der Gewalt auch nach dem Bürgerkrieg noch verschrieb. Darum sitzt er nun, der Roman spielt wesentlich im Jahr 1992, in U-Haft, oder besser, in dem, was die Verantwortlichen in den Nachwirren des Bürgerkriegs darunter verstehen: in einer unterirdischen Zelle mit direkter Anbindung an einen Folterraum. Da sie den Erklärungen des Angeklagten nicht trauen, machen die Ermittler von den dort verfügbaren Instrumenten ausgiebig Gebrauch.
So muss Yalo seine Geschichte wieder und wieder aufschreiben, in stets neuen Varianten, von denen seine Peiniger sich neue Erkenntnisse erhoffen. Aber Yalo sperrt sich, der alten Kriegsregel folgend, dass jede dem Feind zugängliche Information die eigene Position gefährdet. Doch angesichts der drohenden Qualen kann er nicht anders, als sein Leben niederzuschreiben - ohne aber darauf zu verzichten, Schutz noch in den Geständnissen selbst zu suchen: "Tinte war die einzige Waffe, mit der er seine Jäger in die Irre führen und sich vor dem Tod retten konnte."
Aufzeichnungen, die ihm die Ermittler nicht abnehmen, darum neue Erklärungen anordnen, denen sie genau so wenig trauen: Diese nicht abreißende Text-Kette, eine perverse Variante von Tausendundeiner Nacht, ist es, die der Leser in den Händen hält. Und wie immer das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit auch aussehen mag, der Text liefert das Psychogramm eines jungen Mannes, der heranwuchs in dunkler Zeit. So viel scheint klar: Aus dem Krieg hat Yalo nie wieder herausgefunden. Gegen Ende der Kämpfe plündert er mit einem Freund die Kasse einer Kaserne und flüchtet nach Paris. Dort aber setzt sich der Freund samt Beute ab. Yalo landet auf der Straße und lernt einen windigen libanesischen Geschäftsmann kennen, dem er, zurück in Beirut, als Bodyguard dient. In dieser Funktion gewöhnt er sich an, in Autos flirtende Liebespärchen zu überfallen. Die Männer raubt er aus, die Frauen vergewaltigt er.
Yalos Auslassungen sind ein einziger Versuch, die Vorwürfe zu widerlegen und nicht mehr Abzustreitendes zu erklären: "Mir wurde klar, dass der alte Yalo sich seines Tuns nicht bewusst gewesen ist. Das heißt, dass er sein Leben nicht selbstbestimmt geführt hat. Denn er war wie hypnotisiert." Das klingt wie aus einem Lehrbuch der Gerichtspsychologie. Das Problem ist nur, dass es darum nicht weniger wahr ist, zumindest nicht weniger denkbar. Yalo, der Mann mit kurdischen ebenso wie syroaramäischen Wurzeln, der Christ in muslimisch dominierter, zu Beginn des Kriegs als feindlich gedeuteter islamischer Umgebung: Er ist der ideale Kandidat für alle Militärführer, die frischen Nachschub an der Front suchen. Ohne es selbst zu bemerken, wird er zum Handlanger des Todes, übernimmt ein Werk, das stärker ist als er selbst, ihn darum dauerhaft in Beschlag nimmt.
All dies klingt nach Klischee. Aber nichts spricht dagegen, dass bisweilen auch Klischees Handlungsmacht entfalten können. Natürlich, die ganze Wahrheit erfährt der Leser bis zum Schluss nicht, und dank seiner raffinierten Erzähltechnik weckt Khoury zuletzt auch Zweifel am Urteil, das das Gericht über diesen Sünder ohne Willen ergehen lässt. Am Ende dieses von Leila Chamaa brillant ins Deutsche übertragenen Romans weiß man zweifelsfrei nur eines: "Yalos Geschichte, mein Herr, heißt Krieg."
KERSTEN KNIPP
Elias Khoury: "Yalo". Roman.
Aus dem Arabischen von Leila Chamaa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 378 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In seinem Roman "Yalo" erzählt der libanesische Autor Elias Khoury ergreifend von einem jungen Araber, der zum Krieger wird
Natürlich, als der Krieg ausbrach, hätte er gehen können. Nur war der Großvater dagegen, und der hatte seine Gründe. Das Exil sei nichts, erklärte er dem Enkel. Es führe den Menschen in die Irre, lasse ihn verkümmern und am Ende sogar sterben. Und da der Großvater weiß, wovon er spricht, nimmt sich der Enkel den Rat zu Herzen und bleibt.
Es dauert nicht mehr lange, und er findet sich an einer der Fronten wieder, als Kämpfer der maronitischen Falange-Miliz, die sich im Frühjahr 1975 immer weitere Scharmützel mit der in Beirut ansässigen PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation, liefert. Kleinere Gefechte zunächst nur, die dann aber den ganzen Libanon in Brand setzen. Fünfzehn Jahre stehen Christen und Muslime, Rechte und Linke, Libanesen, Israelis und Syrer einander gegenüber, in flirrenden Koalitionen und Konstellationen, in Häuserkampf und Bombenhagel, inmitten einer gespenstisch zerrissenen Stadtlandschaft mit stets neu sich formierendem Frontverlauf.
Und mittendrin kämpft er: Yalo, der Erzähler aus dem gleichnamigen Roman des libanesischen Schriftstellers Elias Khoury. Darin zeichnet er das Porträt eines Menschen, der das Pech hatte, am falschen Ort und zur falschen Zeit zur Welt gekommen zu sein. Er ist vierzehn Jahre alt, als die Libanesen sich in das jahrelange Gemetzel stürzen, und nicht viel älter wird er sein, als er dann selbst zur Waffe greift. Aus Überzeugung? Nein. Sondern weil ein Truppenführer ihn auffordert, ein "Bock" zu werden, wie die jungen Kämpfer in jener Zeit genannt werden. Gewollt hatte Yalo ursprünglich etwas anderes. Denn eigentlich ist er Kalligraph.
Allerdings legt es Khoury nicht darauf an, seiner Geschichte eine larmoyante Wendung zu geben. Denn Yalo mag zwar ein Opfer sein. Er wird aber auch zum Täter. Im Krieg hat er Menschen getötet. Gut möglich, dass sich das nicht verhindern ließ. Schuldig wurde er indessen, weil er sich der Gewalt auch nach dem Bürgerkrieg noch verschrieb. Darum sitzt er nun, der Roman spielt wesentlich im Jahr 1992, in U-Haft, oder besser, in dem, was die Verantwortlichen in den Nachwirren des Bürgerkriegs darunter verstehen: in einer unterirdischen Zelle mit direkter Anbindung an einen Folterraum. Da sie den Erklärungen des Angeklagten nicht trauen, machen die Ermittler von den dort verfügbaren Instrumenten ausgiebig Gebrauch.
So muss Yalo seine Geschichte wieder und wieder aufschreiben, in stets neuen Varianten, von denen seine Peiniger sich neue Erkenntnisse erhoffen. Aber Yalo sperrt sich, der alten Kriegsregel folgend, dass jede dem Feind zugängliche Information die eigene Position gefährdet. Doch angesichts der drohenden Qualen kann er nicht anders, als sein Leben niederzuschreiben - ohne aber darauf zu verzichten, Schutz noch in den Geständnissen selbst zu suchen: "Tinte war die einzige Waffe, mit der er seine Jäger in die Irre führen und sich vor dem Tod retten konnte."
Aufzeichnungen, die ihm die Ermittler nicht abnehmen, darum neue Erklärungen anordnen, denen sie genau so wenig trauen: Diese nicht abreißende Text-Kette, eine perverse Variante von Tausendundeiner Nacht, ist es, die der Leser in den Händen hält. Und wie immer das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit auch aussehen mag, der Text liefert das Psychogramm eines jungen Mannes, der heranwuchs in dunkler Zeit. So viel scheint klar: Aus dem Krieg hat Yalo nie wieder herausgefunden. Gegen Ende der Kämpfe plündert er mit einem Freund die Kasse einer Kaserne und flüchtet nach Paris. Dort aber setzt sich der Freund samt Beute ab. Yalo landet auf der Straße und lernt einen windigen libanesischen Geschäftsmann kennen, dem er, zurück in Beirut, als Bodyguard dient. In dieser Funktion gewöhnt er sich an, in Autos flirtende Liebespärchen zu überfallen. Die Männer raubt er aus, die Frauen vergewaltigt er.
Yalos Auslassungen sind ein einziger Versuch, die Vorwürfe zu widerlegen und nicht mehr Abzustreitendes zu erklären: "Mir wurde klar, dass der alte Yalo sich seines Tuns nicht bewusst gewesen ist. Das heißt, dass er sein Leben nicht selbstbestimmt geführt hat. Denn er war wie hypnotisiert." Das klingt wie aus einem Lehrbuch der Gerichtspsychologie. Das Problem ist nur, dass es darum nicht weniger wahr ist, zumindest nicht weniger denkbar. Yalo, der Mann mit kurdischen ebenso wie syroaramäischen Wurzeln, der Christ in muslimisch dominierter, zu Beginn des Kriegs als feindlich gedeuteter islamischer Umgebung: Er ist der ideale Kandidat für alle Militärführer, die frischen Nachschub an der Front suchen. Ohne es selbst zu bemerken, wird er zum Handlanger des Todes, übernimmt ein Werk, das stärker ist als er selbst, ihn darum dauerhaft in Beschlag nimmt.
All dies klingt nach Klischee. Aber nichts spricht dagegen, dass bisweilen auch Klischees Handlungsmacht entfalten können. Natürlich, die ganze Wahrheit erfährt der Leser bis zum Schluss nicht, und dank seiner raffinierten Erzähltechnik weckt Khoury zuletzt auch Zweifel am Urteil, das das Gericht über diesen Sünder ohne Willen ergehen lässt. Am Ende dieses von Leila Chamaa brillant ins Deutsche übertragenen Romans weiß man zweifelsfrei nur eines: "Yalos Geschichte, mein Herr, heißt Krieg."
KERSTEN KNIPP
Elias Khoury: "Yalo". Roman.
Aus dem Arabischen von Leila Chamaa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 378 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein reines Vergnügen war die Lektüre dieses Romans von Elias Khoury nicht für den Rezensenten Kersten Knipp, denn sie führte ihn zurück in die grauenvolle Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, in dem sich fünfzehn Jahre lang, Christen und Muslime, PLO und Falange, Syrer und Israelis so erbittert wie aussichtslos bekämpften. Mittendrin der Junge Yalo, den Khoury zum Kämpfer ohne Grund und ohne Willen werden lässt und der auch nach Ende des Krieges nicht aus seiner Krigerhaut kann. Wie Knipp berichtet, sitzt dieser Yalo nun im Gefängnis und rückt in Verhören und unter Folter nicht raus mit seiner wahren Geschichte, erfindet immer wieder neue Versionen und schreibt sie sich selbst wie auch den anderen schön. Das kann den Leser ganz schön strapazieren, warnt Knipp und erkennt in Yalos Geschichte die Geschichte des Krieges.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Elias Khoury erzählt in seinem faszinierenden Roman davon, was Yalo zu dem gemacht hat, was er ist.« Fokke Joel ZEIT ONLINE 20110614